Der Schutzenge

Giacinto hat es zu arg getrieben.

Giacinto ist mein Schutzengel; Er mag vom beruflichen Standpunkt ein ausgezeichneter Schutzengel sein, aber privat hat er einen Sack voll Fehlern. Er ist neugierig; ich brauche nur den Kopf plötzlich zu wenden, wenn ich einen Brief schreibe, um Giacinto dabei zu überraschen, daß er, über meine Schultern gebeugt, die Worte zu lesen versucht, die aus meiner Feder kommen.

Er ist auch eitel und vergnügungssüchtig.

Wenn ich bisher nicht von Giacinto (mein Schutzengel behauptet, so zu heißen) gesprochen habe, geschah es aus Zartgefühl, aus Rücksicht auf die verdienstvolle Gilde der Schutzengel im allgemeinen.

Doch nun hat es Giacinto zu arg getrieben, und eine weitere Zurückhaltung meinerseits könnte als Schwäche ausgelegt werden. Giacinto, sagte ich, hat einen Sack voller Fehler. Er ist neugierig, eitel und vergnügungssüchtig.

Als ich mich einmal unversehens umdrehte, während ich auf die Tasten meiner Schreibmaschine klopfte, bemerkte ich in meinem Rücken einen unbekannten Engel. Giacinto war in eigenen Angelegenheiten außer Haus gegangen und hatte zum Schutzengel der Hausbesorgerin gesagt: „Schau auf meinen auch ein bißchen, ich komme gleich wieder.“

Und ich halte ganz und gar nichts davon, vom Schutzengel der Hausbesorgerin beschirmt zu werden.

War das nicht rücksichtslos von Giacinto?

Giacinto ist auch streitsüchtig; ich habe ihn dabei überrascht, wie er mit dem Schutzengel meines Chefs gestritten hat. Und so etwas kann ich nicht zulassen. Giacinto darf nicht verraten, was ich über den Chef denke, wenn der Chef mich schlecht behandelt.

Außerdem ist er frech. Einmal habe ich ihm eine feierliche Strafpredigt gehalten und habe ihm klar und rundheraus gesagt, wenn er sich nicht zusammennehme, würde ich ihn entlassen und einen anderen Schutzengel engagieren.

„Das wäre ganz etwas Neues“, antwortete Giacinto lächelnd. „Da wollen wir uns erkundigen, was die Gewerkschaft über die Angelegenheit denkt.“

Das sind keine Antworten für einen Schutzengel!

Daß Giacinto ein Schlingel ist, finde nicht nur ich; Camillo und Roberto haben dasselbe behauptet. Und bei ihnen handelt es sich um zwei hochachtbare Schutzengel.

Eines Nachts wachte ich mit einem Ruck auf. Irgendwer raschelte neben mir.

Ich blinzelte. Und im schwachen Schimmer des Nachtlichtes sah ich am Fußende des Bettes drei Herren in langem weißem Hemd: Giacinto mit Camillo, dem Schutzengel der süßen Frau meines vierten Stocks, und Roberto, dem Schutzengel unseres rosa Sprößlings. Sie schwatzten, und Giacinto führte natürlich das. große Wort. So erfuhr ich etwas Neues: wenn ein Schutzbefohlener stirbt, wechselt der Schutzengel den Herrn so wie ein Chauffeur. Denn Giacinto sagte: „Mein letzter war viel besser als dieser; ein ernster Bursche, ein Notar. Noch nie ist mir einer untergekommen, der für die Zeitungen schmiert. Das ist wenig ehrenvoll für mich, der schließlich von 1805 bis 1885 bei Victor Hugo angestellt war.“

„Du hast also auch im Ausland gearbeitet?“ fragte Camillo.

„Ja“, erklärte Giacinto. „Ich kann Französisch, Spanisch und Rumänisch perfekt.“

Der Engel meines Kindes schüttelte den Kopf. „Du kannst sicher sein, daß mein Kleiner nicht den Beruf seines Vaters ausüben wird!“

„Und was wirst du ihn werden lassen?“ erkundigte sich der Engel meiner Gefährtin, neugierig wie seine Schutzbefohlene.

„Ich weiß nicht“, antwortete der Engel meines Kindes. „Aber ehe ich ihn für Zeitungen arbeiten lasse, mach’ ich einen Drechsler aus ihm.“

Giacinto begann zu lachen. „Wenn er so ein Starrkopf ist wie sein Vater, dann wird er für die Zeitungen schmieren, das garantiere ich dir. Ich wollte aus ihm einen Schiffsingenieur machen, und schau, was dabei herausgekommen ist.“

„Und seine Mutter, was ist das für eine Type? Macht sie dir viel Scherereien?“ fragte der Engel meines Kindes.

