Der Weg ins Leben

„Kauf dir ein Pferd, Giovannino, und geh nach Argentinien. Dort ist Platz für alle, und wenn du schlau bist, kannst du dein Glück machen“, sagte Großmutter Giuseppina und gab mir fünfzehn Cen-tesimi.

Ich dankte Großmutter Giuseppina und erklärte ihr, es schiene mir nicht so dringend, fortzugehen und in Argentinien mein Glück zu suchen.

„Doch, du wirst fortgehen müssen, Giovannino“, erklärte Großmutter Giuseppina mit Tränen in den Augen.

Wenn es schon seltsam erscheinen mag, daß eine alte Frau eine so persönliche Meinung in geographischen Dingen hat, wird es noch seltsamer erscheinen, daß sie fünfzehn Centesimi als ausreichend für den Ankauf eines Pferdes ansieht. Ein Pferd, mag es noch so heruntergekommen sein, ist immer ein Pferd; auch wenn es nur ein Bein hat, ist es immer noch ein Stück Vieh, das auf dem Markt unweigerlich einen höheren Wert als fünfzehn Centesimi darstellt. Wenn aber ein Pferd immer ein Pferd ist, ist es ebenso wahr, daß Großmutter Giuseppina immer Großmutter Giuseppina ist. Großmutter Giuseppina ist zweiundneunzig Jahre alt, lebt seit dreißig Jahren im Lehnstuhl und verläßt nie das Zimmer. Ihre Beine sind es müde geworden, durch das Haus zu wandern, aber im übrigen ist Großmutter Giuseppina durchaus im Besitz ihrer Kräfte. Sie liest nur die Bibel, aber sie liest sie ohne Brille; sie ist noch imstande, wichtige Additionen im Kopf auszuführen, und immer gelingt es ihr, Herrn Luigi zu demonstrieren, daß er ein tadelnswerter Vater beziehungsweise Gatte beziehungsweise Sohn ist. Großmutter Giuseppina verließ zusammen mit ihrem Gatten, dem Großvater Francesco, am 6. Februar 1887 das Haus. Sie begleitete ihn zum Familiengrab, sorgte dafür, daß der Sarg mit Zartgefühl hinabgelassen wurde, daß der große marmorne Grabstein genau wieder auf seinen Platz gestellt wurde und daß man die Blumen in passender Weise verteilte. Dann kehrte sie nach Hause zurück und ging nie wieder aus.

Großmutter Giuseppina war damals fünfzig Jahre alt, Herr Luigi zweiundzwanzig und meine Mutter, Frau Flaminia, zwanzig. Großmutter Giuseppina blieb uneingeschränkte Verwalterin der häuslichen Geschäfte: sie nahm die Aktiven von Herrn Luigi an sich und verabfolgte jeden Morgen an Frau Flaminia das für den Haushalt nötige Geld.

Zwei Jahre hindurch funktionierte alles ausgezeichnet, aber eines Tages legte sich Großmutter Giuseppina mit Fieber ins Bett; meine Mutter hatte ihr mitgeteilt, daß die Butter um sechs Centesimi pro Kilo teurer geworden sei. Das war ein furchtbarer Schmerz für Großmutter Giuseppina. Die vortreffliche Frau konnte es nicht billigen, daß die Preise des Jahres 1887 Veränderungen mit steigender Tendenz unterworfen wurden. Sie sah dafür keinen vernünftigen Grund.

