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Während Mike durch sein Viertel fuhr, fiel ihm auf, dass es nach einer typischen Vorstadt aussah. Das war nicht das Hollywood mit seinen Palmen und sternenverzierten Gehwegen, nicht Venice Beach mit seinen Hippieverschwörern und Räucherstäbchen, nicht Beverly Hills mit seinen Bentleys und 9-Dollar-Muffins. Lost Hills war Straßenzug um Straßenzug gebaut worden, ein Einfamilienhaus neben dem nächsten, eine Siedlung voll glänzender Briefkästen und hellgelber Klettergerüste. Hier wohnten Leute, die sich nach dem endlosen südkalifornischen Sommer sehnten, sich kein Grundstück in Malibu leisten konnten, aber nicht zu weit vom Pazifik entfernt wohnen wollten. Die die Paparazzi-Blitzlichter von Los Angeles nicht brauchten, aber aus der Ferne gerne das helle Leuchten der Stadt sahen. An jeder dritten Straßenecke und in unzähligen Vorgärten sah man Schilder im Boden stecken, die verkündeten, dass die Nachbarn hier gegenseitig aufeinander aufpassten – wie Amulette gegen Schattenmänner mit dunklen Mützen und weißen Augenschlitzen. Schlimme Sachen passierten hier nicht, basta.

Er konnte Shep nirgends auf der Straße entdecken, was beeindruckend war, da der Mustang ja alles andere als unauffällig war. Fünf Minuten vor der verabredeten Zeit war Mike am Café und setzte sich wie geplant an einen der davorstehenden Tische. Während er an seinem Orangensaft nippte, wartete er mit bloß liegenden Nerven. Zwei Frauen Mitte fünfzig, die gekleidet waren, als wären sie Mitte zwanzig, und dazu Handtaschen mit rattengroßen Hunden spazieren trugen, kamen hereingetänzelt. Ein gutgekleideter Mann stritt sich über ein Headset mit seiner Frau. Mike ließ den Blick über den Parkplatz und die umliegenden Gebäude wandern, doch von Shep war immer noch nichts zu sehen.

Als er ihre Absätze klappern hörte, drehte er sich um. Eine Frau mittleren Alters kam auf seinen Tisch zu. Sie hatte eine abgegriffene Ledertasche in der Hand und trug eine kurzärmlige Seidenbluse und einen dunkelbraunen Rock. Die Bibliothekarinnenbrille an einer Kette bildete einen gewissen Kontrast zu ihrem weichen Gesicht mit den leichten Hängebacken. Krauses braunes Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Ihren Armen war anzusehen, dass sie früher muskulös gewesen sein mussten. Mike hätte alles Mögliche erwartet, aber nicht dieses Bild.

»Michael?«

»Nennen Sie mich Mike.«

Sie setzte sich hin. »Ich will gleich zur Sache kommen, denn nach all den Jahren sind Sie sicher scharf drauf zu erfahren, worum es hier geht.«

Ihre geschäftsmäßige, fast brüske Art erinnerte an den Ton, wie er einem in einem Kundendienstzentrum entgegenschlagen würde.

»Ich glaube, Sie verwechseln mich vielleicht mit jemand«, sagte Mike.

»Ihr Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. John. John Trenley.«

Als er den Vornamen hörte, spürte er, wie die Aufregung in ihm aufflammte. Aber Trenley? Das sagte ihm überhaupt nichts.

»Ihre Mutter ist schon seit zehn Jahren tot.«

Das passte nicht zu dem Blut auf der Manschette seines Vaters. Aber andererseits – nach all den Jahren, wusste er nicht mehr, was er damals wirklich gesehen hatte. Mrs. Riverton ließ die Schlösser ihres Aktenkoffers aufschnappen und öffnete ihn. »Danielle.«

Mike sah nur den hochgeklappten Deckel und die Scharniere. Seine Gedanken überschlugen sich, aber er presste die Lippen zusammen. Danielle. Meine Mutter hieß Danielle.

»Ich bin zur Testamentsvollstreckerin ernannt worden, es gab da nämlich eine Immobilie.« Sie lächelte zurückhaltend. »Ich bin Anwaltsgehilfin. Ich war Ihre Nachbarin und kannte Ihre Eltern sehr gut. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Ihre Mutter mit Ihnen aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Damals war ich elf. Ich hab Ihnen einmal ein Fläschchen geben dürfen.«

Mike hatte eine ganz trockene Kehle. »Wie war Ihr Mädchenname?«

»Gage.«

Der Name segelte durch drei Jahrzehnte und schlug eine Saite an, die ihn innerlich vibrieren ließ. Die Gages von nebenan. Mintgrüne Zierleisten an einem weißen Haus. Wo der Dobermann den Mechaniker gebissen hatte.

Er verriet seine Erregung mit keiner Miene, obwohl sie immer noch in ihren Unterlagen wühlte und ihn nicht ansah. Er rief sich noch einmal ins Gedächtnis, dass das Ganze nur der nächste Schachzug in dem Spiel war, das sie mit ihm trieben. Trotzdem spürte er, wie die Versuchung zu antworten, nachzufragen, zu reagieren in ihm brannte wie leise Wut.

»Es ist auch noch Geld da. Eine reelle Summe, die Ihnen rechtlich zusteht. Und natürlich haben Sie weiß Gott das Recht auf eine ausführliche Erklärung für die Geschehnisse. Aber ich muss erst sichergehen, dass Sie der sind, für den ich Sie halte.«

Und da war es.

Ihre Arme zitterten leicht, als sie ein kleines Hängeregister aus ihrer Aktentasche holte. »Michael Trenley« stand auf dem roten Registerreiter. Ein paar Fotos rutschten heraus – scharfe Aufnahmen eines Hauses.

