Ausfahrt und Ankunft

Auch Margherita gab zu, daß ich damals mit meiner Erklärung des Weltausstellungsplakats von 1906 recht gehabt hatte.

Wenn ich und Margherita, statt bekleidet in einem gewöhnlichen Abteil zu reisen, nackt und knallrot bemalt gefahren wären, mit einem Flügelhelm auf der Lokomotive sitzend, hätten wir uns bei unserer Ankunft in Mailand vollkommen wohl gefühlt.

Der neue Bahnhof von Mailand scheint mehr dazu geschaffen, Allegorien zu empfangen als Reisende.

Die Allegorien aus Gewerbe und Industrie, wie sie uns von den Diplomen und Ehrenurkunden unserer Druckereien her vertraut sind, lieben die marmornen Adler, Löwen, Girlanden, Hämmer und Bänder, die marmornen Frauenköpfe und marmornen Zahnräder, welche aus dem neuen Mailänder Bahnhof einen lehrreichen zoosymbologischen Garten machen.

Wir kamen jedoch als zwei achtundzwanzigjährige Geschöpfe des lieben Gottes, von denen das eine namens Giovannino an einem gewissen Abend gesagt hatte: „Margherita, ich bin dieses eintönigen und trübseligen Lebens müde; ich bin es müde, immer dieselben Leute vorübergehen zu sehen, ich bin es müde, immer zu wissen, was ich am nächsten Tag tun werde. Eine innere Stimme erinnert mich daran, daß das Leben ein Abenteuer ist, daß man etwas wagen muß! Margherita, wollen wir Sonntag nach Mailand fahren, um die Mustermesse zu sehen?“

Und das Geschöpf Margherita blickte dem Geschöpf Giovannino heiter in die Augen und sprach die erhabenen Worte: „Wenn der Mann, den ich liebe, zu mir sagt: ,Ich sterbe’, so antworte ich: ,Laß uns zusammen sterben.’ Wenn der Mann, den ich liebe, mir sagt: .Fahren wir zur Messe’, so antworte ich ihm: .Fahren wir zusammen zur Messe!’ Aber am Abend will ich zurück sein.“

Ich werde diesen 15. April nie vergessen. Ich hatte dafür gesorgt, daß unser Messebesuch ein süßes Geheimnis zwischen mir und Margherita bleibe. Niemand sollte es wissen, niemand- sollte es gewußt haben. Um acht Uhr verließ ich das Haus und traf auf der Treppe die Hausbesorgerin. „Schicken Sie mir eine Ansichtskarte mit dem Dom!“

Der Milchmann kam gerade mit seinem Dreirad daher. „Mailand! Ja, das ist eine Stadt!“ rief er. „Wenn ich rechtzeitig nach Mailand gegangen wäre, müßte ich heute nicht dieses verdammte Dreirad treten.“

Sechs Schritte weiter begegne ich dem Zeitungsmann, „‘s geht nix über Mailand!“ rief er mir fröhlich zu. „Geben Sie auf die Verkehrsampeln acht!“

Diese liebenswürdigen Ausrufe lockten meinen Friseur und den Wirt meines Stammlokals auf die Straße; der Zeitungsmann erklärte ihnen die Sachlage in großen Zügen, und der Künstler billigte meinen Entschluß ebenso rückhaltlos wie der Gewerbetreibende. Auf der Piazza kaufte ich mir Zigaretten. „In Mailand ist die Manufaktur, dort werden Sie sie frisch bekommen; hier sind sie, wie sie eben sind“, meinte der Tabakhändler.

„Mailand ist im Winter am schönsten, der Nebel verhüllt alles mit einem nordischen Zauber“, seufzte die Kassiererin, sentimental wie sie ist, während sie den Kassenzettel für meinen Espresso abriß.

„In Mailand ist mein Bräutigam“, flüsterte die Kellnerin, indem sie mir die Tasse brachte. „Wenn du ihn siehst, tue, als ob du von nichts wüßtest.“

Ich ging mitten auf die Straße, um nicht aufgehalten zu werden; da überholte mich die Straßenbahn und blieb stehen.

„Herr Giovannino!“ rief der Schaffner, „wenn Sie nicht einsteigen, kommen Sie zu spät zum Schnellzug um 8 Uhr 27.“

Ich dankte ihm für seine Liebenswürdigkeit, eigens meinetwegen anzuhalten, und stieg ein.

