Wunderliche Geschichten

Jetzt kommen einige wunderliche Geschichten. Es ist besser, das gleich zu sagen, damit sich niemand falsche Vorstellungen macht. Ein neuzeitlicher Zeitungsleser läßt sich durch nichts mehr beeindrucken. „Katze Carmen spricht kastilianisch“ — „Architekt als Taschendieb“ — „Rede spaltet Amerika in zwei Teile“... wenn einer an solche Schlagzeiten gewöhnt ist (sie sind authentisch), wird er gewiß nicht dui’ch eine von meinen sonderbaren Geschichten beeindruckt werden. Aber es kann ja Vorkommen, daß einer keine Zeitungen liest.

Heute nacht wurde Giacomino abgeholt.

Zwei Monate ist er bei mir gewesen, und ich hatte ihn liebgewonnen. Nun wird er nicht mehr auf dem Wagen meiner Schreibmaschine sitzen und mir zulächeln.

Es war damals kurz nach Mitternacht. Ich war noch immer damit beschäftigt, der Schreibmaschine kleine Ereignisse zu erzählen, die sie ihrerseits in Blau dem weißen Papier erzählte.

Plötzlich war mir, als hörte ich durch die Balkontür ein Flügelrauschen. Ich unterbrach meine Arbeit.

Es war tatsächlich ein Flügelrauschen. Vielleicht eine verirrte Taube? In meiner fernen Jugendzeit war ich nachts ausgegangen, um die Nachtigallen in ihren Nestern auszunehmen; und die Nachtigallen — sagt man — schlafen mit offenen Augen. Ich löschte das Licht, öffnete mit äußerster Vorsicht die Flügel der Balkontür und streckte langsam den Arm aus. Ich fühlte, wie sich zwischen meinen Fingern zwei warme Flügelchen bewegten; es schien eher eine Singdrossel zu sein als eine Taube. Ich schloß die Tür und zündete das Licht wieder an.

Es war keine Singdrossel; es war ein winziges Kind, eine Spanne groß, in einem weißen Hemd, das ihm bis zu den Füßen reichte, mit einem winzigen Lockenkopf und zwei winzigen Flügeln an den Schultern. Es war sehr erschrocken, aber ich liebkoste es ganz zart, und da schaute es mich mit seinen winzigen runden schwarzen Augen an und lächelte. Ich sagte irgend etwas, aber es antwortete nicht; es konnte noch nicht sprechen. Es hob den winzigen Arm und zeigte auf den Wecker. Ich setzte es auf den Tisch und stellte den Wecker vor es hin. Es begann zu spielen, und es schaute mich an und lachte, wobei es zwei Zähne zeigte, so klein wie Reiskörner.

Ich machte nun den lieben Gott darauf aufmerksam, daß es nicht gut sei, so kleine Seelen von Kindern, die noch nicht sprechen können, in der Nacht herumzuschicken.

Der liebe Gott antwortete mir nicht, und ich ging wieder daran, auf meine Maschine zu hämmern.

Das Kind ließ den Wecker und betrachtete mit größtem Interesse die Maschine. Es war eine Spanne lang und wog so viel wie eine Nuß; ich setzte es auf den Wagen der Maschine und schrieb weiter. Es unterhielt sich; wenn es die Glocke läuten hörte, schaute es mich an und lachte. Bald wartete es mit erhobenem Finger darauf, daß die Glocke läutete. Ich begann, schneller zu schreiben, dann noch schneller, damit die Glocke öfter läutete.

„Ich werde dich Giacomino nennen“, teilte ich dem Kind mit; und der Knirps streckte die Arme nach mir aus — er war schläfrig.