»Oh, tut mir leid. Wir mussten das Haus natürlich zum Verkauf anbieten. Letztes Jahr ist es verkauft worden, aber ich kann es Ihnen gern mal zeigen, wenn wir die logistischen Probleme gelöst haben.«

Er versuchte, seine Hand zurückzuhalten, aber sie bewegte sich selbständig zum obersten Foto und ergriff es. Die Treppe war breiter, als er sie in Erinnerung hatte, und das Dach tiefer, aber in ihm rührte sich eine Erinnerung.

Das Haus seiner Kindheit.

Der erste konkrete Beweis für sein vergangenes Leben. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, aber glücklicherweise wühlte sie immer noch in ihren Papieren und war völlig davon absorbiert. Er bemühte sich, minimales Interesse zu zeigen und den Schwall von Fragen zurückzuhalten, der sich in seiner Kehle aufstaute.

Lässig ließ er das Foto auf den Cafétisch fallen, während Mrs. Riverton weiter in ihrer Mappe kramte. Der Kellner kam an ihren Tisch. »Hallo, was möchten Sie gern bestellen?« Und Mike sagte: »Können Sie uns bitte noch einen Moment allein lassen?« Er wartete, bis der Mann sich zurückgezogen hatte, dann sagte er: »Ich bin völlig verwirrt. Warum meinen Sie, dass ich mit diesen Leuten verwandt bin?«

»Ach, wissen Sie, das war eigentlich ganz offensichtlich.« Mrs. Riverton öffnete die Mappe, so dass er einen Blick hineinwerfen konnte. Ein Zeitungsfoto von Mike bei der PR-Veranstaltung des Gouverneurs. Dasselbe Bild, das auch in der Los Angeles Times abgedruckt worden war, aber die Zeile darüber verriet, dass dieser Artikel aus dem Oregonian ausgeschnitten worden war. »Und …« Sie zog ein körniges Kodakbild aus den Siebzigern darunter hervor.

Mikes Vater als junger Mann.

Ihre Gesichter sahen sich bemerkenswert ähnlich, bis hin zum ausgeprägten Amorbogen der Oberlippe. Die Familienähnlichkeit war stark, fast unmöglich von der Hand zu weisen.

Die Wirklichkeit traf ihn heftig und erschütterte ihn bis ins Mark: Das Zeitungsfoto war wie eine Leuchtrakete am Horizont erschienen. So hatten sie – wer auch immer sie sein mochten – nach all den Jahren seine Spur wiedergefunden. Es lag nicht an den doch-nicht-so-grünen Häusern seines »Green Valley«-Projekts, dass sie den Weg zu seiner Tür gefunden hatten. Es lag an seiner Entscheidung, die Wahrheit zu vertuschen, den Betrug mitzuspielen, dem Gouverneur den Arm um die Schultern zu legen und in die Kameras zu lächeln.

Die Schuldgefühle wallten in ihm auf. Hätte er auf Annabel und seinen eigenen Instinkt gehört, hätten sie diese ganze Bedrohung abwenden können.

Die Frau musterte ihn einen Moment, dann fuhr sie fort. »Als ihr Vater im Krankenhaus lag, gestand er kurz vor seinem Tod, dass er sie als Vierjährigen ausgesetzt hatte. Er hat erklärt, warum er das musste. Das ist doch Ihre Geschichte, oder? Als Vierjähriger ausgesetzt? Denn wenn nicht …« Sie klappte die Mappe zu und legte sie beiseite.

Mike sah sie nur an. Er biss die Zähne zusammen und überlegte, ob es sich lohnte, die Karten auf den Tisch zu legen. Die Mappe mit dem roten Reiter steckte außerhalb seiner Reichweite in ihrer Aktentasche wie die Verkörperung der Versuchung. Konnte sie wirklich die Testamentsvollstreckerin sein? War sie vertrauenswürdig?

»Hören Sie.« Sie griff über den Tisch nach seinem Unterarm. »Ich verstehe, was für Schmerzen Sie deswegen ausgestanden haben. Ich meine, der Verlust, das Warten auf die Eltern, die lebenslange Suche, einfach wissen wollen … Ich kann es mir nur vorstellen. Ich habe die Antworten für Sie. Das Haus Ihrer Eltern wartet auf Sie. Ich muss nur die Geschichte Ihrer Herkunft bestätigen.«

Er atmete schneller, während ihre Worte auf ihn wirkten. Shep war irgendwo in der Nähe und beobachtete sie, aber im Moment fühlte es sich an, als wären Mike Doe und Dana Riverton allein auf der Welt. Mit größter Anstrengung gewann er seine Ruhe zurück. Er würde keine Fragen stellen. Er würde nicht neugierig scheinen. Er würde Shep diese Frau nach Hause verfolgen lassen, damit sie ihre Adresse herausbekamen, und dann würden sie langsam und vorsichtig weitermachen.

Er schaute nach unten, und sie zog ihre Hand rasch zurück, um sie in den Schoß zu legen. Aber der kurze Blick hatte genügt, um die Stelle an ihrem Daumen zu entdecken, an der sie das winzige Gefängnis-Tattoo mit Make-up zugekleistert hatte. Ein Grabstein mit der Nummer 7 darauf – entsprechend der Zahl der Jahre, die sie hinter Gittern verbracht hatte.

Am Rand seines Fingers, wo ihr Make-up auf ihn abgefärbt hatte, sah er einen kleinen hautfarbenen Streifen. Sein Herz raste, und er zog die Finger ein, damit sie den Farbfleck nicht entdeckte.

»Ich befürchte, Sie sind bei mir falsch.« Er stand auf, warf einen Zehn-Dollar-Schein auf den Tisch und ging davon.