„Wenn ein Wagenführer in Mailand nur ein einziges Wort spricht, wird er entlassen“, bemerkte der Wagenführer, ohne sich umzudrehen. „Aber sie fahren sitzend.“

Beim Ausfolgen der Fahrkarten informierte mich der Schalterbeamte höflich: „Fräulein Margherita ist schon da und erwartet Sie auf dem Bahnsteig. Warum kommen Sie nicht erst morgen früh zurück? Die Sonntagsfahrkarte gilt bis Montag mittag.“

Beim Lochen der Fahrkarte gab mir der Bahnhofsportier einen wertvollen Hinweis. „Bei der Rückfahrt nehmen Sie den Beschleunigten um 23.15, mit dem fährt kein Mensch. In Damengesellschaft ist man gern ungestört.“

Ich durchschritt die Unterführung und ging auf Margherita zu, die mich neben dem Erfrischungskiosk erwartete. Da kam jenseits der Gleise der Kellner Gigi aus dem Restaurant. „Herr Giovannino!“ rief er, „Straße Soundso, Nummer 15. Nicht vergessen! Ein Hotel, und was für eines!“

Einige Reisende schlossen sich dem Rat des Kellners Gigi vollinhaltlich an. Die beiden Träger, die jenseits der Gleise neben Gigi standen, schüttelten jedoch mißbilligend den Kopf. „Nein! Gehen Sie in die andere Straße!“ rief der erste. — „Das Richtige für Sie ist das Hotel Ypsilon in der Zet-Straße! Man verlangt nicht einmal die Ausweise!“ schrie der zweite. Im Zug fragte ich Margherita: „Du hast niemandem etwas gesagt, nicht wahr?“

„Niemandem, nur meiner Freundin Maria hab’ ich es gesagt. Was ist mir anderes übriggeblieben? Sie hat meinen Mantel in Ordnung gebracht.“

„Das hast du gut gemacht“, stimmte ich zu. „Die Nachricht wird erst um drei Uhr nachmittags in die Vororte gelangen, und Herr Luigi wird heute abend nicht mehr dazu kommen, die Angelegenheit zu untersuchen.“

Die Leute in der Provinz haben einen sonderbaren Begriff von der Straßenbahn: sie ist nach ihrer Meinung etwas Grünliches, das auf Rädern über Schienen gleitet, um dem Stadtbild eine moderne Note zu verleihen. Sie bedienen sich der Elektrischen nur, wenn sie sich langweilen und irgendeine Abwechslung suchen. Sie geben im äußersten Fall zu, daß die Straßenbahn bequem ist, doch sie lehnen es ab, ihre Notwendigkeit anzuerkennen. Denn die Wege, die einer zurückzulegen hat, sind immer kurz, und wenn er sich beeilt, befindet sich der Provinzler in einer ernsten Verlegenheit: was soll er mit der gewonnenen Zeit anfangen?

Daher fragt der Provinzler, wenn er auf den Bahnhofplatz von Mailand geströmt ist, nie, welche Linie er nehmen muß, um zur Messe zu gelangen; er fragt einfach, in welcher Richtung man zur Messe kommt. Und wenn er die Auskunft erhalten hat, macht er sich entschlossen auf den Weg.

So befindet er sich, nachdem er den Bahnhof um 10 Uhr 35 in Richtung Mustermesse verlassen hat, nach Besichtigung der Arena, des Castello Sforzesco, der Station Porta Genova, des Bogens der Porta Romana, des Cinque-Giornate-Denkmals, gegen 22 Uhr im Angesicht der freundlichen Gewässer des Idroscalo.

Nun benimmt er sich genau so, wie ich mich benommen habe. Er bleibt stehen, er verhält sich einige Minuten schweigend, dann schüttelt er den Kopf und sagt genau die Worte, die ich gesagt habe: „Ich habe den Verdacht, daß wir nicht auf dem richtigen Weg sind.“ Um 22 Uhr 30 gelang es mir und Margherita dank der Hilfe eines Taxis, hungrig und müde die Lichter der Stadt wiederzusehen und uns an einen gedeckten Tisch zu setzen.