Ich steckte ihn zum Schlafen in eine Tasche meines wollenen Schlafrocks. Dann verschloß ich die Tasche mit einer Sicherheitsnadel und hängte den Schlafrock an den Kleiderhaken meines Arbeitszimmers. Zwei Monate leistete mir Giacomo Gesellschaft. Jede Nacht nahm ich ihn aus der Tasche meines Schlafrocks und setzte ihn auf den Wagen der Schreibmaschine. Und Giacomino saß ruhig und unbeweglich da; und wenn die Glocke läutete, hob er den Arm, schaute mich an und lächelte.

Er war eine Spanne lang und wog soviel wie eine Nuß. Er sprach nie, er weinte nicht, er war eine schweigende kleine Seele. Er flog nicht einmal herum; er saß auf dem Wagen meiner Schreibmaschine und wartete auf das Läuten der Glocke.

Einmal glitt seine Hand über das Papierblatt; ich hämmerte mit gesenktem Kopf auf die Tasten, und als ich bemerkte, daß in der letzten Zeile ein ganzes Wort fehlte, war es zu spät. Das Wort stand auf der Hand Giacominos. Es war ein banales Wort: „Pfeife.“ Giacomino weinte nicht. Ich verband seine kleine Hand mit einem Stück Taschentuch und konstruierte aus einem Stück Eisendraht ein Schutzgeländer auf dem Wagen der Schreibmaschine.

Wenn am Sonntag die Sonne schien, bestieg ich mein Rad. Giacomino war in meiner Weste verborgen. Wenn wir dann auf eine einsame Wiese kamen, band ich eine lange Schnur an Giacominos Arm und ließ ihn fliegen.

Jetzt schaut mich Giacomino nicht mehr vom Wagen der Schreibmaschine lächelnd an; gestern abend hat man ihn abgeholt.

Es war wieder kurz nach Mitternacht. Irgend jemand klopfte ans Fenster. Ich öffnete, und herein kam eine junge Frau in einem langen weißen Hemd und mit Flügeln an den Schultern.

„Seit zwei Monaten suche ich ihn schon“, erklärte sie mir. „Wir sind beide von einem Balkon im vierten Stock gefallen. Erinnern Sie sich? Es stand am nächsten Tag im ,Corriere’“, fügte sie nicht ohne Eitelkeit hinzu. „Auch er war in der Zeitung. So klein und schon in der Zeitung! Wir sind beide vom vierten Stock gestürzt; ein Geländer war gebrochen. Aber er ist zehn Minuten vor mir dahingegangen, und es gelang mir nicht mehr, ihn zu finden. Er hatte sich verirrt. Zwei Monate habe ich gesucht, und jetzt habe ich ihn gefunden. Ich danke Ihnen, mein Herr.“

Die junge Frau nahm ihren Giacomino in den Arm und ging fort. Aber Giacomino weinte und streckte die Hände nach der Schreibmaschine aus; er wollte bei mir bleiben und die Glocke läuten hören.

Ich schloß die Fensterflügel und nahm meine Arbeit wieder auf. Verwünscht, was es mich jetzt für Mühe kostet, auch nur zwei Worte aufs Papier zu bringen, seit mir Giacomino nicht mehr vom Wagen der Maschine zuschaut.

Aber ich bin’s zufrieden. Ich muß mir zumindest einreden, daß ich zufrieden bin.

Wer weiß, was der liebe Gott sagen wird, wenn er auf Giacomos Händen das Wort „Pfeife“ sieht? Es mir nicht gelungen, es auszuradieren. Man sollte niemals mit einem kopierfähigen Farbband schreiben!

Ich wollte von einer sonderbaren Begebenheit erzählen, und ich weiß nicht recht, ob es mir gelungen ist.

Aber was kann ich da machen? Seit Giacomino mir nicht mehr vom Wagen der Maschine zuschaut, muß ich mich schrecklich abmühen, auch nur einen Satz zusammenzubringen.

Doktor G. B. wollte an jenem Abend ausgehen, aber er tat nicht gut daran. Denn an der Ecke der dritten Seitengasse erwartete ihn Gimmi.

