50
Du kommst zurück und holst mich.
Ich komm zurück und hol dich.
Jetzt hast du’s mir geschworen.
Du hast es geschworen.
Als Mike aufwachte, pochte sein Schädel, und die Bettdecke hatte sich um seine Beine gewickelt. Seine Brust war klamm unter dem Motelventilator, und in der kleinen Grube unter seiner Kehle hatte sich eine Schweißpfütze gesammelt. Er schob die Decke von sich, fuhr sich mit der Hand übers kurzgeschorene Haar und bemühte sich, seinen Traum abzuschütteln. Snowball II steckte unter dem Kissen neben ihm. Seine Glasaugen quollen heraus, als hätte man ihn gewürgt. Shep saß auf dem anderen Bett, lehnte mit den Schultern am Kopfteil und schaufelte kalte Ravioli aus der Dose in sich hinein. Er war so wachsam und ruhig wie eh und je. Auf dem Tisch stand das Polizeifunkgerät, aus dem ein stetiger Strom von Funksprüchen drang.
Sie waren im ersten Licht des Morgens ins Motel zurückgekehrt, um 3.27 Uhr. Der Überfall war für Sonnenuntergang angesetzt, in wenig mehr als 13 Stunden. Die Dunkelheit würde ihnen einen gewissen Schutz bieten, und die Büros von Deer Creek, McAvoys eingeschlossen, sollten bis dahin leer sein, wenn man den Angaben glauben durfte, die Two-Hawks’ Späher in den letzten paar Wochen zusammengetragen hatten. Aber bis dahin hatten Mike und Shep noch eine Menge zu planen.
»Glaubst du an Gott?«, fragte Shep, ohne den Löffel aus dem Mund zu nehmen.
Mike begriff, dass Shep gedacht hatte, er würde beten. »Wenn es grade passt«, erwiderte Mike.
»Passt es grade?«
Mike dachte an das Loch in Annabels Seite und das schwarze Rinnsal, das aus der Wunde sickerte. An Dodges massive Hand, die Kats Kopf durch den pastellblauen Schlafsack umfasste, und wie er mit dem Schlosserhammer ausholte, um ihr den tödlichen Schlag zu verpassen. Er dachte an das Erkerfenster, in dem er als Kind gewartet hatte, und in dem vielleicht auch Kat in diesem Moment saß.
»Ja«, sagte er.
Mike fuhr auf seinem Elektromobil dahin, mit einem ramponierten Käppi mit der Aufschrift 101. Airborne, einer riesigen verspiegelten Sonnenbrille und einer Fleecedecke auf dem Schoß, auf der ein Weißkopfseeadler abgebildet war, der über eine zerklüftete Bergkette spähte. Shep ging ohne jede Verkleidung neben ihm über den Parkplatz von Deer Creek.
Um Punkt 18.40 Uhr bog ein Minivan von der Hauptstraße ab und parkte auf einem Platz in der hintersten Reihe. Ein uramerikanisch aussehendes Paar stieg aus. Der Mann, ein robuster Typ im Hawaiihemd, trug ein breites Grinsen zur Schau. Seine Frau fummelte am Kragen ihres Shirtkleides, ihren sorgfältig frisierten Locken und dem toupierten Pony herum. Sie sah aus, als wäre sie gerade einem Patrick-Nigel-Poster entstiegen.
Als Mike die beiden sah, ging er vom Gas und betätigte so jäh die Handbremse, dass der kleine Scooter quietschend zum Stehen kam.
»Die?«, fragte er. »Die zwei sollen deine beiden knallharten Komplizen sein?«
»Jupp«, sagte Shep. »Bob und Molly.«
Mike hatte einen sauren Geschmack im Mund. Er hatte Angst und fragte sich, ob sie sich die Sache wirklich gut überlegt hatten. Er war froh, dass er Hank am Morgen sein Geld übergeben hatte – ein Punkt weniger, der sein Gewissen belasten musste, wenn er heute Abend umgebracht wurde und die Reise ins nicht allzu süße Jenseits antrat. Hank hatte seine Hand ein paar Sekunden länger als nötig festgehalten und ihm eingeschärft, dass er auf seinen Anruf wartete. Wenn Mike ihn anrufen konnte.