Schweigend nahmen wir Speisen und Getränke ein. Ich war in Sorge. Sofort zurückfahren? Nicht zurückfahren? Und Margheritas Eltern? Ich habe Margheritas Eltern niemals gesehen, aber ich kenne sie besser, als ich Herrn Luigi und Frau Flaminia kenne. Margherita hat sie mir mindestens tausendmal beschrieben. Allein die Tatsache, daß sich Margherita, um mich öfter sehen zu können, entschlossen hatte, jede Klasse drei Jahre lang zu besuchen, bot mir den überzeugendsten Beweis für ihre Strenge. Wenn wir in der Bierwirtschaft außerhalb der Stadt waren, wurde Margherita von Gedanken an ihre Eltern gepeinigt. Sie erzählte mir von den Ausreden unter Einbeziehung von Freundinnen, Kulturfilmvorführungen, klassischen Konzerten, pflegebedürftigen Kranken und Übungen religiöser Natur, die sie ausdenken mußte, um der höllischen Überwachung für einige Augenblicke zu entrinnen. Dann stand sie plötzlich auf, und niemand konnte sie mehr halten. „Ich muß gehen; wenn ich fünf Minuten später käme, würde mich mein Vater umbringen! Er hat ein südliches Temperament.“

Ich befand mich wirklich in einer sehr heiklen Lage: ein tyrannischer Vater von südlichem Temperament, der die ganze Nacht wartend und nervös im Zimmer auf und ab geht — wie wird er sich verhalten, wenn seine Tochter nicht heimkommt?

Die Situation war ernst. Die Stunden vergingen unerbittlich. Man mußte sich entschließen. „Margherita, was tun wir?“

„Wir trinken Kaffee, dann gehen wir zu Bett“, meinte Margherita. „Die Frau hat gesagt, daß hier zwei Zimmer frei sind.“

Ich wundere mich nie, wenn eine Frau etwas Unsinniges sagt. Ich kenne die Männer. Sie sprechen oft in den Tag hinein. Und die Frauen sind, im Grunde genommen, genau wie die Männer.

„Margherita“, warf ich mit äußerster Sanftmut ein, „und dein Vater? Und deine Mutter? Was werden sie denken, wenn du nicht heimkommst? Margherita, ich habe die Pflicht, dich daran zu erinnern, daß du zwar mit mir zusammen glücklich das achtundzwanzigste Lebensjahr erreicht hast, aber immer noch den Gesetzen unterstehst, die das tägliche Leben deiner Familie bestimmen.“ Margherita schlug die Augen nieder; und während sie aus Brotkugeln symmetrische Häufchen baute, sprach sie mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien: „Als ich das Licht der Welt erblickte, machte mein Vater eine unmutige Geste; er hatte sich einen Sohn männlichen Geschlechts gewünscht, ich aber war, was ich immer noch bin, eine Tochter weiblichen Geschlechts. Mein Vater war ein Mann von Charakter; nachdem er die Unmöglichkeit eingesehen hatte, das Übel aus der Welt zu schaffen, packte er seine Koffer und fuhr nach Amerika. Dort angekommen, richtete er an meine Mutter die Botschaft: ,Wer mich liebt, möge mir folgen!’ Angesichts der Tatsache, daß ich im Alter von zwei Monaten meinem Vater nicht in Liebe zugetan sein konnte, fand meine Mutter, daß sie die einzige Person sei, die ihn liebe. Sie übergab mich darum mit tausend Segenswünschen einer unverheirateten Tante und fuhr ihrem Gatten nach. Diese Tante, die nicht ganz mittellos war, zog mich liebevoll auf. Als ich das sechste Jahr vollendet hatte, kam ein Brief, in dem mein Vater sich verpflichtete, ihr ein angemessenes Monatsgeld auszusetzen, bis ich nach Ablegung der Reifeprüfung imstande sein würde, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Meine arme Tante wurde es müde, auf dieser Erde zu bleiben, und zwar gerade an dem Tag, an dem ich ins Lyzeum eintrat. Seit damals habe ich von der Rente, die mir mein Vater schickte, allein gelebt. Am Ende jedes Jahres sandte ich ihm meine Zeugnisse, und er ersah daraus, daß ich immer noch das Lyzeum besuchte. Mein Vater, ein Mann von Charakter, hielt Wort. Aber jetzt habe ich das Lyzeum seit vier Jahren hinter mir; und mit dem Ankauf einer großen Reisetasche und eines Koffers ist das Geld verbraucht, das ich klugerweise von den Monatsrenten abgespart hatte.“

Ich wundere mich nie, wenn Frauen unsinnig reden, ich wundere mich jedoch, wenn sie vernünftig reden. In diesem Fall hatte ich freilich auch Grund, mich zu beunruhigen. Und ich beunruhigte mich. „So hast du mich also, obwohl du ganz allein lebst, dreizehn Jahre lang glauben gemacht, du seiest das Opfer eines tyrannischen Vaters! Das ist ernst, Margherita. Du bist also nicht aus Liebe zu mir, sondern aus Liebe zur monatlichen Rente durchgefallen! Margherita, ich muß dir zu meinem Bedauern mitteilen, daß du berechnend gehandelt hast.“