Genau genommen wartete Gimmi nicht gerade auf Doktor G. B.; Gimmi wartete einfach auf irgendeinen, um ihm die Geldtasche zu ziehen. Der erste, der ihm in den Weg lief, war der Doktor, und dies mißfiel den Familienangehörigen des Doktor G. B., es mißfiel aber auch den Angehörigen Gimmis: Als sie sich nämlich einander gegenüber sahen, hielt es sowohl Doktor G. B. als auch Gimmi für die einzige Möglichkeit, die Pistole zu ziehen und zu feuern. Sie schossen, solange sie konnten. Dann stürzten sie aufeinander und versuchten vergeblich, einander zu packen. Als es ihnen bewußt wurde, daß Seelen aus Luft gemacht sind und daß infolgedessen ein Handgemenge zweier Seelen sowohl technisch als auch sprachlich undenkbar ist, blieben sie unbeweglich stehen, um ihre Leichen zu betrachten, die verlassen auf dem Pflaster lagen.

„Eine schöne Geschichte haben Sie da angerichtet, Sie Widerling!“ rief endlich der selige Doktor G. B.

„Ich habe nicht den Eindruck, daß Ihr Werk lobenswerter ist als das meine“, erwiderte der selige Gimmi.

„Meines ist das Werk eines Ehrenmannes, der sich zur Wehr setzt, Ihres ist das eines sehr üblen Aggressors“, erläuterte der selige Doktor G. B. verächtlich.

„Spitzfindigkeiten, geehrter Herr“, sagte der selige Gimmi. „Das Wesentliche ist, daß Sie ebenso ein Mörder sind wie ich. Wir sind quitt.“

Der selige Doktor G. B. lachte verächtlich. „Sie mit mir quitt?!“ rief er. „So schauen’Sie doch Ihr Gesicht an, bevor Sie sprechen!“

Der selige Gimmi betrachtete aufmerksam seine verlassene Leiche auf dem Pflaster, dann betrachtete er die Leiche des seligen Doktors und schüttelte seinen großen Kopf.

„Ich finde nichts Ungewöhnliches“, versicherte er. „Wenn ich rasiert und gut angezogen wäre, würde ich sogar einen hübscheren Eindruck bieten als Sie.“

„So etwas hätten Sie mir im Leben sagen sollen“, brummte der selige Doktor G. B. „Ich hätte eine derartige Unverschämtheit nicht ungestraft hingenommen.“

„Entschuldigen Sie“, stammelte mit aufrichtigem Bedauern der selige Gimmi. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Und entschuldigen Sie auch die Geschichte mit dem Revolver. Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen nichts Böses tun wollte. Ich wünschte bloß, Ihnen die Brieftasche zu ziehen, als ich dann aber sah, daß Sie zur Pistole griffen, habe ich Angst bekommen und mich verteidigt. Sie sind der erste, den ich umbringe, mein Herr, ich schwöre es Ihnen, und Sie machen sich keine Vorstellung, wie leid mir dies alles tut.“

Der selige Doktor G. B. zuckte die Schultern. Im Grunde tat es auch ihm leid, einen Menschen getötet zu haben. „Schon gut, schon gut“, schloß er. „Was geschehen ist, ist geschehen.“ Und er entfernte sich stolz. Der selige Gimmi folgte ihm ganz geduckt, und das ärgerte den Doktor. „He, was wollen Sie noch?“ rief er und drehte sich um.

„Nichts“, erklärte der selige Gimmi furchtsam, „ich dachte nur, da wir denselben Weg haben, daß wir auch zusammen gehen könnten.“

„Ich hoffe stark, daß es nicht derselbe Weg ist“, entgegnete der selige Doktor ironisch. „Jedenfalls lege ich keinen Wert darauf, mich in Gesellschaft gewisser Leute sehen zu lassen.“ Aber dann wurde es ihm langweilig, so allein durch die finstere Nacht zu wandern, und als er sich umdrehte, sah er mit Vergnügen, daß der selige Gimmi ihm immer noch folgte. So spazierten dann die beiden bald Seite an Seite schweigend über die Dächer. Als der Morgen graute, ging der selige Gimmi in ein Dachzimmer hinein. Der selige Doktor folgte ihm. In einem großen Bett schliefen eine Frau und drei Kinder.