Nervös zupfte Mike seine Lederhandschuhe zurecht. Das Paar winkte ihnen und kam auf sie zu. Bobs Gesicht war sonnenverbrannt und glänzte, Molly spielte mit den bunten Metallicperlenketten an ihrem Hals.
Während die beiden näher kamen, fragte Shep: »Habt ihr mein Werkzeug in den Schuppen gebracht?«
»Oh ja, das haben wir.« Mollys Lächeln war unglaublich breit.
Bob warf Mike die Schlüssel des Vans zu, dann deutete er in einer Zeichentrickparodie an, wie er aufs Casino zurannte. »Na, wollen wir?«
»Okey-dokey«, sagte Molly.
Mike schluckte und nickte. Sie gingen aufs Casino zu und verteilten sich auf verschiedene Eingänge. Am Südeingang verkeilte sich Mike zwischen ein paar anderen Elektrorollern. Es setzte jede Menge giftige Kommentare, entweder weil die anderen Fahrer einfach alt und unleidig waren, oder weil Mike sich mit der Elektromobil-Etikette nicht so gut auskannte, aber zu guter Letzt konnte er sich doch noch seinen Weg bahnen. Sobald er im Inneren des Casinos war, sah er kurz nach, ob die leeren Metallkarren für den Geldtransport hinter dem niedrigen Tresen abgestellt waren, wo er sie bei seinem letzten Besuch gesehen hatte. Drei Karren warteten noch auf das nächste Schichtende, dann würde man sie abholen und von Spielautomat zu Spielautomat schieben, um die vollen Münzbehälter einzusammeln.
Er fuhr quer durchs Casino und bemühte sich, nicht an die Kameras an der Decke zu denken, die das Geschehen aus allen Richtungen filmten.
Er war das schwächste Glied der Kette, der einzige Nicht-Professionelle in diesem Unternehmen. Wenn ihn jemand entdeckte, war er tot. Und Kat war verloren.
Surrend fuhr er zu den Toiletten, wo ihm ein älterer Mann die Tür aufhielt, und steuerte die geräumige Behindertentoilette an. Er schloss die Tür ab, und als die Decke auf die Fliesen glitt, wurde die Nike-Tasche sichtbar, die er auf der breiten Plattform unter seinen Füßen versteckt hatte. Er nahm den Hut und die Brille ab und warf sie mit der Decke in den Transportkorb am Lenker. In seiner unauffälligen schwarzen Hose und dem weißen Poloshirt mit dem Casino-Logo sah er aus wie ein ganz normaler Mitarbeiter des Deer Creek Casino.
Wie Two-Hawks verraten hatte, war die Toilette der einzige Ort an einem Casino, in dem keine Überwachungskameras angebracht waren.
Abgesehen natürlich vom Büro des Geschäftsführers, wie Mike hoffte.
Auf seiner Uhr war es 18.53 Uhr. Noch sieben Minuten, dann ging es los.
Er schob sich vier Kaugummis auf einmal in den Mund, kaute kräftig und schob sich die Masse dann in die Wangen und unter die Lippen. Jetzt, wo er keinen Hut aufhatte, unter dem er sein Gesicht verstecken konnte, war es besser, wenn er die Gesichtserkennungssoftware anderweitig austrickste.
18.54 Uhr.
Ohne die Tür der Behindertentoilette zu entriegeln, schob er die schwere Nike-Tasche unter der Trennwand hindurch in die Nachbarkabine, dann kletterte er hinterher. Irgendjemand spülte, dann hörte er Wasser laufen. Mit der Tasche in der Hand stand er in der relativ ruhigen Toilette und versuchte sich zu erinnern, wie man normal atmet.
18.56 Uhr.
Es wurde Zeit.