Und um ihr weiteren Schmerz zu ersparen, entwarfen Herr Luigi und Frau Flaminia einen wahrhaft genialen Plan. Für Großmutter Giuseppina sollten die Preise nie wieder erhöht werden, die Lebenskosten sollten auf der Grundlage von 1887 verharren. Herr Luigi fuhr fort, Großmutter Giuseppina die gleiche wöchentliche Summe einzuhändigen, und Großmutter Giuseppina übergab ihrerseits meiner Mutter jeden Morgen einen unveränderlichen Betrag für die häuslichen Ausgaben. Natürlich glich Herr Luigi die erforderliche Differenz mit einer gesonderten Kasse aus. Alles funktionierte vortrefflich. Im Jahre 1902 hatte Herr Luigi eine der wenigen guten Ideen seines Lebens, um die betrübte Seele der Großmutter Giuseppina aufzuheitern, die infolge eines plötzlich aufgetretenen Gebrechens genötigt war, ihren Lehnstuhl nicht mehr zu verlassen. Er gab ihr weiterhin vier Lire wöchentlich, doch ließ er eine progressive Preissenkung einsetzen. Alle zwei, drei Tage rief meine Mutter mit freudigem Staunen aus: „Großmutter Giuseppina, es genügt, wenn du mir heute statt siebenundfünfzig nur fünfundfünfzig Centesimi gibst; das Fleisch ist von zwanzig auf achtzehn pro Kilo gefallen!“ Und die Preissenkung hielt an; das Brot gelangte im Jahre 1920 auf zwei Centesimi, 1923 kostete das Kalbfleisch einen Centesimi, 1925 kostete ein Faß guten Weines nicht mehr als drei Centesimi. Im Jahre 1929 stellte Großmutter Giuseppina nach sorgfältig durchgeführten Berechnungen fest, daß man für 15 Centesimi ein vortreffliches Pferd kaufen konnte.

Dank der List Herrn Luigis hat Großmutter Giuseppina siebenundzwanzig Jahre wachsenden Glückes durchlebt; denn sie konnte große Ersparnisse zurücklegen; 214 Lire und 87 Centesimi.

„Wenn ich sterbe, wird alles dir gehören“, sagte mir Großmutter Giuseppina eines Tages. „Du wirst dir ein schönes Haus kaufen, und wenn du ein wenig Zeit hast, wirst du zu mir auf den Friedhof kommen, um ein bißchen mit mir zu schwatzen.“

Arme Großmutter Giuseppina! Du wirst nie erfahren, daß man mit fünfzehn Centesimi kein Pferd kaufen kann. Deine 214 Lire und 87 Centesimi bedeuten, solange du das Sonnenlicht siehst, eine Summe, die Giovannino genügt, um ein schönes Haus zu kaufen. Dann, wenn du Großvater Francesco eingeholt haben wirst, der seit zweiundvierzig Jahren auf dich wartet, werde ich deine 214 Lire und 87 Centesimi, alles in ganz kleiner Münze, in ein Safe der Nationalbank einschließen und werde ruhig und sicher sein, denn ich werde sagen können: „Ich habe eine Million auf der Bank.“

Ich setzte mich neben den Lehnstuhl von Großmutter Giuseppina, denn ich begriff gleich, daß da etwas dahintersteckte.

„Großmutter Giuseppina, warum sagst du, daß ich nach Argentinien reisen soll?“

„Deine Eltern haben gestern lange miteinander gesprochen. Sie haben gesagt, daß du dir deinen Lebensunterhalt selbst verdienen mußt. Die Butter ist pro Tonne von zwei auf eineinhalb Centesimi gefallen, aber das Leben ist teuer, Giovannino. Dein Vater ist alt und will nicht, daß du morgen mittellos auf der Straße stehst. Ich könnte dir mehr geben, aber ich fürchte, daß man es dir stiehlt. Es heißt, daß es in Amerika Räuber gibt. Wenn du etwas brauchst, schreib; ich kann dir auch zehn Centesimi wöchentlich schicken.“

„Danke, Großmutter Giuseppina.“

Ich drückte einen Kuß auf ihre weißen Haare und ging in den Garten hinunter. In diesem Augenblick rief mich Herr Luigi in sein Arbeitszimmer.

Herr Luigi war schwarz gekleidet und trug das Cavaliere-Kreuz im Knopfloch. Auch meine Mutter, Frau Flaminia, war in Schwarz, ohne Cavaliere-Kreuz, aber gleichfalls feierlich.

Nach einem Moment des Schweigens sagte Herr Luigi: „Giovannino, du bist kein Knabe mehr; du bist vierundzwanzig Jahre alt und hast das humanistische Reifezeugnis. Deine Großmutter Giuseppina ist zweiundneunzig Jahre alt, dein Vater zweiundsechzig, deine hier anwesende Mutter sechzig.“

„Neunundfünfzig“, berichtigte Frau Flaminia flüsternd.