„Ach!“ seufzte der selige Gimmi, nachdem er lange geschaut hatte. „Ich hatte ihm ein Pferd versprochen, dem Kleinsten.“

„Wenn man Kinder hat, treibt man sich nicht nachts herum, um Leute zu berauben!“ meinte der selige Doktor. „Was hatten Sie denn eigentlich in Ihrem Kopf?“

„Stroh, mein Herr, Stroh! Wenn ich könnte, würde ich mir diesen dummen Kopf einschlagen!“

Der selige Doktor G. B. ging nicht in sein Haus. Es wäre ihm peinlich gewesen, den seligen Gimmi seine reiche Wohnung sehen zu lassen und das warme Zimmer, in dem nur eine dicke und unsympathische Frau schlief.

Gegen neun Uhr morgens blickten sie den Leuten über die Schultern und lasen die Zeitungen.

Eine kurze Nachricht stand im Lokalteil; die Einzelheiten wurden für den Nachmittag angekündigt.

„Was?“ rief der selige Gimmi, nachdem er zu Ende gelesen hatte, „Sie waren der Doktor G. B.?!“

„Ja.“

„Verwünscht, was für eine Bestialität habe ich begangen!“ betrübte sich der selige Gimmi. „Daß ich gerade eine Berühmtheit wie Sie umbringen mußte! Ich bin wirklich zum Unglück geboren! Ich werde verzweifelt in die Hölle gehen, und das geschieht mir ganz recht. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich Sie nicht töten wollte; Sie haben mir Angst gemacht, das ist alles. Ein Wissenschaftler wie Sie!“

„Na, Sie brauchen nicht zu übertreiben“, unterbrach ihn der selige Doktor G. B.; „es ist schließlich kein unersetzlicher Verlust. Ich hatte vor allem einen guten Ruf, aber es war nicht viel dahinter. Solche wie mich wird es noch hunderttausend geben.“

Der arme selige Gimmi fuhr fort, seinen großen Kopf zu schütteln. Er hatte eine große Bestialität begangen.

In den Nachmittagszeitungen stand die detaillierte Geschichte; an einem Kiosk war eine große Zeitung ausgehängt, und die Seite der Unglücksfälle und Verbrechen war aufgeschlagen. Sie konnten ganz bequem lesen. Die ärztliche Untersuchung hatte eine sonderbare Tatsache ergeben. Gimmi war vom Doktor ins Schwarze getroffen worden, der Doktor hingegen war nicht von Gimmi erschossen worden, sondern an einem Schlaganfall gestorben. Die plötzliche Aufregung hatte sein Herz Stillstehen lassen.

„Halten Sie das für möglich?“ fragte der selige Gimmi ungläubig. „Gewiß“, beruhigte ihn der selige Doktor G. B. „Mein Herz war keine zwei Centesimi wert. Ein ganz miserables Herz.“

Der selige Gimmi begann wieder, seinen großen Kopf zu schütteln. „Alles schön und gut“, warf er ein, „aber wenn ich Sie nicht angegriffen hätte, wäre die Geschichte nicht passiert. Es ist meine Schuld. Die Geschichte wäre nicht passiert.“

„Was wissen denn Sie?“ erwiderte der selige Doktor G. B. „Es wäre ohne weiteres passiert — irgendein Straßenunfall, eine plötzliche Aufregung aus familiären Gründen. Mein guter Mann, bei einem schlechten Herzen genügt irgendeine Dummheit. Ich bin sehr froh, daß Sie mich nicht getötet haben.“

Der selige Gimmi fuhr fort, seinen Kopf hin und her zu wiegen. Ein Herr im Hemd und mit Flügeln kam daher und teilte ihnen mit, daß das Tribunal sie erwarte.

