Neues vom trauten Heim

Ich bin überzeugt davon, daß der liebe Gott dem Adam, als er ihn aus dem Paradies vertrieb, nicht nur nachrief, er müsse das Brot im Schweiße seines Angesichtes verdienen; er hat ihm auch noch nachgerufen: „Und deine Frau soll krankhaft sparsam sein!“ Angewidert von den bissigen und ironischen Bemerkungen, zu denen alle Gassenjungen der Lombardischen Tiefebene durch meine graue, an wesentlichen Stellen mit kastanienbraunem Tuch geflickte Hose angeregt wurden, beschloß ich, das Kleidungsstück in die Lumpenkiste zu werfen. Doch da trat die Sparwut bei der trefflichen Störerin meines häuslichen Friedens in Erscheinung. „Wahnsinn!“ rief sie unwillig, „man färbt sie und bekommt eine Hose für Albertino.“

Ich will gar nicht davon sprechen, was die Prozedur des Färbens und die Umarbeitung des Kleidungsstückes gekostet hat. Das war das wenigste.

Die eigentliche Tragödie begann, als Albertino das Ergebnis der Prozedur mit Mißfallen betrachtete. Er sagte nichts, weil er damals noch nicht sprechen konnte, aber es war ihm anzumerken, daß dieses schmutzigblaue Etwas seinen ästhetischen Sinn beleidigte. Die Kinder im zartesten Alter haben sehr schlechte Gewohnheiten. In gewissen Augenblicken kommen sie zu dir, schauen dich mit flehenden Blicken an und zeigen mit einem ihrer winzigen Finger auf den Fußboden. Die sehr schlechte Gewohnheit besteht nicht darin, daß sie mit flehenden Blicken schauen und mit dem Finger zeigen; sie ist anderer Art, und ihre Auswirkungen sind nicht nur auf dem Fußboden nachzuweisen. Die einzige Maßregel, die man in diesem Fall ergreifen kann, ist die, den ganzen unteren Teil der Bekleidung durch andere, trockene Bekleidungsgegenstände zu ersetzen. Und als Albertino zum erstenmal die blaue Hose anhatte, mit flehenden Augen schaute und auf den Boden zeigte, oblag diese Maßregel mir. Sie bestand aus einer Serie köstlicher Überraschungen: nachdem die blaue Hose ausgezogen war, erschien eine blaue Unterhose, und nachdem diese entfernt war, ein blaues Hemd. Als auch das blaue Hemd abgenommen war, erschien wieder etwas Blaues. Ich konnte Albertino nicht gut ein Stückchen Haut abtrennen, um zu sehen, ob die Farbe auch noch die Haut durchdrungen hatte; ich beschloß abzuwarten.

Die treffliche Sparmeisterin meines trauten Heimes bemerkte optimistisch, daß die Hose nach dem ersten Waschen nicht mehr abfärben würde.

Wie ich schon mehrmals zu beobachten Gelegenheit hatte, erreichen Albertinos sehr schlechte Gewohnheiten ganz besonders dann ihren Höhepunkt, wenn der kleine Lump auf meinen Knien sitzt. Hunderte Male habe ich meine Hose durch eine andere, trockene, ersetzt, aber als ich dies zum erstenmal nach den obenerwähnten Ereignissen tat, konnte ich feststellen, daß ich eine neue Hose mit einem grauen und einem blauen Hosenbein hatte, eine Unterhose mit einem weißlichen und einem bläulichen Bein und ein weißes Hemd mit einem großen blauen Ornament. Außerdem hatte ich, da Albertino zum Unterschied von seiner Herstellerin nicht sparsam veranlagt ist, einen blauen Schenkel, einen blauen Strumpf, einen blauen Fuß und einen Schuh, der blaue Flüssigkeit ausschwitzte. Man stellte fest, daß die Hose nach dem zweiten Waschen nicht mehr abfärben würde, und als die zweite Wäsche besorgt war, wurde Albertino eines Nachmittags mitten in das elterliche Bett gelegt. Das Ergebnis war überwältigend. Nach einer Stunde konnte man von der Quelle bis zur Mündung feststellen: ein blaues Hemd, eine blaue Unterhose, eine blaue Hose, eine rosa Decke mit einem blauen Fleck, eine gelbe Steppdecke mit einem blauen Fleck, eine braune Decke mit einem blauen Fleck, zwei Bettücher mit je einem blauen Fleck, eine Wollmatratze und eine Seegrasmatratze mit je einem blauen Fleck, einen Drahteinsatz mit einem blauen Fleck und einen Fußboden mit einem blauen Fleck. Ich ging in den dritten Stock und bat Herrn Raffaele, mich einen Blick in sein Schlafzimmer werfen zu lassen, das unter dem meinen lag. Ich sah einen Plafond mit einem blauen Fleck.