Er verließ die Toiletten, nickte ein paar Typen zu, die hereingestolpert kamen und sich dabei ihre Freidrinks über die Handgelenke schütteten. Im Casino suchte er sich seinen Weg zwischen den Spielautomaten und den grünen Filztischen hindurch und gab sich alle Mühe, seinen Gang völlig unbekümmert aussehen zu lassen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte nervös durch den riesigen Saal auf die Tür, die zu den Büros führte. Two-Hawks’ Spione hatten behauptet, dass die Räume dahinter jetzt leer waren. Behauptungen waren natürlich hilfreich. Aber nicht hundertprozentig zuverlässig.
Mike blieb in der Nähe der Kasse stehen und stellte sich mit dem Rücken zur Wand. Inzwischen atmete er so schwer, dass es seine Wangen aufblähte. Das Gewicht des Werkzeugs in seiner Sporttasche hatte etwas Beruhigendes, aber ganz egal, wie gut man ausgerüstet war, es gab immer ein paar unkalkulierbare Variablen. Er stand so nahe bei den Rollwagen hinter dem Tresen, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Sein Lampenfieber spitzte sich derart zu, dass er kurz vor der Panik stand.
Kein Ehemann, sagte er zu sich selbst. Kein Vater.
Nur ein Mann mit einer Aufgabe.
18.59 Uhr.
Er schloss die Augen.
In diesem Moment hörte er den Schrei.
Bob schnappte nach Luft. Ein riesiger Plastikbehälter mit Vierteldollarmünzen glitt ihm aus der Hand und explodierte auf dem Teppich, so dass die Münzen klingelnd und klirrend in alle Richtungen sprangen. Mit angespanntem, knallrotem Gesicht packte er seinen linken Arm und löste sich mit einer Drehung vom Texas-Hold’em-Tisch, machte ein paar taumelnde Schritte vorwärts und zog das rote Samtseil und den verstörten Dealer mit sich. Er ächzte schwer und brach auf dem Pokertisch zusammen, der ins Kippen kam, bis ein Tablett mit Spielchips nach dem anderen vom Tisch rutschte und die Chips auf den Boden ergoss.
Molly krallte die Hände in ihre gelben Locken und stieß einen weiteren gellenden Schrei aus. »Mein Mann! Oh, Gott, sein Herz, sein Herz! Kann ihm denn niemand helfen?«
Wie abgesprochen waren alle, die direkt danebenstanden, zur Salzsäule erstarrt. Das Einzige, was sich bewegte, waren die Münzen und Chips, die an Knöcheln und Stühlen vorbei und unter die Einarmigen Banditen rollten. Vierzigtausend Dollar und ein paar Zerquetschte schwärmten wie ein Rudel Ratten über das hypnotisierende Teppichmuster aus. Ein älterer Mann mit einem ramponierten Hut ging in die Knie, um einen schwarz-grünen Hundert-Dollar-Chip aufzuheben, und seine wacklige Bewegung brach den Bann. Als würde ein Garten voller Statuen plötzlich zum Leben erwachen, ein einziges Rempeln und Schieben und Grabschen. Volle Fäuste schoben sich in Taschen. Behälter mit Münzen tanzten auf den Armen der glücklichen Sammler wie Osterkörbchen. Halbschuhe und High Heels trampelten auf Hände und kickten Münzen beiseite. Der Croupier versuchte sich von Bob loszumachen, der krächzend zusammengesackt war und immer noch seinen linken Arm umklammerte, als wollte er ihm gleich abfallen. Die Securityleute schwärmten aus, jagten den Chips nach, sprangen mit manchen Gästen nicht gerade sanft um und riefen Befehle in ihre Funkgeräte. Mollys Schreie waren so durchdringend, dass sich ein paar Leute, die von der Unterströmung mitgerissen wurden, die Ohren zuhielten.