Beim Tribunal wurde der selige Doktor als erster aufgerufen.

„Ich habe einen Ehrenmann getötet“, sagte der Doktor.

„Einen Augenblick“, unterbrach der Richter. „’Ehrenmann’ scheint mir nicht gerade das richtige Wort. Er hat Sie zum Zwecke des Diebstahls angefallen.“

„Ja, aber er hatte nicht die Absicht, mir etwas Böses anzutun; ich kenne ihn seit Jahren“, erwiderte der selige Doktor G. B.

„Geben Sie acht, daß Sie keine Unwahrheit sagen!“ mahnte der Richter streng. Nachdem er die Vergangenheit des seligen Doktors studiert hatte, verkündete er das Urteil. „Sie haben im Zustand berechtigter Notwehr gehandelt. Sie sind freigesprochen.“

Nun wurde der selige Gimmi verhört.

„Ich bin ein Schurke“, gestand der selige Gimmi, „ich habe eine große Schweinerei begangen, als ich den Herrn Doktor tötete. Ich habe nichts zu meiner Verteidigung zu sagen.“

„Sie haben ihn nicht getötet“, warf der Richter ein.

„Das sagen Sie!“ rief Gimmi und schüttelte seinen großen Kopf. „Wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte, wäre dem Herrn Doktor diese Schweinerei nicht passiert. Es ist meine Schuld.“

„Sie werden das doch wohl nicht besser wissen wollen als ich!“ ent-gegnete der Richter gereizt.

Das Urteil wurde verkündet. In Anbetracht seines Vorlebens, des völligen Fehlens mörderischer Absichten und gewisser anderer Einzelheiten wurde der selige Gimmi nur zu fünftausend Jahren Fegefeuer verurteilt.

Der selige Gimmi begab sich gesenkten Kopfes auf den Weg zum Fegefeuer, aber kurz darauf holte ihn der selige Doktor G. B. ein. „Ich komme mit Ihnen“, sagte er. „Ich werde Ihnen Gesellschaft leisten. Fünftausend Jahre vergehen wie nichts.“

„Glückliche Leute“, murmelte der Richter lächelnd und sah ihnen nach. Dann wendete er sich an irgendeine Hilfskraft: „Laß sie nur zwei oder drei Jahrhunderte dort, und dann bring sie herauf.“

Ein Weiser, der immer als Ehrenmann gelebt hatte, für seine Rechtschaffenheit jedoch immer nur einen traurigen Lohn erhalten hatte, wurde es eines schönen Tages müde und sagte: „Die Menschen sind alle Schweine.“

Dann verkaufte er all seine Habe, kaufte ein Pferd, einen Esel, einen Hund, einen Ochsen und eine Henne. Nachdem er sich auf dem Gipfel eines Berges einen Palast hatte erbauen lassen, ging er hin, um dort zu wohnen.

Der Weise war war ein Mann von großen Geistesgaben und von einzigartiger Willenskraft. Er setzte es sich in den Kopf, seinen Tieren das Sprechen beizubringen.

Jahr um Jahr arbeitete er, ohne den Mut und die Geduld zu verlieren. Schließlich aber hatte er mit seinem Bestreben Erfolg: das Pferd, der Hund, der Esel, der Ochse und die Henne waren imstande, zu verstehen und zu antworten.

Der Weise dankte dem lieben Gott für seine Hilfe und beschloß, mit den fünf Tieren ein Abschlußexamen durchzuführen.

Er führte sie in den Garten, gab ihnen Futter und Zärtlichkeiten, ließ sie sich auf dem Rasen vor ihm hinstrecken und begann mit sanfter Stimme, sie auszufragen.

Die erste Frage richtete er an den Esel.

„Wer bist du?“ fragte der Weise den Esel.