Alles außer dem Drahteinsatz, dem Fußboden und dem Plafond wurde in eine Badewanne gebracht und mit kräftig wirkenden Reinigungsmitteln eingeweicht, um hernach mit Bürste und Seife behandelt zu werden. Da entdeckte Albertino, der Reinlichkeit und Ordnung liebte, in einer Ecke seine triefend nasse blaue Hose, nahm sie und warf sie in die Wanne.

Man sah nun keine blauen Flecken mehr, denn alles zeigte sich in einem hübschen, kompakten und einheitlichen Blau. Auch unsere lichte Badewanne. Doch dabei blieb es nicht. Es wäre ja Wahnsinn gewesen, eine so gut erhaltene Hose zu vernichten, der reinste Wahnsinn! So habe ich mich denn nach und nach daran gewöhnt, auf blauen Tischtüchern zu essen, mir die Nase mit blauen Taschentüchern zu putzen und auf blauen Bettüchern zu schlafen.

Oft bin ich, nachdem ich mich mit einem blauen Handtuch abgetrocknet hatte, mit einem blauen Gesicht zur Arbeit gegangen. Aber endlich habe ich mich aufgerafft. „Genug!“ habe ich geschrien, als ich bemerkte, daß ich einen blauen Eierkuchen auf dem Teller hatte. Und ich nahm Albertino energisch das verdammte Kleidungsstück ab und zerschnitt es mit der Geflügelschere in kleine Stückchen. Später begriff ich, daß ich eine Dummheit begangen hatte. Denn infolge dauernden Abfärbens hatte die Hose inzwischen eben wieder das sauberste Grau der Welt angenommen.

Heute habe ich das letzte Telegramm der Unglücksserie bekommen. Aber obwohl es sich um ein dringendes Telegramm handelt, w’ird es gut sein, die Ereignisse nicht zu überstürzen und der Reihe nach zu erzählen.

Eines schönen Tages — es ist nun schon einige Zeit her — sagte die treffliche Frau, die die geringfügigen Erträge meiner täglichen Angriffe auf die Grammatik und auf die Syntax mit mir teilt: „Bald sind wir an der Reihe, Giovannino. Dann wirst du mir vielleicht recht geben, aber dann ist’s zu spät! Wir werden beide verwitwet sein, und zwei verlassene Waisenkinder werden auf der Suche nach einem Stück Brot durch die Welt wandern.“

Sie schlug die Seite der aufregenden Nachrichten in der Zeitung auf und las sie mit lauter Stimme: „Pilzvergiftung einer Familie“ — „Ehepaar Opfer der Eisenbahn“ — „Professional von Kiste zerschmettert“. Ich gestand, daß diese Nachrichten mich zwar betrübten, doch nicht voll Sorge an eine unausweichliche und wechselseitige Witwenschaft denken ließen.

„Giovannino“, erklärte die wackere Person mit trüber Stimme, „halte dir vor Augen, daß jeder, der Konserven ißt, ein Attentat auf sein eigenes Leben und auf das seiner Kinder verübt. Du siehst, wie die Zeitungen von solchen traurigen Vorfällen strotzen.“

Ich fragte nach dem Zusammenhang zwischen lebensgefährlichen Pilzen, dem Eisenbahnunglück des Ehepaares und der Kiste, die den Professionalisten zerschmetterte.

„Die Kiste war voll von Konserven“, erklärte die hervorragende Benützerin meines Gehalts. „Es steht deutlich im Text des Artikels. Wir müssen auf der Hut sein, Giovannino. Es wäre eine Infamie, eine Familie auszurotten, nur weil sie verdorbenes Tomatenmark gegessen hat.“

Die ausgezeichnete Frau, die einen erfolgreichen Angriff gegen mein unverteidigtes Junggesellentum verübt hatte, hat ihre eigene Vorstellung von Logik: nach ihren dialektischen Grundsätzen zieht man aus einer Pilzvergiftung, einem Eisenbahnzusammenstoß und dem Herabfallen einer mit Konservendosen gefüllten Kiste den Schluß, daß es zur Sicherung der familiären Vollzähligkeit nötig sei, mindestens fünf Flaschen mit hausgemachtem Tomatenmark anzufüllen.

