Nachkrieg

Nach zwei Jahren entschuldigten Fernbleibens befand ich mich in dem Garten eines einsamen Hauses, das auf einer unermeßlichen Wiese stand. Der Morgen graute, ich saß auf meinem Bündel und freute mich des erwachenden Tages; dann hörte ich plötzlich Menschen schreien und erkannte meine eigene Stimme. Eine Frau im Nachthemd erschien und warf sich in meine Arme.

..Wie schlecht du aussiehst“, sagte ich betrübt.

„Wie sollte ich nicht“, antwortete Margherita. „Giovannino, weißt du denn nicht, daß mein Mann seit zwei Jahren fort ist?“

„Ich weiß es“, antwortete ich. „Ich weiß es gut, denn ich bin dein Mann.“

..Giovannino“, flehte sie, „schon allzu viele haben mich getäuscht; du, der du mein Gatte bist, darfst mich nicht betrügen! Schwöre mir, daß du heimgekehrt bist, schwöre mir, daß du du bist!“

„Ich schwöre es dir“, sagte ich. „Ich bin ich.“

„Und wer bin ich?“ rief Margherita.

„Du bist du“, antwortete ich ihr.

„Schwöre es!“

„Ich schwöre es.“

Sie umarmte mich heulend. „Aber dann sind wir ja wir! Dann ist es wahr!“

Plötzlich trat sie zurück.

„Giovannino, sag mir die Wahrheit! Bist du nicht den Strapazen erlegen?“

„Nein.“

„Die Vorsehung sei gepriesen“, murmelte sie, fiel mir ohnmächtig in die Arme und murmelte mit geschlossenen Augen seufzend die Lottonummern drei, sechzehn und vierundvierzig. Nach zehn Minuten erlangte sie das Bewußtsein wieder. Sie war nun ruhig geworden und sprach mit verhaltener Stimme.

Wir betraten einen Raum im Erdgeschoß, wo allerlei hölzerne Trümmer an den Wänden aufgestapelt waren: riesige Tische, zertrampelte Schubladen. Auf dem Fußboden lag ein großer Haufen Gerümpel; darüber schwebte eine tannene Tischplatte wie ein Laufbrett.

„Unsere Möbel“, sagte Margherita und wies mit einer weitausholenden Geste auf die Trümmer.

„Wie sich in zwei Jahren alles verändert“, seufzte ich.

Margherita hatte sich einem Bretterhaufen genähert und zog aus einem Spalt ein kleines Paket.

„Deine Briefe“, erklärte sie mir lächelnd. „Wenn du wüßtest, Giovannino, was für schöne Briefe du mir geschickt hast!“

„Ich weiß es“, antwortete ich, „ich habe sie dir ja geschrieben.“

„Du?“

„Ich.“

„Ich ahnte es“, sagte Margherita. „Nur du konntest mir solche Briefe schreiben. Und dann war ja auch deine Unterschrift drauf, deine Handschrift, dein Stil, deine Adresse. Wie gut wir einander verstehen, Giovannino!“

Das Laufbrett war schmal, und ich war nahe daran, das Gleichgewicht zu verlieren. Es hätte mir nicht behagt, auf das Gerümpel zu fallen, das darunter lag. „Achtung, Giovannino“, warnte Margherita. „Du könntest sie zerquetschen.“

„Wen?“

„Die Kinder. Sie sind noch im Bett. Das ist das Bett. Erkennst du unsere rosa Steppdecke nicht?“

Tatsächlich war etwas wie ein rosa Fleck in dem dichten Grau des Gerümpels zu sehen. Nun bückte ich mich und begann in dem Gerümpel herumzuwühlen. Es gelang mir, eine graue Katze herauszufischen, zwei kleine Hunde, Schuhe, Kochgeschirr und eine Henne, die aufgeschreckt flüchtete. Von Kindern keine Spur.

„Doch, doch“, sagte Margherita, „sie müssen da sein, ich hab’ sie gestern abend zusammen mit der Henne hineingetan. Trink indessen das Ei aus, Giovannino, es ist noch warm, gerade gelegt.“

Ich trank das Ei aus, dann nahm ich meine Nachforschungen wieder auf, wobei ich mich eines kleinen Spatens bediente; endlich entdeckte ich, als ich einen blauen Fetzen hochhob. etwas Rosiges. „Das ist Carlotta, Giovannino“, sagte die Frau, die schon einmal für eine Erhöhung der Familienmitgliederzahl gesorgt hatte. „Aber stör sie nicht, sie schläft.“

Ich hatte eine Tochter! Aber sie schlief. Und ich störte sie nicht. „Albertino wird im Stall sein“, sagte Margherita. Wir gingen in den Stall. Ich sah eine große Kuh, trat an sie heran, fand unter der Kuh ein Kälbchen, das trank, und an der nächsten Zitze Albertino. „Was für ein Bild!“ flüsterte Margherita. Und sie rief Albertino. „Kommst du nicht Pappi begrüßen?“

„Mmmmuuh!“ antwortete Albertino.

Er hatte das Muhen gelernt und das Sprechen verlernt. Wenn man ihm einen roten Fetzen vorhielt, tat er, als stieße er mit den Hörnern.

Als ich ihn nach Mailand brachte, muhte er sechs Tage hindurch, weil er noch die Kuh und das Kalb haben wollte.