„Ein Pferd“, antwortete der Esel mit bewundernswerter Sicherheit. Der Weise wandte sich an den Ochsen: „Und du, wer bist du?“

„Ein Löwe“, antwortete der Ochse mit kühner Miene.

Der Weise wandte sich an die Henne. „Und du, wer bist du?“

„Ein Adler“, antwortete die Henne, indem sie die Klauen herausstreckte.

Der Weise wandte sich an das Pferd: „Und du, wer bist du?“

„Ein Mensch“, antwortete das Pferd und fügte hinzu: „Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich mit Sie ansprechen wollten. Ich denke doch, daß wir zwei niemals zusammen in der Kneipe gesessen sind!“

Der Weise wurde betrübt und sah mit Tränen den Hund an.

„Du Ärmster“, sagte der Hund gutmütig und warf ihm einen Knochen hin. „Sie behandeln dich schlecht, aber verliere den Mut nicht; ich weiß, daß du mir treu bist, und ich werde dich beschützen.“

Und als er sah, daß der Weise nicht aufhörte zu weinen, fügte er hinzu: „Wir gehen weit fort von diesem undankbaren Gesindel, und ich werde dich das Bellen lehren.“

Ein Mann kam zum Doktor H. J. Bommer.

„Etwas höchst Sonderbares geht vor sich“, erklärte der Mann. „Seit mehr als zwölf Jahren besitze ich eine Kaffeemühle, die immer ausgezeichnet funktioniert hat; ich gab Kaffeebohnen hinein, sie lieferte mir gemahlenen Kaffee. So war es bis vor einer Woche. Vor einer Woche nahmen die Dinge eine eigenartige Wendung. Vergangenen Montag schüttete ich wie immer geröstete Kaffeebohnen in den Trichter und drehte wie immer die Kurbel; als ich aber die Lade herauszog, fand ich nicht Kaffeepulver, sondern weißes Pulver.“

„Weißes Pulver?“ fragte Doktor H. J. Bommer.

„Weißes Pulver, oder vielmehr Kastanienmehl“, erklärte der Mann. „Ich dachte, es sei am Mechanismus etwas kaputt, und ließ ihn von einem Spezialisten untersuchen; doch er war in Ordnung. Ich schüttete nochmals gerösteten Kaffee in den Trichter und drehte wiederum die Kurbel; dann zog ich die Lade heraus und fand sie voll Zitronensaft. Tags darauf schüttete ich wiederum gerösteten Kaffee in den Trichter, drehte die Kurbel — und fand nichts in der Lade.“

„Nichts?“ fragte Doktor H. J. Bommer.

„Nichts, nicht das geringste Etwas“, versicherte der Mann. „In der Folge fand ich, obwohl ich immer ausgezeichneten gerösteten Kaffee in den Trichter gab, Tamarindenmark, Marmelade, Nelkengewürz, Pfeffer. Knöpfe, Sicherheitsnadeln und frische Blumen.“

„Gemahlene frische Blumen, wollen Sie sagen.“

„Ganze frische Blumen: eine gelbe Rose, eine Marguerite und eine Orchidee. Aber das ist alles noch gar nichts.“

Doktor H. J. Bommer wurde noch aufmerksamer.

„Seit gestern macht die Mühle etwas noch Eigenartigeres: ich schütte gerösteten Kaffee hinein, und heraus kommt Musik.“

„Musik?“

„Ja, Musik! Es klingt wie eine Lyra. Klassische Stücke, fast alles aus dem siebzehnten Jahrhundert.“

„Und der Kaffee?“

„Verschwindet. Die Lade ist leer, und der Trichter ist leer.“

Der Mann wickelte ein Päckchen aus und zog eine Mühle hervor. „Hier ist sie“, erklärte er. „Sehen Sie: ich schütte gerösteten Kaffee in den Trichter, drehe die Kurbel, und man hört Musik.“

Der Mann schüttete gerösteten Kaffee hinein und drehte die Kurbel. Doktor H. J. Bommer beobachtete ihn mit Interesse.