„Tomatenmark zu machen, ist das Einfachste von der Welt“, erklärte mir meine hervorragende Mitbewohnerin. „Was dich betrifft, mußt du nur das Geld beschaffen, das zum Ankauf von zwanzig Kilogramm frischer Tomaten erforderlich ist.“

Als ich am folgenden Tag gegen achtzehn Uhr mit ungewöhnlicher Hingabe in der Redaktion an meinem Schreibtisch arbeitete, läutete das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und spürte den unangenehmen Geruch von etwas Angebranntem. Dann hörte ich die Stimme der bereits mehrfach erwähnten Frau: „Ich koche eben die Tomaten ein; wenn du nach Hause gehst, kaufe Salizylsäure für zehn Kilo Eingekochtes.“

Ich liebe Geistreicheleien nicht,’ und wenn ich sage, daß der Geruch des aufkochenden Tomatenmarks sogar durchs Telefon zu spüren war, so glaubt mir: Oft ereignen sich Phänomene, die sich jeder wissenschaftlichen Erforschung entziehen!

Als ich abends nach Hause kam, fand ich das Vorzimmer bemerkenswert verändert: Albertino hatte mit Hingabe gearbeitet, und so gab es überall Tomatenmark, auch auf dem Plafond.

„Es ist schwer“, erklärte mit kaum verhohlenem Stolz die Mutter des kleinen Arbeiters, „es ist schwer, ein Kind in diesem Alter zu finden, das innerhalb weniger Minuten von selbst begreift, daß eine Fahrradpumpe nicht nur Luft, sondern auch flüssiges Tomatenmark pumpen kann. Welch kluger Kopf!“

„Hat er auch die Pneus des Fahrrades mit Tomatenmark gefüllt?“ erkundigte ich mich.

„Nein“, beruhigte mich die versierte Fabrikantin haltbarer Nahrungsmittelkonzentrate. „Nur die Schlösser der Kästen.“

Ich fragte, wo sich das kleine Pumpgenie befände.

„Er ist zum Einweichen im Kübel“, wurde mir geantwortet. „Vielleicht gelingt es uns, ihn wieder reinzumachen, ohne daß wir ihn in die Wäscherei geben.“

Da am nächsten Tag eine einzigartige Hitze einsetzte und da ich auch verhindern wollte, daß die ausgezeichnete Einkocherin eine gewisse Pfirsichmarmelade machte, in die sie sich verliebt hatte, verfrachtete ich meine Angehörigen aufs Land und blieb in der Gewalt von fünf Flaschen Tomatenmark allein zu Hause.

Die Hitze brannte gewaltig, in den Räumen meines vierten Stocks atmete man Feuerluft. Die fünf Flaschen mit Eingekochtem waren im kühlsten Winkel meines Arbeits-Eß-Wohnzimmerns hinter einem Lehnstuhl aufgestellt. Dank dieser weisen Voraussicht fand ich, als ich am ersten Abend nach Hause kam, den Plafond des kühlsten Winkels in meinem Wohn-Arbeits-Eßzimmer durch eine großen purpurroten Fleck verziert. Wände und Möbel in der Nähe hatten mit Sorgfalt alle Spritzer gesammelt, so daß der Fußboden nahezu sauber war.

Die Hitze hatte der Gärung des Eingekochten außerordentliche Kraft verliehen, der Kork einer Flasche hatte dem Drängen von innen nicht widerstehen können, war fortgeschnellt und hatte, von einer starken Vorhut des Eingekochten begleitet, den Plafond erreicht. Da ich nicht die Kraft in mir fühlte, schwere Verantwortlichkeiten auf mich zu nehmen und aus eigener Initiative etwas zu unternehmen, sandte ich ein dringendes Telegramm mit der Bitte um Instruktionen an die Urheberin des Eingekochten und meiner Nachkommenschaft.

Am folgenden Morgen bekam ich ein dringendes Antworttelegramm: „korke herausnehmen um explodieren flaschen vermeiden durch Papierhütchen ersetzen.“

Ich nahm die Korke heraus und begab mich beruhigt zur Arbeit. Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, erwartete mich das Eingekochte bereits im Vorzimmer. Die Hitze und die Gärung hatten, wie man sieht, das Verbleiben in den engen Flaschen unerträglich gemacht, und ein nicht unbeträchtlicher Teil des Eingekochten war, von den Korken befreit, ausgetreten und mit Ausnützung der leichten Neigung meines Fußbodens bis zur Vorzimmertür gelangt, um mir einen festlichen Empfang zu bereiten.

