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15
Mike stand vor dem Schrank und zog endlich sein Hemd aus. Es war halb zwei Uhr morgens, und er hatte gerade ein zweites, schweres Schloss an Kats Fenster angebracht. Obwohl er es ihr angeboten hatte, wollte Kat nicht bei ihnen im Schlafzimmer schlafen, und Annabels Miene war anzusehen, dass sie sein Angebot ebenfalls ein bisschen überzogen fand. Er selbst war inzwischen auch nicht mehr so sicher, ob wirklich jemand bei ihnen eingebrochen war, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen. Aber trotz des zusätzlichen Schlosses spürte er ein ungutes Prickeln auf der Haut, wenn er durch Kats Fenster in den dunklen Garten schaute. Er hätte darauf bestehen und Kat zum Umziehen bewegen können, aber er wollte seiner Angst auch nicht auf der ganzen Linie nachgeben. Oder Kat und Annabel zwingen, ihr nachzugeben.
Bevor er seine Anzughose zusammenlegte, bearbeitete er den Bierfleck mit dem Daumennagel, dann gab er auf. In den vollgepackten Schrankfächern sah er die säuberlich gefalteten Kleidungsstücke. Diese ganzen Hemden. So meilenweit entfernt von der Kommode in seiner Kindheit, in der kreuz und quer die Sachen von der Bürgerhilfe lagen. Er betrachtete den Schrank mit einem gewissen Schuldgefühl.
Annabel saß hinter ihm auf dem Bett, schleuderte stöhnend die High Heels von den Füßen und rieb sich die Fußsohlen. »Also, ich mein ja bloß«, hob sie an, um den Faden des Gesprächs wieder aufzunehmen, das sie vor einer halben Stunde unterbrochen hatten. »Diese Detectives führten irgendwas im Schilde. Als diese Elzey da im Hinterzimmer telefonierte – ich muss echt sagen, ihr Gesichtsausdruck gefiel mir ganz und gar nicht. Auf einmal kam ja richtig Leben in sie. Und wie sie dann gemeinsam auf dich losgegangen sind.«
Er hatte sich inzwischen bis auf die Boxershorts ausgezogen und drehte sich um. »Mit den Bullen stimmte was nicht. Keine Frage. Helfen werden die uns jedenfalls nicht. Wir müssen uns was ausdenken, um uns selbst zu schützen.« Er befeuchtete sich die Lippen. »Vielleicht sollte ich ihn anrufen.«
»Ihn? Du meinst ihn?« Sie lehnte sich zurück, stützte sich mit den Ellbogen aufs Bett und schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Nein. Der macht mir Angst.«
»Er wüsste aber, was zu tun wäre.«
»Oder wie er die Dinge zur Eskalation bringt. Außerdem hast du seit Jahren kein Wort mehr mit Shepherd gesprochen.«
Abgesehen von der Couch-Mutter war Annabel die Einzige, die Shep bei seinem vollen Namen nannte. Früher hatte Mike sich das damit erklärt, dass ihr bei dem Gedanken an seine Vergangenheit unwohl war und sie daher die Spitznamen aus seinen Geschichten absichtlich mied. Aber inzwischen hatte er herausgefunden, dass es eher eine mütterliche Geste war – das Mitgefühl für ein Kind mit dürrem Hals, das nicht zusammenzuckte, als jemand zwei Handbreit vor seiner Nase ein Tablett auf den Tisch donnern ließ.
»Und du weißt doch noch, wie ihr auseinandergegangen seid«, fuhr sie fort. »Wieso glaubst du, dass er jetzt für dich da sein würde?«
»Shep würde für mich da sein«, erwiderte Mike fest.
»Wir haben auch andere Freunde. Terrance von nebenan. Barry und Kay …«
»Was will Jim denn bitte gegen solche Typen unternehmen? Sie mit seinem Portfolio so richtig in die Knie zwingen? Das ist nicht die Art von Problem, bei dem man Leute wie unsere Freunde anruft.«
»Warum redest du dann nicht noch mal mit deinem Privatdetektiv, diesem Hank? Ich meine, ist das nicht ein klassischer Job für einen Privatdetektiv? Informationen über irgendwelche Leute rauskriegen? Schau – denk bitte noch mal drüber nach. Ich glaube nicht, dass wir gleich den Elefant in den Porzellanladen schicken sollten. Jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Hank ist krank. Hab ich dir doch erzählt.«
»Hank kam mir noch nie so vor, als wäre er ein selbstmitleidiger Typ. Glaubst du nicht, dass es ihm helfen würde, wenn er was zu tun hätte?« Sie zog sich eine Haarnadel aus der Frisur und schüttelte ihre Mähne. »Ich geh morgen mit Kat in die Schule und schau mir die Listen mit den Abholberechtigten und den Notfall-Telefonnummern noch mal genau an. Ich werde sicherstellen, dass sie sie gut im Auge behalten.«
»Und mit ihr reden …«
»Natürlich. Wir haben zwar schon tausend Mal darüber geredet, dass man sich vor Fremden in Acht nehmen muss, aber ich werde es ihr noch mal einbläuen. Komm, mach mir doch mal kurz den Reißverschluss auf.«
Sie hob die Haare hoch und ließ das Licht auf ihren Nacken fallen. Er zog den Reißverschluss hinunter, bewunderte den Streifen ihrer Haut, der dabei sichtbar wurde. Sie bewegte die Schultern energisch hin und her, um das Kleid abzuschütteln, und legte es dann über den Sessel in der Ecke.