„Deine Mutter ist neunundfünfzig Jahre alt, du bist vierundzwanzig, dein Bruder ist dreißig und gegenwärtig im Bett, deine Schwester ist neunzehn, aber sie hat im vergangenen Jahr geheiratet und zählt nicht. Insgesamt sind es einhundertfünfundneunzig Jahre.

Stimmt’s?“

Ich nahm einen Zettel und einen Bleistift und rechnete nach. „Genau einhundertfünfundneunzig“, bestätigte ich. Herr Luigi nahm eine ernste Miene an, sah auf Frau Flaminia und sagte mir bedeutsam: „Giovannino, suche mich zu verstehen. Wenn ich auch unermüdlich arbeite, sehe ich mich nicht mehr imstande, das Gewicht dieser einhundertfünfundneunzig Jahre auf meine Schultern zu nehmen. Im äußersten Fall könnte es mir gelingen, einhunderteinundsiebzig zu tragen.“

Ich nahm einen anderen Zettel und führte die Subtraktion durch: einhundertfünfundneunzig weniger einhunderteinundsiebzig ist gleich vierundzwanzig.

„Also vierundzwanzig Jahre zuviel“, sagte ich.

„Genau, lieber Giovannino; deine vierundzwanzig Jahre!“

„Bist auch du einverstanden, Mama?“ fragte ich.

„Vollkommen einverstanden“, antwortete Frau Flaminia. „Es ist Zeit, daß du dir deinen Lebensunterhalt verdienst. Geh in die Stadt, nimm dir ein Zimmer, lauf herum, finde etwas, arbeite, wie es alle machen. Es ist unzulässig, daß sich ein Mann von vierundzwanzig Jahren weiterhin zu Hause herumtreibt. Deine Koffer sind fertig. Hier sind fünfhundert Lire, die es dir erlauben werden, Nahrung und Unterkunft zu finden, bis du eine anständig bezahlte Stelle hast. Du wirst in dieses Haus erst zurückkehren, wenn du dank deinem guten Willen die Achtung deiner Vorgesetzten erringen konntest.“

Herr Luigi erhob sich. „Giovannino, dein Vater billigt vollkommen die Worte deiner Mutter.“

„Hol deine Koffer“, sagte Frau Flaminia. Ich folgte ihr in mein Zimmer.

Kaum angelangt, begann Frau Flaminia zu weinen. „Dein Vater ist grausam!“ schluchzte sie. „Ich mußte dir sagen, was ich dir gesagt habe, weil er es gewollt hat. Aber ich bin deine Mutter und verlasse dich nicht. Ich will dich täglich sehen, Giovannino. Komm jeden Nachmittag gegen zwei, wenn dein Vater schläft; ich werde dir das Essen im Gartenhäuschen bereiten. Aber versäume es nicht, wenn du mir keinen Kummer zufügen willst.“

Frau Flaminia umarmte mich, und ich ging mit meinem Köfferchen hinunter.

Am Gartentor traf ich Herrn Luigi.

„Giovannino“, sagte er ernst, „du kennst deine Mutter und weißt, wie sie ist, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ich habe mit dir so verfahren müssen, um ihr nicht zuwiderzuhandeln. Aber ich bin dein Vater und will dich jeden Tag sehen. Komm jeden Abend gegen acht, wenn deine Mutter zu Bett geht; ich werde dafür sorgen, daß du das Abendessen im Gartenhäuschen bereit findest. Sieh nur zu, daß du es nicht versäumst, wenn du mich nicht beunruhigen willst.“

Herr Luigi drückte mir die Hand.

Ich bestieg mein Fahrrad und radelte in die Stadt.

Margherita erwartete mich an der Ecke ihrer Straße.

Ich erstattete ihr kurz Bericht.

„Margherita, sie haben mich verstoßen, den Nachmittag und Abend ausgenommen. In der Zwischenzeit werde ich arbeiten müssen. Was soll ich tun?“

„Du wirst arbeiten“, erwiderte Margherita.

„Und wie werde ich dich treffen?“

„Das wirst du schon sehen“, antwortete Margherita lächelnd. Und .ihre großen schwärzen Augen sagten mir: „Giovannino, Giovannino...“