Der Floorman stand hüfttief in dem ganzen Chaos, drückte seinen Kopfhörer fest aufs Ohr und sprach in seinen Ärmel: »Überwachung? Ich würde Ihnen empfehlen, das Ganze gut aufzuzeichnen.«
Der Raum mit den Überwachungsmonitoren war das blanke Chaos. Aufblitzende Bildschirme, Hände an Joysticks, panisches Auf-und-ab-Laufen. Die Hälfte der Bildschirme gab das Chaos im Saal wieder und nahm es aus jedem erdenklichen Winkel auf.
Der Oberaufseher rief mit schriller, dünner Stimme seine Befehle ins tobende Durcheinander. »Das könnte ein Ablenkungsmanöver sein! Benutzt eure Software, holt euch Gesichter!«
»Läuft alles schon!«, rief ihm einer der Mitarbeiter zu.
»Was habt ihr bis jetzt?«
»Bis jetzt noch ni…« Ein Signalton tönte aus den Lautsprechern seines Computers. Er stand abrupt auf und zerstrubbelte sich mit einer Hand nervös das stoppelige schwarze Haar, wobei man die kreisförmige Spur sah, die sein Deo unter dem Hemdsärmel hinterlassen hatte. »Der Typ mit dem Herzinfarkt ist ein zweifach verurteilter Betrüger.«
Der Leiter des Überwachungsraums stürzte zu ihm. »Und die Frau?«
Da stand sie auch schon, in der Liste der bekannten Komplizen des Betrügers.
»Wer noch?«, schrie der Mann. »Ich möchte, dass Sie den ganzen Scheißsaal abscannen – und zwar sofort!«
Der nächste Alarmton. »Okay«, sagte der Mitarbeiter. »Wir haben noch einen Komplizen ausgemacht.« Die Gesichtserkennungssoftware filterte ein drittes Gesicht aus der Menge heraus. Shepherd White, der sich bei der Kasse herumdrückte und durch die Gitterstäbe zum Tresorraum schielte. »Der hier ist Tresorknacker.«
»Kameras zehn bis sechzig alle auf den Tresorraum«, kommandierte der Leiter des Sicherheitsbereichs. »Ich möchte, dass jeder Blickwinkel abgedeckt ist. Schickt sofort die Security hin, trommelt das Team zusammen und holt den Boss ans Telefon. Der will garantiert auch informiert werden.«
Hastig schob Mike den Metallkarren über den Flur und hielt sich immer schön am Rande, während an den Spieltischen das Chaos regierte. Die schwere Sporttasche, die jetzt im Karren lag, schepperte einmal kurz, als die Räder vom harten Fliesenboden auf den Teppich rollten. Links von ihm stand ein Barkeeper auf einem Hocker, um besser zu sehen. Über seinem verrutschten Kopfschmuck blinkte das FEUERWASSER!-Zeichen.
Mike griff nach der Klinke der Tür, die zu den Büros führte, und öffnete den Reißverschluss seiner Tasche. Erst das Gleitmittel, in dessen Sprühkopf bereits das dünne rote Röhrchen aufgesteckt war. Er sprühte ins Schlüsselloch, dann ließ er die Dose in den Karren fallen und holte eine Pick-Pistole aus der Tasche. Während er die dünne Spitze in das geschmierte Schlüsselloch schob, schaltete er das Gerät ein. Die Spitze begann zu rotieren, wie eine Schlange in einer geschlossenen Faust, bis schließlich alle Zuhaltungen in der richtigen Position waren und das Schloss sich öffnete.
Er schob den Karren in den Flur und zog die Tür hinter sich zu.
Wie er entdeckte, war eine der Türen zum Korridor nur angelehnt, und ein Lichtstrahl fiel auf den Teppich.
Einen Moment setzte ihm der Herzschlag aus. Er atmete tief ein, dann schob er den Karren weiter. Als er an der offenen Tür vorbeikam, blickte eine Frau von ihrem Tisch auf, die eine Brille mit Drahtgestell trug.