„Hören Sie die Musik?“ fragte der Mann.

Doktor H. J. Bommer hörte nur das Knistern der Bohnen, die zerrieben wurden. Doch er nickte.

„Ja, ich höre“, antwortete er.

Der Mann legte die Mühle auf den Tisch und breitete die Arme aus. „Der Mechanismus ist in Ordnung. Meiner Meinung nach ist die Mühle verrückt geworden. Sie sollten sie in Ihre Klinik aufnehmen.“

„Natürlich“, sagte Doktor H. J. Bommer, „natürlich.“

Er rief zwei Wärter und ließ den Mann in eine gut gepolsterte Zelle bringen.

Als Doktor H. J. Bommer allein geblieben war, begann er zu lachen. Er schaute die Mühle an; im Trichter befand sich noch Kaffee. Der Doktor schüttelte den Kopf, nahm die Mühle zwischen die Knie und drehte die Kurbel.

Und er hörte die süßen Töne eines Musikstücks von Scarlatti. „Entlaßt den Mann von vorhin und gebt diese Mühle an seine Stelle!“ befahl der Doktor den beiden Wärtern, die auf seinen Ruf herbeigeeilt waren.

„Ja, Herr Doktor“, antworteten die beiden Wärter. Und sie packten Doktor H. J. Bommer an den Schultern und sperrten ihn in eine gut gepolsterte Zelle.

Der Kanzleidiener erschien an der Tür.

„Herr Doktor“, sagte er, „dieser Doktor Ribeletti ist da...“

Der Advokat Tolei machte eine ungeduldige Handbewegung und schnaubte: „Sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren! Er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen!“

„Schön, Herr Doktor“, antwortete der Diener. „Ich sage es ihm gleich.“

Und er ging auf die Tür zu. Aber Doktor Tolei rief ihn zurück: „Warte!“ Denn nicht alle Aufdringlichen können zum Teufel geschickt werden; es gibt einfache Aufdringliche, aber es gibt auch die Aufdringlichen, die eine Empfehlung von einem großen Tier in der Tasche haben, und diese in die Hölle zu schicken, wäre fast dasselbe, wie das große Tier zur Hölle zu schicken.

Und dieser Doktor Ribeletti, der da auf den Doktor Tolei wartete, hatte eine Empfehlung in der Tasche. Was war da zu tun?

„Also, was soll ich ihm sagen?“ fragte der Diener nach einer Weile. „Sag ihm, ich sei beschäftigt“, antwortete Doktor Tolei nach reiflicher Überlegung.

Der Diener ging hinaus. Kurz darauf hörte man die Stimme Doktor Ribelettis im Vorzimmer: „Danke, ich warte.“

Der Advokat zerbiß wütend den Federstiel, den er in der Hand hielt. „Der Kerl wartet!“ wimmerte er. „Er hat also nicht verstanden, daß ich ihn niemals empfangen werde, und sollte die Welt in Trümmer gehen!“

Dieser Doktor Ribeletti mußte wirklich ein bißchen stumpfsinnig sein, wenn er das noch nicht begriffen hatte; denn schon zum drittenmal innerhalb von zwei Tagen hörte er die Worte wiederholen: „Der Herr Doktor ist beschäftigt.“

Doktor Tolei war nunmehr überzeugt davon, daß er es mit einem blöden Kerl zu tun hatte, einem blöden Kerl, den er jedoch nicht mit einem Tritt hinausbefördern konnte, weil er ein empfohlener blöder Kerl war. Der Advokat entschloß sich also zur Methode der passiven Resistenz.