Ich war erschüttert. Es handelte sich sichtlich um ein zwar rebellisches, aber anhängliches Tomatenmark. Ich sandte ein zweites Eiltelegramm ab und bekam ein zweites dringendes Antworttelegramm: „übriggebliebenes mark flaschen füllen fest verkorken.“

Die Menge des in seinen Behausungen verbliebenen Eingekochten war nicht mehr groß; immerhin gelang es mir, noch drei Flaschen anzufüllen und zu verkorken.

Ich verbrachte einen relativ ruhigen Tag, aber als ich nach Hause kam, entdeckte ich in meinem Arbeitszimmer etwas Neues: auf dem Plafond war in der Nähe des alten Flecks ein kleiner zweiter. Das wäre an sich nicht so besonders interessant gewesen, hätte man nicht nahe bei dem kleineren Fleck eine Flasche ohne Boden gesehen, die bis zum Hals in den weichen Rohrplafond hineingetrieben war. Wundern wir uns, wenn ein Mensch sich unter gleichen Umständen anders verhält als ein anderer Mensch? Nein. Warum sollten wir uns also wundern, wenn von zwei Flaschen mit Eingekochtem die eine sich anders verhält als die andere?

Wo der Kork weniger fest eingesetzt war, war er, gefolgt vom Eingekochten, hinausgeflogen. Wo aber der Kork zu fest hineingetrieben war, war die Flasche davongeflogen; und während ihr oberer Teil sich einen neuen Aufenthaltsort gesucht hatte, war der untere Teil zusammen mit dem ihm zugehörigen Eingekochten auf dem Fußboden verblieben. Ich schickte ein drittes Eiltelegramm, in dem ich beklommen fragte, was ich mit der übriggebliebenen Flasche anfangen sollte.

Das dritte Antworttelegramm: „fülle eingekochtes stärkere flasche stop verkorke fest stop verbinde mit eisendraht stop stelle flasche in speiseschrank.“

Ich füllte das Eingekochte in eine bewährte Sektflasche, zwängte den Kork hinein und stellte die Flasche in den Schrank. Gott sei Dank, nun war alles beendet. Ich verbrachte den ruhigsten Tag. Abends fand ich die Flasche unversehrt auf ihrem Platz. Keine Nacht war je von süßeren Träumen bevölkert.

Der folgende Tag war ein Sonntag, und dieser folgende war der gestrige Tag. Ich blieb beruhigt zu Hause und blätterte vergnügt in meinen Büchern und Notizheften.

Gegen vier Uhr nachmittags erschütterte eine entsetzliche Explosion den Frieden und die Wände meines vierten Stockwerks.

Während eine kleine Volksmenge sich auf der Straße zusammenzurotten begann, lief ich in die Küche und fand genau das vor, was ich erwartet hatte: die Tür des Speiseschranks war aus den Angeln gehoben, Teller, Gläser und Flaschen, einst der Stolz meines gedeckten Tisches, waren in Scherben überall verstreut.

Die Flasche mit dem Eingekochten war explodiert wie eine Bombe, überallhin Tod und Verderben tragend.

Nachdem ich die Bevölkerung, die ich von Dynamitattentaten munkeln hörte, beruhigt hatte, stand ich schweigend da und betrachtete die verspritzten Überreste des Tomatenmarks. Dann schickte ich das letzte Telegramm ab.

Und heute bekam ich das letzte Antworttelegramm: „mach dir keine sorgen stop habe acht dosen ausgezeichneten tomatenmarks aufgetrieben stop alle gesund.“

Ich legte die Unglücksbotschaft zu den Überresten der Küche; dann ging ich spazieren.

Margherita ist sanft und fügsam, aber in gewissen Dingen kennt sie keine Konzessionen. Margherita ist zum Beispiel überzeugt davon, daß man mit den Kindern kurzen Prozeß machen muß; und niemand auf der Welt könnte sie davon abbringen.