Mike verlangsamte nur kurz, um zu sagen: »Wir haben eine kleine Sicherheitskrise im Spielsalon. McAvoy hat angerufen – er möchte, dass sämtliche Mitarbeiter, die nicht unmittelbar an den Tischen arbeiten, das Gebäude verlassen, bevor die Situation eskaliert.« Seine Stimme war leicht verzerrt durch den ganzen Kaugummi, aber sie schien nichts zu bemerken.
»Ist jemand verletzt?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich hab gehört, dass ein paar Typen ihre Knarre gezogen haben.«
Sie griff sich die Handtasche und schoss aus der Tür, während Mike seelenruhig weiterging. Auf dem letzten Büro stand McAvoys Name auf einem Messingschild eingraviert. Das Schloss war ein Medeco – viel zu kompliziert für eine Pick-Pistole. Aber glücklicherweise hatte Shep auch diese Möglichkeit mit einkalkuliert. Mike griff in die Sporttasche und förderte eine elektrische Handbohrmaschine zutage, die mit einem harten Karbidaufsatz ausgestattet war. Er rammte die Spitze fest in den Zylinder direkt über dem Schlüsselloch, spannte den Finger an und drückte fest zu. Der Bohrer kreischte und ließ Funken über seine Unterarme herabregnen, aber er kam stetig voran und dezimierte eine Zuhaltung nach der nächsten. Schließlich sprang das Schloss auf und die Tür ging nach innen auf, ohne dass er sie auch nur angefasst hatte.
Er schob den Karren vor sich her und durchquerte das Büro. Das Mobiliar war von erlesener Qualität – ein Schreibtisch aus Walnussholz, eine Pferdestatuette aus Baccarat-Kristall, ein goldgerahmtes Porträt von McAvoy mit seiner attraktiven jüngeren Frau und Zwillingssöhnen.
Und dann war da noch ein Gemälde, wie Graham es beschrieben hatte. Ein indianischer Heiler in Öl starrte Mike ehrfurchtgebietend an. Sein Blick war zeitlos, und er hatte die Hände erhoben, so dass man seine Handflächen sah – eine Geste, die zugleich passiv und machtvoll aussah. Mike griff nach dem Holzrahmen, sprach ein stummes Gebet und nahm das Gemälde von der Wand.
Zischend atmete er durch seine zusammengebissenen Zähne aus. Graham hatte nicht gelogen. Er legte die Hand flach auf den Wandsafe und konnte die Kühle der undurchdringlichen Fassade aus brüniertem Stahl fühlen.
Dann nahm er einen Hammer aus der Sporttasche und schlug Löcher in die Wand rund um den Safe, bis er Stücke herausreißen konnte. Die Lederhandschuhe schützten dabei seine Hände. Der letzte Gegenstand in seiner Tasche war eine schnurlose Säge, deren gerade Klinge ungefähr fünfzehn Zentimeter lang war. Er setzte die Batterien ein und ließ sie einmal kurz laufen. Statt den Safe anzugehen, richtete er die Säge auf die Balken, an denen der Safe montiert war. Das Holz setzte den Sägezähnen keinen nennenswerten Widerstand entgegen. Der Schweiß rann Mike in die Augen. Jeden Moment konnte Dodge durch die Bürotür mit dem zerstörten Schloss kommen. Mike musste sich zwingen, nicht ständig auf seine Uhr zu sehen. Es dauerte so lange, wie es eben dauerte.
Den unteren Balken hob er sich bis zum Schluss auf. Nachdem er den Rollwagen an die Wand neben dem Safe gestellt hatte, setzte er die Säge am letzten Balken an, bis er unter dem Gewicht des Safes splitterte. Das Metallding fiel mit lautem Krachen in den Metallkarren und hinterließ eine beachtliche Delle.
Doch vom letzten Balken war zu viel herausgebrochen, als der Safe herunterfiel, also sägte Mike das herausragende Ende ab. Er machte seine leere Sporttasche auf und legte sie über den Safe, so dass er ganz bedeckt war. Die Werkzeuge ließ er auf McAvoys feinem Orientteppich liegen. Dann stemmte er sich gegen den Metallkarren, dessen Räder leise unter dem Gewicht protestierten, bevor er sich auf die Tür zubewegte.