Wie jede Nacht seit Jahr und Tag zogen sie die Überdecke gemeinsam vom Bett – auffalten, nächster Schritt, auffalten, nächster Schritt – ein ehelicher Square Dance. Dann ging sie ins Bad, kam mit ihrer Zahnbürste im Mund zurück und hielt ihm seine hin, auf die sie schon einen Klecks Zahncreme getan hatte. Er wollte sich gerade vorbeugen, um die Socken auszuziehen, hielt aber inne und ließ sich von ihr die Zahnbürste in den Mund stecken. Dann ging sie mit einem schäumenden Clownmund ins Bad zurück. Die Alltagsphysik der Intimität.
Zähneputzend ging er über den Flur zu Kats Zimmer. Sie schlief tief und fest, die Vorhänge waren vorgezogen, die Fenster verriegelt.
Nachdem er sich im Badezimmer bettfertig gemacht hatte, schlüpfte er zu Annabel unter die Decke, schaltete das Babyphone an und atmete tief aus. Sie hatte seine Auszeichnung, eine Tafel mit Gravur, an die Wand neben dem Kleiderschrank gelehnt, weil sie zweifellos nicht sicher war, was sie mit dem Ding anfangen sollte. Sein Name, eingeätzt in bläuliches Spiegelglas, unter dem Siegel des Staates Kalifornien. Als er sich wieder zu ihr drehte, musterte sie ihn.
»Was für eine Arschlochnummer heute – mich da hinzustellen und diesen Preis anzunehmen«, sagte er.
»Und was für eine Arschlochnummer von mir, mich dahinzusetzen, die pflichtbewusste Gattin zu spielen und brav zu klatschen.« Sie drehte sich ganz zu ihm und legte ihm mit einem zärtlichen Gesichtsausdruck die Hand auf die Wange. »Aber wenn wir gleich zwei Arschlöcher sind, müssen wir uns nicht so einsam fühlen.«
Er fasste sie beim Handgelenk und hob ihren Arm sanft hoch, so dass er die geplatzten Äderchen an der Stelle sehen konnte, wo er sie auf dem Parkplatz gepackt hatte. »War ich das?«
»Grobian.« Sie machte einen trägen Versuch, sich seinem Griff zu entwinden und streifte dabei seine Lippen mit dem Handgelenk. »Vor lauter Beschützerspielen hast du mir einen Abdruck von deiner Hand hinterlassen. Der absolute Abturner.« Unter der Decke tastete ihr Fuß nach seiner Wade.
Bei ihrer Berührung durchzuckte ihn die Dankbarkeit – obwohl er die letzten paar Tage nur noch durchs Leben gestolpert war, durfte er in der Nacht immer noch neben dieser Frau im Bett liegen.
Sanft küsste er die rote Stelle an ihrem Arm. Ihr Mund fand seine Lippen, und ohne den Kuss zu unterbrechen, legte er sich auf sie, und sie begannen sich langsam zu bewegen. Ihre Erschöpfung verlieh jeder Berührung und jeder Bewegung etwas Traumartiges. Er wollte gerade ganz in sie eindringen, da blockte sie ihn mit Armen und Beinen ab und zwang ihn zum Stillhalten. Sie verschränkte die Handgelenke hinter seinem Hals, hob den Kopf ein paar Zentimeter von der Matratze und kippte ihre Hüften langsam, ganz langsam ein wenig nach oben, so dass er ein Stückchen tiefer in sie eindrang. Dann hielt sie ihn wieder zurück und verharrte völlig regungslos.
»Ich möchte, dass du mich anschaust dabei«, sagte sie. »Die ganze Zeit.«
Und das tat er auch.
Danach legte sie sich hin wie immer: auf den Rücken, einen Arm über ihren verschwitzten Pony gelegt, während das Zifferblatt ihres Weckers sein fahles Licht auf ihren Bauch warf. Er liebte den leichten Grat ihrer Kaiserschnittnarbe, der ihr Becken nachzeichnete – das Mal eines Kriegers auf einem wohl angewendeten Körper.
Sie hob die Hand, und der Diamant an ihrem Verlobungsring brachte ein schwaches Funkeln zustande. Der neue Ring war in ihrem Schmuckkästchen verschwunden, sowie sie nach Hause gekommen waren. »Wir sind seit einem Jahrzehnt verheiratet.« Sie biss sich auf die geschwollene Lippe. »Es fühlt sich nicht so an – jedenfalls nicht auf eine schlechte Art. Aber auf die gute Art fühlt es sich dann eben doch so an.«
Sie kuschelte sich an seinen Körper und legte ihm ein Bein über den Bauch, und er streichelte die immer noch fieberheiße Haut ihres Rückens. Er drückte ihr die Lippen an die feuchte Stirn und hielt sie im Arm, bis sie eingeschlafen war. Der Deckenventilator kühlte seine schweißnasse Haut, doch er konnte die wohltuende Erfrischung nicht recht genießen. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu der Konfrontation am Braemar Country Club zurück. Seine Scham darüber, so die Beherrschung verloren zu haben, wie seine Wut aufgeflammt war und wieder bei ihm gewesen war wie ein alter Freund, wie ein Rückschlag. Und das Grauen, das ihm den kalten Schweiß auf die Stirn trieb, als er gesehen hatte, wie Dodges Lippen ein einziges Wort bildeten: Bald.
Er stand auf, tapste den Flur entlang und trug die schlafende Kat auf dem Arm ins Elternbett. Er legte sie auf seinen Platz, deckte sie zu und betrachtete Mutter und Tochter, wie sie so friedvoll und ruhig beieinanderlagen. Neben dem Schrank glänzte etwas auf. Sein Preis.
Er nahm die Platte und drehte sie mit der Spiegelfläche zur Wand. Dann schaltete er das Babyphone aus, ging in Kats Zimmer und nahm seinen Posten auf dem Sessel in der Ecke ein.
Bald, hatte Dodge versprochen.
Bald.