Wenn Carlotta statt der Suppe Pfefferminzbonbons und Gorgonzola mit Kakao haben möchte, wenn sie verlangt, mit meinem Fahrrad zu Bett zu gehen oder sich auf irgendeine andere derartige Teufelei versteift, werden die sanften Züge Margheritas unversehens hart, die Halsadern schwellen an, in die Augen kommt ein seltsam metallischer Glanz, wie eine Katze stürzt sie auf Carlotta zu und stößt, wenige Zentimeter vor dem Kind stehenbleibend, einen unmenschlichen Schrei aus, der mich jedesmal aus dem Sessel auffahren und mir die Finger auf den Tasten der Schreibmaschine erstarren läßt: „Ja!“ Das ist laut Margherita der „kurze Prozeß“, den man mit den Kindern machen muß: auf alle Forderungen mit »Ja“ antworten, aber so laut, daß die Wände der Wohnung zittern. „Margherita“, fragte ich sie eines Tages, „fändest du es nicht besser, statt jedesmal ,ja’ zu schreien, wenn sie dich um die ausgefallensten Dinge bitten, mit leiser Stimme ,nein’ zu sagen?“

„Als wir einander kennenlernten“, seufzte Margherita, „war ich dieser Ansicht. Und als du mich fragtest, ob du mich begleiten dürftest, antwortete ich dir mit leiser Stimme ,nein’. Dann ließ ich mich begleiten. ,Nein’ mit leiser Stmme und ,ja’ mit lauter Stimme ‘st das gleiche. Und bei Kindern ist es besser, mit lauter Stimme ‚ja’ zu sagen. Du verstehst nichts von Kinderpsychologie.“

Wenn man darüber nachdenkt, hat Margherita vielleicht nicht ganz unrecht.

Eines Tages begann Carlotta in der Küche zu heulen. Ich ging in die Küche und fand sie in einem Meer von Tränen allein unter dem Tisch.

„Was gibt’s?“

„Ich will die Schokoladekugeln mit der Mandel drin!“ schrie sie mit solcher Heftigkeit, daß ich für ihre kleine Lunge fürchtete. Ich vertraute sie Albertino an, lief hinunter, durchlief zwei Bezirke und kam schließlich mit den gewünschten Kugeln heim.

Carlotta hörte zu weinen auf. Sie öffnete die Tüte, löste das Papier von einer Kugel und kratzte mit dem Fingernagel, um festzustellen, ob sich unter der Schokolade tatsächlich die Mandel befand. Dann steckte sie die Kugel in den Mund.

Ich kehrte an die Maschine zurück und begann weiterzuarbeiten.

Kurz darauf erschien Carlotta bei mir. Sie trat vor mich hin, nahm die Kugel aus dem Mund und reichte mir die Tüte.

„Ich möchte lieber weiterweinen“, erklärte sie.

Dann begab sie sich unter den Tisch in der Küche zurück, begann zu weinen und zu heulen und fuhr damit eineinhalb Stunden fort, bis Margherita nach Hause kam. Ich hörte Margherita ,ja’ schreien. Dann hörte ich kein Weinen mehr.

Vielleicht hat Margherita recht, wenn sie sagt, man müsse mit den Kindern kurzen Prozeß machen. Der Jammer ist nur, daß man bei dem ständigen Gebrauch und Mißbrauch des „kurzen Prozesses“ in meinem Hause nachgerade nur noch mit der dreigestrichenen Oktave arbeitet. Der Ton erreicht auch beim gewöhnlichen Wortwechsel schwindelnde Höhen. Man spricht nicht mehr. Man schreit. Und das steht im Widerspruch zum Lebensstil eines Gentleman. Aber es hat auch seine Vorteile.

Wenn Margherita mich zum Beispiel von der Küche aus fragt, wie spät es ist, brauche ich mich nicht um eine Antwort zu bemühen, weil der Bewohner des Stockwerks über uns am Fenster erscheint und brüllt, daß es sechs oder zehn Uhr sei.

Eines Abends wiederholte Margherita mit Albertino das Einmaleins, und Albertino blieb bei sieben mal acht stecken. „Sieben mal acht?“ begann Margherita zu fragen. Und als Margherita sechsmal nach sieben mal acht gefragt hatte, hörte ich ein Klingeln an der Wohnungstür. Ich ging öffnen und sah vor mir das hektisch gerötete Gesicht des Herrn vom zweiten Stock. „Sechsundfünfzig!“ rief der Bewohner des zweiten Stocks haßerfüllt.