Es sah so aus, als wäre jedermanns Aufmerksamkeit auf das Chaos gerichtet, das an den Pokertischen herrschte. Gerade war neue Aufregung ausgebrochen, und Mike sah noch, wie Shep zwischen den Würfeltischen hindurchsprintete, gefolgt von vier oder fünf Securityleuten. Er duckte sich unter einem Glücksrad durch, tauchte wieder auf, rannte eine Kellnerin im Ethnoprint-Kleid um und schoss in die Keno-Lounge. Verstärkung war bereits unterwegs. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
Mike wäre mit seinem Karren am liebsten im Laufschritt zu den Toiletten zurückgekehrt, aber er musste sich zwingen, es bei einem schnellen Schritt zu belassen. Als er sein Ziel erreicht hatte, stieß er mit dem Ende des Wagens so schwungvoll die Tür auf, dass der Karren gegen die Wand neben der Behindertentoilette knallte. Mike war ganz ungestört – natürlich suchte keiner die Toiletten auf, während im Spielsaal ein Zirkus von solchen Ausmaßen entfesselt war.
Mike schlüpfte unter der Tür durch, schloss von innen auf und zog den Karren hinein. Das Elektromobil stand immer noch dort, wo er es abgestellt hatte. Unter Zuhilfenahme seiner Beine manövrierte Mike den zentnerschweren Safe keuchend auf die Plattform des Elektromobils. Nachdem er sich wieder seine Sonnenbrille und den Hut aufgesetzt hatte, stieg er auf und warf sich die Decke über die Beine und den Safe. Der Safe war breiter als angenommen, so dass seine Füße an den Seiten etwas über die Plattform herausstanden, aber er hoffte inständig, dass es niemand auffallen würde.
Er fuhr aus den Toiletten und mitten durchs Casino. Während er den nächstgelegenen Ausgang ansteuerte, bohrten ihm die ungleichmäßigen Bruchkanten der Holzbalken Splitter in die Beine.
In der Peripherie seines Blickfelds sah er fünf Wachmänner, die Shep aus der Keno-Lounge herausschleiften. Er ließ seinen ganzen Körper erschlaffen, um es ihnen möglichst schwer zu machen. »Ich hab nix gemacht!«, heulte er und betonte seine verwaschene Aussprache. »Lasst mich in Frieden. Ihr tut mir weh.«
Mehrere Gäste beobachteten das Schauspiel mit Bestürzung und Mitleid.
Mike schaute starr geradeaus und nahm die Hand nicht vom Gas, aber da der lächerlich schwache Motor mit dem enormen Gewicht des Safes zu kämpfen hatte, schien der Roller nur im Schneckentempo voranzukommen. Erschrocken bemerkte Mike, dass die Wachmänner, die Shep gefasst hatten, jetzt direkt auf ihn zusteuerten. Seine Hand tat ihm weh vor lauter Gasgeben, aber er konnte den Scooter nicht weiter beschleunigen, und sie blieben auf Kollisionskurs. Tatsächlich kreuzten sich ihre Wege einen Moment. Mike musste auf den Teppich ausweichen, damit sie ihn nicht umrannten. Sheps Kopf tauchte einmal kurz auf, gerade lang genug, dass Mikes und seine Augen sich treffen konnten, bevor ihn die Wachen wieder weiterzerrten.
Mike lenkte den Elektroroller wieder auf den Gehweg und steuerte auf die Glastüren zu, die nur noch zwanzig Meter entfernt waren. Der Safe rutschte ein kleines Stück zur Seite, und er presste die Beine zusammen, um ihn festzuhalten, woraufhin jedoch die Decke ins Rutschen kam. Oben sah er Dodge und William in den Saal stürzen, und zwischen ihnen McAvoy. Sie rannten auf Mike zu, und im ersten Moment hatte er Panik, dass sie ihn entdeckt hatten. Er senkte den Kopf, so dass die Hutkrempe sein Gesicht verdeckte, holte mit der Zunge einen Kaugummiklumpen aus seiner Wange und kaute nervös darauf herum. Der überforderte Motor heulte auf. Er bekam einen Krampf in dem Bein, mit dem er das Gewicht des rutschenden Safes zu halten versuchte. Er betete, dass seine Beine nicht zu weit herausschauten, dass seine dämliche Adlerdecke nicht weiter verrutschte und dass er nicht doch entlarvt worden war.