Am Morgen des folgenden Tages meldete der Diener neuerdings: „Da ist wieder dieser Doktor Ribeletti...“

„Hast du ihm gesagt, daß ich beschäftigt bin?“ fragte der Advokat. „Ja, Herr Doktor“, antwortete der Diener verzweifelt. „Aber er hat gesagt, er will warten.“

„Krepieren soll er!“ grinste der Advokat, nahm seine Arbeit wieder auf und vergaß den aufdringlichen Kerl vollkommen. Als er zu Mittag die Kanzlei verlassen wollte, sagte der Diener bekümmert: „Herr Doktor, Sie können nicht fortgehen; er ist noch im Vorzimmer, er wird Sie sehen. Er hat sich Essen bringen lassen, er ißt hier, hat er gesagt, so spart er das Geld für die Straßenbahnfahrt.“ Der Advokat sah, daß er verloren war. „Zu dumm!“ rief er wütend. „Das ist ja... Na, wenn ich den zwischen meine Finger kriege, den erwürge ich, so wahr ich lebe!“

Der Diener hatte einen Genieblitz: „Die Tür auf die Treppe!“

Die Kanzlei war mit dem Stiegenhaus durch eine direkte kleine Tapetentür verbunden; doch vor die Tür hatte man einen schweren Schrank gestellt. Mit Hilfe des Dieners konnte der Advokat ihn wegschieben und sich stillschweigend in Sicherheit bringen. Am Nachmittag betrat der Advokat seine Kanzlei wieder durch diese Tür.

„Er ist noch da“, benachrichtigte ihn der Diener prompt.

„Soll er dableiben!“ rief der Advokat böse.

Von nun an betrat Doktor Tolei nie wieder sein Vorzimmer, sondern kam und ging immer durch die Tapetentür. Das Vorzimmer passierten lediglich die Klienten, die bald glaubten, daß dieser Doktor Ribeletti ein Portier oder so was Ähnliches sei. Und er war, wie der Diener dem Advokaten berichtete, tatsächlich ein wahres Wunder an Pünktlichkeit geworden: er kam morgens fünf vor acht, nahm sein frugales Essen im Vorzimmer ein und ging abends um neunzehn Uhr fünfzehn.

Eines Tages meldete der Bürodiener bekümmert seinem Prinzipal: „Jetzt geht er abends nicht mehr nach Hause; er hat sich ein kleines Feldbett bringen lassen, das er tagsüber hinter dem Wandschirm verbirgt und nachts mitten im Zimmer aufstellt!“

Einige Zeit verging.

Eines Tages hörte der Advokat aus dem Vorzimmer das Ticken einer Schreibmaschine. Was war denn das nun wieder? Seine eigene Schreibmaschine hatte der Advokat vor sich, und eine zweite besaß er nicht. Er rief den Diener. „Was ist das für eine Maschine?“

„Seine“, antwortete der Diener. „Er hat sie schon vor einigen Tagen mitgebracht und macht kleine Arbeiten für die Klienten. Er ist geschickt und verdient sich ein schönes Geld damit. Aber er ist nett, er hat mir auch heute morgen ein Trinkgeld gegeben, und er sagt, wenn Sie irgend etwas abzuschreiben hätten, sollten Sie nur keine Umstände machen, denn er engagiert jetzt eine Stenotypistin.“ — Der Advokat biß sich in die Hände, aber er sagte nichts. Er wollte es durchstehen, und er würde es auch sicher durchstehen.

Wieder verstrich einige Zeit. Die Geschäfte unseres ausgezeichneten Advokaten Tolei gingen ziemlich flau, und er war ein wenig besorgt. Aber eines Morgens erschien der Diener und teilte ihm mit: „Herr Doktor, dieser... das heißt, der Herr Advokat Ribeletti sagt, wenn Sie sich mit ihm assoziieren wollten... er hat etliche Fälle, und allein wird er nicht damit fertig. Er läßt Ihnen sagen, Sie möchten morgen früh zu ihm ins Vorzimmer kommen, denn er ist sehr beschäftigt...“

So entstand die Advokaturkanzlei „Ribeletti & Co.“