„Du hättest ihm wenigstens das Kalb mitnehmen können“, sagte Margherita schlicht. „Sie sind miteinander aufgewachsen, sie lieben einander wie Brüder...“

Ich brachte meinen ersten Artikel in die Redaktion des Nachmittagsblattes, das mich zur Mitarbeit eingeladen hatte. Er war mit größtmöglichem Charme geschrieben und hatte mich viel Mühe gekostet. Selbstsicher überreichte ich ihn dem Chefredakteur. »Schwach“, sagte der Chefredakteur und gab mir das Manuskript zurück. „So geht’s nicht. Mach das interessanter, bewegter!“

»Es ist schwierig, ein nachdenkliches Feuilleton bewegter zu machen.“

„Wer redet denn vom Feuilleton!“ rief der Chefredakteur. „Das Feuilleton interessiert mich nicht, ich habe es nicht einmal gelesen. Mich interessiert der Titel. Ich spreche einzig und allein vom Titel.“ Es handelte sich um eine Plauderei, die gerade aktuell war: sie erzählte von einem kleinen Knaben, der sich in seinem Bettchen herumwälzte und ungeduldig auf den Morgen wartete, um nachschauen zu können, was ihm die Befana1 gebracht hatte. Und deshalb hatte ich die Überschrift „Der Strumpf unterm Kamin“ ganz natürlich gefunden. Allerdings war der Titel ein wenig schwach; und ich verstärkte ihn also: „Heute nacht schläft Gigetto nicht.“

„Besser“, sagte der Chefredakteur. „Aber wir haben’s noch nicht ganz; man muß das Interesse des Lesers wecken. Stachle seine Neugierde an!“

Für solche Zwecke ist die Frageform empfehlenswert; daher änderte ich die Überschrift ohne große Mühe: „Warum wacht Gigetto heute nacht?“

„Gut“, meinte der Chefredakteur. Aber dann dachte er nach und schüttelte den Kopf. Wenn man „Gigetto“ sagte, würden die Leute gleich begreifen, daß es sich um etwas Leichtes handle. Man muß ungewiß und mysteriös bleiben.

Ich hängte der Überschrift ein geheimnisvolles Mäntelchen um: „Einer wacht heute nacht.“

„Stinkt nach Literatur“, sagte der Chefredakteur. „Ändere den Stil, mach irgend was Reportagemäßiges, Realistisches — das ist modern. Blättere ein paar Nummern durch und passe dich dem Zeitungsstil an.“

Ich blätterte ein paar Nummern durch und versuchte mich anzupassen. Dann hatte ich drei neue Titel vorzuschlagen: „Schlafen oder nicht schlafen?“ — „Bam, bam, bam, schon drei Uhr, aber er ist hartnäckig!“ — „Und er wartet und wartet, aber die verdammte Sonne geht nicht auf!“

„Die Leute lieben die starken Sachen“, sagte der Chefredakteur; man müsse übertreiben, aber nicht witzeln. „Dramatisieren, nicht ironisieren!“

Ich dramatisierte und bekam fünf interessante Titel heraus: „Was geschieht im Nebenzimmer?“ — „Hört man Schritte im Dunkel?“ — „Wer ist die geheimnisvolle Alte, die in der Nacht herumstreicht?“ — „Die nächtliche Alte.“ — „Nächtliches Zwischenspiel mit einer alten Dame.“

„Jetzt haut’s hin!“ rief der Chefredakteur. „Setze alles auf die Alte; Alte ziehen immer im Lokalteil!“

Nun machte er sich selbst an die Arbeit und las mir schließlich das Ergebnis vor: „Eine Alte schreit in der Nacht!“ — „777, Achtung! Greisin schreit in der Pacini-Straße!“ — „Zu Hilfe, man erwürgt die Alte im fünften Stock!“ — „Hilfe! Sie schlitzen der Alten den Bauch auf, und das Blut fließt rot über die Treppen und dampft wie Punsch!“

Er stellte fest, daß der letzte der beste sei, und fragte mich, ob er mir gefalle.

„Sehr“, antwortete ich, „aber in meinem Feuilleton ist von keinem Verbrechen die Rede, sondern von einem Kind, das sich in Erwartung der Befana im Bett herumwälzt.“

„Ausgezeichnet!“ rief der Chefredakteur. „Das Kind wacht in Erwartung der Befana — da hört es plötzlich einen Schrei: im Nebenhaus haben sie eine Alte erwürgt — und das Kind glaubt nun, es handle sich um die alte Befana, weint verzweifelt und verbirgt das Gesicht im Kopfkissen. Das änderst du in zehn Minuten, und dann schau, daß du auch noch einen packenden Schluß findest.“

„Und die erwürgte Alte? Soll ich ein Verbrechen erfinden?“

„Wozu erfinden? Du mußt ja den Ort nicht genau angeben; abwarten, ob heute nacht in Mailand eine Alte erwürgt wird oder nicht!“

Tatsächlich wurde in dieser Nacht eine Alte erwürgt; und wirklich hörte auch irgendein Gigino ihren Schrei und dachte, man habe die Befana ermordet. Doch diese Methode der vorwegnehmenden Berichterstattung sagt mir nicht zu. Zu meiner Zeit ließ man eine Tat erst geschehen und berichtete nachher über sie. Und man ließ nicht zu, daß einer schönen Überschrift zuliebe alte Frauen erwürgt wurden.