Er traute sich nicht, einen Blick zu riskieren, aber er spürte den Luftzug, als sie an ihm vorbeirannten. Zitternd atmete er aus, während das Elektromobil mit lächerlicher Langsamkeit vorankeuchte. Schließlich gingen die Schiebetüren auf, und er war endlich draußen. Die Nachtluft fühlte sich kühl an auf seinem schweißnassen Gesicht.
In der Nähe des umgeworfenen Tisches hatten mehrere Wachleute Shep, Bob und Molly umzingelt, und mit ihnen den Großteil der Casino-Chips. Trotz der Anstrengungen der Geschäftsführung blieben immer noch Schaulustige stehen, die in sicherem Abstand glotzten, mit dem Finger zeigten und den einen oder anderen Vierteldollar unter ihrem Fuß hervorzogen.
McAvoy, der sich seinen Ducati-Helm lässig unter den Arm geklemmt hatte, gesellte sich zu dem Menschenauflauf und nickte Shep kollegial zu. »Wo ist Ihr Freund?«
»Weiß ich doch nicht«, sagte Shep. »Ich dachte, Ihr Stammesbrüder hängt immer zusammen.«
McAvoys linkes Auge zuckte fast unmerklich. Ruhig wandte er sich an einen Wächter. »Warum haben Sie ihn nicht schon woanders hingebracht, wie ich’s Ihnen gesagt hatte?«
»Wir haben sie gerade erst eingefangen«, antwortete der Chef der Wachmannschaft.
Bob winkte den besorgt schnatternden alten Damen zu. »Ich fühl mich schon viel besser, Gott sei Dank.« Er hielt ein oranges Fläschchen hoch. »Meine Nitratkapseln hab ich immer dabei.«
McAvoy deutete auf Shep. »Nehmt ihn mit.«
Dodge erschien, und Shep nickte ihm zu. »Na, wie geht’s dem Hals?« Dodge drehte den Kopf und heftete den Blick auf Shep, zeigte aber kein Anzeichen des Wiedererkennens.
»Können wir uns gleich drüber unterhalten«, meinte William. »Unter vier Augen.«
Die Wachen packten Shep bei den Armen und schleiften ihn mit.
Die Menge kam in Bewegung, als sich mehrere uniformierte Polizisten einen Weg hindurchbahnten, bis sie vor Shep und den Wachleuten standen.
McAvoy baute sich vor Ihnen auf. »Ich habe Ihnen nicht erlaubt, meinen Besitz zu betreten.«
Ein Lieutenant klappte seine Brieftasche auf und ließ die Dienstmarke herausbaumeln. »Sie stehen vor drei Verbrechern, Mr. McAvoy«, sagte er. »Und die stehen auf unserer Fahndungsliste.«
Ein Blickduell schien unausweichlich, aber McAvoy ließ es nicht so weit kommen. Beschwichtigend hob er die Handflächen, trat beiseite und lächelte verbindlich. »Meine Herren.«
Die Polizisten nahmen Shep, Bob und Molly fest und scheuchten sie durch die Menschenmenge hinaus.
William kam hinter McAvoy hervor und legte Shep eine Hand auf den Brustkorb, so dass die Prozession kurz zum Stehen kam. »Keine Sorge«, flüsterte er. »Bevor du dich einmal umschaust, hat Graham dich zu uns zurückgebracht.«
»Klar«, erwiderte Shep. »Viel Glück auch.«
Dodge folgte ihnen noch ein paar Schritte zum Ausgang, dann blieb er stehen und starrte ihnen mit seinen stumpfen, leblosen Augen nach.