Als ich eines Dezembertages heimkam, beugte sich die Hausbesorgerin aus der Portierloge und sagte sarkastisch: „Weihnachtsnacht, Weihnachtsnacht — komm, o komm geschwind — was hat’s Christkind wohl gebracht — unserm braven Kind?“

„Aha“, sagte ich zu mir, „Margherita hat begonnen, den Kindern ein Weihnachtslied beizubringen.“

Vor der Wohnungstür hörte ich gerade Margheritas Stimme: „Weihnachtsnacht, Weihnachtsnacht —“

„Schweihnachtsnacht!“ antwortete Carlotta ruhig. Dann hörte ich wirre Schreie und entschloß mich, zu klingeln.

Sechs Tage später hielt mich der Wursthändler an, als er mich vorübergehen sah.

„Sonderbar“, sagte er, „so ein aufgewecktes Mädchen kann so ein einfaches Gedicht nicht erlernen. Alle im Haus können es schon, nur sie nicht.“

„Im Grunde hat sie nicht unrecht, wenn sie es nicht lernen will“, bemerkte ernst der Milchhändler, der gerade dazukam. „Es ist ein ziemlich einfältiges Gedicht. Das mit den Wannen ist viel schöner: .O Englein, von wannen — erscheint ihr, so hold — die Welt zu bespannen — mit Silber und Gold...“

Zwei Tage vor dem Heiligen Abend besuchte mich ein sehr würdiger Herr mittleren Alters.

„Meine Fenster sind gegenüber von Ihrer Küche“, erklärte er. „Ich habe ein sehr sensibles Nervensystem, verstehen Sie mich? Seit drei Wochen höre ich vom Morgen bis zum Abend schreien: ,Weihnachtsnacht, Weihnachtsnacht — komm, o komm geschwind — was hat’s Christkind wohl gebracht — unserm braven Kind?’ Offensichtlich ist diese Art von Lyrik dem künstlerischen Temperament des Mädchens nicht angepaßt, und deshalb kann sie den Text nicht erlernen. Aber das ist nebensächlich; die Sache ist die, daß ich es nicht länger aushalte. Ich muß die anderen vier Verse von Ihnen erfahren. Ich befinde mich in der Lage eines Dürstenden, der seit vierzehn Tagen hundertmal am Tage sieht, wie sich ein wassergefüllter Becher seinem Munde nähert. Sobald er aber die Lippen hineintauchen will, entfernt sich der Becher. Und wenn ich dafür bezahlen sollte — helfen Sie mir!“

Ich fand das Blatt unter Carlottas Effekten.

Der Herr stürzte sich gierig auf das Blatt; dann schrieb er die vier Verse ab und ging glücklich fort. „Sie retteten mir das Leben“, sagte er lächelnd.

Am Weihnachtsabend war Margherita betrübt und untröstlich.

Wir setzten uns zu Tisch, ich fand die üblichen Briefchen unter dem Teller, und dann kam der feierliche Moment.

„Ich glaube, daß Albertino dir etwas zu sagen hat“, teilte mir Margherita mit.

Albertino kam nicht einmal dazu, das vorgeschriebene ängstliche Kind zu spielen. Carlotta stand auf ihrem Sessel und hatte schon angefangen: „O Engelein, von wannen — erscheint ihr, so hold...“ Entschlossen, verräterisch, bösartig und gemein rezitierte sie in einem Atem Albertinos Gedicht.

„Es ist meines!“ schluchzte der Unglückliche und lief fort, um sich im Schlafzimmer zu verstecken.

Margherita, die betrübt dasaß, gab sich einen Ruck, beugte sich über den Tisch zu Carlotta und blickte ihr in die Augen. „Hündin!“ schrie Margherita.

Doch Carlotta war nicht aus der Fassung zu bringen und hielt dem Blick stand. Sie war noch sehr jung, aber in ihr waren Lucrezia Borgia, die Mutter der Gracchen, Mata Hari, George Sand, die Dubarry, der Raub der Sabinerinnen und die Schwestern Karamasoff. Indessen hatte Abel nachgedacht und war wieder ruhig geworden. Albertino kam zurück, machte seine Verbeugung und deklamierte das ganze Gedicht, das Carlotta hätte lernen sollen. Da begann Margherita gerührt zu weinen und sagte, daß diese zwei Kinder ihr Trost seien.

Am Morgen kamen eine Menge Leute, um zu gratulieren; und alle versicherten, daß sie solche dramatischen Szenen nicht einmal in den erfolgreichsten Romanen gelesen hätten.

Margherita war noch immer gerührt. Sie sah mich lächelnd an, und ihre großen schwarzen Augen sagten mir: „Giovannino, Giovannino...“