Margherita lächelte. „Giovannino, wenn ich berechnend gehandelt hätte, hätte ich nicht nach neun Jahren die Reifeprüfung abgelegt. Ich hätte das Studium bis ins Alter fortgesetzt. Und die Rente hat mir ja nicht nur das Leben ermöglicht, sondern auch das tägliche Beisammensein mit dir.“

„Margherita, wenn du aber mit deinem Vermögen am Ende warst, warum hast du für das letzte Geld eine große Reisetasche und einen Koffer gekauft? Das stellt deinen administrativen Fähigkeiten ein schlechtes Zeugnis aus.“

„Giovannino, wie hätte ich ohne Reisetasche und Koffer meine Kleider und meine Wäsche befördern sollen?“

„Deine Kleider befördern? Wohin?“

„Nach Mailand. Sie liegen auf dem Bahnhof; um sie zu bekommen, muß ich nur diesen Schein vorweisen.“

Ich gestehe, daß ich das Abenteuer liebe. Dennoch war ich einige Zeit sprachlos.

„Margherita“, stammelte ich schließlich, „du hast deine Bekleidung nach Mailand befördert! Darf ich daraus schließen, daß du die Absicht hast, in dieser Stadt zu bleiben?“

„Gewiß. Sonst wäre es ja unüberlegt gewesen, das Gepäck Zu befördern.“

Die Bemerkung war vernünftig. Es blieb jedoch noch ein nicht völlig geklärter Punkt.

„Margherita, da du erklärst, über keine Geldmittel zu verfügen, wirst du dich wohl, um in Mailand bleiben zu können, bei irgend jemandem aus deiner Bekanntschaft einquartieren.“

„Gewiß. Ich werde bei einem Bekannten wohnen.“

„Und bei wem, wenn, man fragen darf?“

„Bei dir, Giovannino.“

„Warum hast du mich dann, Margherita, zwölf Stunden herumirren und beim Idroscalo ankommen lassen, während ich mich bemühte, in die Nähe der Mustermesse zu gelangen?“

„Giovannino, du hast Mailand kennengelernt, bist immer mit mir Arm in Arm gegangen und hast alle Züge für die Heimfahrt versäumt. Versuche, mich zu verstehen, Giovannino. Bist du böse, wenn ich dich um deine Hand bitte? Mach dir keine Sorgen wegen der Formalitäten: ich habe hier alle Papiere, die ich brauche. Und da ich weiß, daß die Zeit der Männer kostbar ist, habe ich auch deine Papiere besorgt.“

Margherita hatte recht. Die Zeit der Männer ist kostbar. „Margherita, ich muß dir noch einiges zu bedenken geben: zum Funktionieren eines Haushaltes genügt es nicht, einen Mann zu besitzen. Es ist nötig, daß dieser Mann arbeitet und Geld verdient.“

„Du wirst arbeiten und Geld verdienen. Ich habe so viel Vertrauen zu dir. Ich bin überzeugt, daß du in diesen fünf Jahren Arbeit so umsichtig gewesen bist, dir wenigstens achttausendfünfhundertvierzig Lire zu ersparen!“

„Achttausendvierhundert“, verbesserte ich, „einhundertvierzig Lire habe ich für die Reise abgehoben.“

Auf der Straße kamen die Leute eben aus den Theatern und Kinos, und die leuchtenden roten, gelben und blauen Firmenschilder sahen aus wie das Titelblatt einer Sonntagsbeilage.

„Margherita“, sagte ich streng, „das war nicht schön von dir. Du hast einen jungen Mann veranlaßt, seine Heimatstadt, sein Haus, seine Arbeit, seine Familie zu verlassen und sich dem Unbekannten anheimzugeben. Nein, das ist nicht schön von dir, Margherita! Herr Luigi würde dich eine Abenteurerin nennen.“

Margherita begann still zu weinen. Der Wirt kam und sagte, daß die beiden Zimmer bereit seien.

„Margherita“, sprach ich mit fester Stimme, „geh jetzt ins Bett. Wenn du morgen früh dein Gepäck vom Bahnhof holst, löse auch meines aus: zwei Koffer, drei große Reisetaschen und eine Kiste. Hier sind die Scheine. Das Zimmer habe ich vergangenen Monat gekündigt, meine Stelle bei der Zeitung habe ich vor vierzehn Tagen’ aufgegeben.“

Margherita hob lächelnd den Kopf, und ihre großen schwarzen Augen sagten mir: „Giovannino, Giovannino, ich hab’s ja gewußt…“