Als Mike in der letzten Reihe des Parkplatzes beim Minivan von Bob und Molly angekommen war, pfiff sein Elektromobil schon aus dem letzten Loch, und der Safe war kaum mehr auf der Fußplattform zu halten.
Mike drückte einen Knopf an seiner Schlüsselkette, und die Schiebetür des Vans glitt automatisch auf. Auf einen zweiten Knopfdruck wurde seitlich der Rollstuhllift ausgefahren. Der sterbende Elektroroller eierte neben den Lift, Mikes zitternde Beine konnten ihre Last endlich loslassen, und der Safe landete krachend auf der Metallplatte. Nach einem weiteren Knopfdruck fuhr der Rollstuhllift nach oben und bugsierte den Safe, der immer noch an den durchgesägten Holzbalken befestigt war, ins Innere des Vans.
Mike ließ den Roller umgekippt auf dem Asphalt liegen, sprang auf den Fahrersitz und fuhr vom Parkplatz, auf dem gerade eine zweite Welle von Polizeiautos eintraf.
Als er auf die Straße hinausfuhr, ließ er das Fenster herunter und spuckte den Kaugummi in den Wind.
Der Raum mit den Überwachungsmonitoren roch nach Kaffee und Körperflüssigkeiten. McAvoy hatte sich vom Leiter des Sicherheitsbereichs gerade ein drittes Mal in Folge die Aufnahmen vorspielen lassen. Die Aufzeichnung zeigte Shep, der an der Wand neben dem Tresorraum lehnte, wie er völlig entspannt das Gesicht nach oben wandte, als würde er warme Sonnenstrahlen genießen.
»Das ist alles?«, fragte McAvoy. »Der stand einfach bloß da rum?«
»Ja«, sagte der Direktor. »Er stand zwar am Tresorraum, hat aber nichts versucht – ich schätze, das ging alles zu schnell für ihn.«
»Und er hatte auch kein Werkzeug dabei.«
»Richtig.«
McAvoy starrte auf das Bild. Shep, der sein Gesicht zur Decke gewandt hatte. Nein – eigentlich ja direkt in die Überwachungskamera.
Als wollte er, dass die Gesichtserkennungssoftware ihn aufspürte.
»Moment mal«, sagte McAvoy. »Geben Sie mir noch mal den Mitschnitt auf Monitor siebenundzwanzig.«
Der Direktor entsprach seinem Wunsch. Fünf Wachen schleiften Shep aus der Keno-Lounge und durch den Spielsaal. »Jetzt auf Pause«, befahl McAvoy. »Nein, zurück. Jetzt. Jetzt. Da. Stopp.«
Ein erstarrtes Bild von Sheps Kopf über den Wachen, der irgendetwas konzentriert anblickte.
»Was siehst du da?«, murmelte McAvoy. Er trat vor, zog eine Linie in der Richtung, in die Shep blickte, bis sein Finger an den Bildschirmrand stieß. »Zeigen Sie mir Kamera achtundzwanzig, dieselbe Zeit.«
Der Direktor gehorchte. Auf dem Monitor erschien ein alter Kriegsveteran mit ramponiertem Hut und Sonnenbrille auf einem Elektromobil. Seine Beine waren nach außen verdreht, als wären sie gebrochen. Die Hand am Gashebel war behandschuht.
McAvoy erbleichte.
»Boss«, sagte der Leiter des Überwachungsraums, »was ist …«
McAvoy schoss zur Tür. Sein Motorradhelm baumelte an seiner Seite. Mit entschlossenen Schritten durchquerte er das Casino, rannte auf den Flur, in dem sich die Verwaltungsräume befanden, und sah sofort seine Bürotür am Ende des Ganges, die leicht offen stand. Als er sein Büro betrat, blieb er wie angewurzelt am Rand des Teppichs stehen.
Der Ducati-Helm fiel ihm aus der Hand und landete krachend auf dem Boden.