„Gott behüte! Wenn man für Lukrezia Borgia Katharina von Medici und Mathilde von Canossa gearbeitet hat, wie ich, was gibt’s da für Scherereien bei einer solchen Person? Der einzige Jammer ist, daß sie sich vor den Alarmen fürchtet, und ich sage dir, ich muß höllisch dazuschauen, daß sie nicht mit dem Kopf gegen die Mauer rennt oder die Treppen hinunterfällt, wenn sie in den Keller geht.“

„Ich gehe nie in den Keller“, sagte Giacinto unverschämt. „Ich bleibe lieber im Bett.“

„Du solltest deinen Beruf ein wenig ernster nehmen! Wenn ihm dann ein Unglück zustößt, bin ich der Leidtragende!“ rief der Engel meiner Gefährtin höchst verärgert.

„Und ich bin sogar bereit, dir den Hals umzudrehen, wenn du diese Leichtsinnigkeiten nicht einstellst!“ fügte der Engel meines Kindes hinzu.

Giacinto begann zu brummen: „Auch schon was, zwei gegen einen!“

„Bildet sich eine Menge ein, weil er im Ausland gearbeitet hat!“ schrie der Engel meiner Gattin drohend. „Ich habe für Mathilde von Canossa gearbeitet, und wenn ich hinuntergehe, kannst auch du hinuntergehen, denn eine einzige Mathilde von Canossa steckt fünfzehn von deinen Victor Hugos in den Sack!“

Giacinto senkte den Kopf und setzte sich schmollend auf den Schrank. Der Engel meines Kindes ging hinaus; einen Augenblick später kam er zurück. „Heute nacht kommen sie nicht mehr.“

„Schade!“ seufzte Giacinto, aber da packte ihn Camillo am Hemdkragen. „Du bist ein widerlicher Bursche!“ rief er.

„Du bist schlechter als ein Mensch!“ fügte Roberto hinzu.

E

s ist also nicht nur mein persönlicher Eindruck, daß Giacinto ein Schlingel ist. Tüchtig muß er ja sein, denn Leute wie Victor Hugo vertraut man nicht dem ersten besten an. Doch das ändert die Lage nicht.

Der Jammer ist aber vor allem, daß er Camillo und Roberto, diese ausgezeichneten Schutzengel, zu verderben trachtet. Und das darf nicht geschehen.

Es ist noch nicht lange her. Ich wollte im besten Lehnstuhl des Hauses einen Augenblick ausruhen, um Radio zu hören.

Die süße Frau, die durch ein kühnes Manöver aus einem Jüngling einen lebenslänglich Gebundenen gemacht hat, war zusammen mit ihrem schreienden Nachwuchs zu Bett gegangen.

Ich war allein, dem Radio entströmten schmachtende Weisen, und der Lehnstuhl war, wenn ihm auch nichts entströmte, bequem.

Es war also meine Pflicht als Bürger und Kunde, mit einem holden Lächeln auf den Lippen und der brennenden Zigarette zwischen Mittel- und Zeigefinger der linken Hand einzuschlafen, indem ich es so einrichtete, daß die Glut, wenn sie mit meinem linken Hosenbein in Berührung kam, langsam, aber sicher in besagtem Kleidungsstück ein Loch von beachtlichem Durchmesser erzeugen konnte. Nachdem die hierzu nötige Zeit vergangen war und die Glut in direkte Berührung mit der Oberfläche meines Oberschenkels kam, erwachte ich. Dem Radio entströmten eigenartige Geräusche.

Und das war auch nicht weiter verwunderlich, denn an den Knöpfen des Apparats hantierten zwei sonderbare Burschen mit weißem Hemd und blauen Flügeln. Ich erkannte sie auch sofort, obwohl ich nur ihre Schultern sah; der eine war Giacinto, mein Schutzengel, und der andere war Camillo, der Schutzengel Margheritas.

Was hatten die beiden Schutzengel wohl mit meinem alten Fünf-Röhren-Empfänger im Sinn?

Ganz einfach: sie suchten Radio London.

Ich stieß einen Schrei aus, und die beiden Schutzengel drehten sich mit einem Ruck herum.

„Wollt ihr mich kompromittieren?“ sagte ich streng.

Camillo senkte verlegen das Haupt, Giacinto hingegen fing schlechtgelaunt zu brummen an.

„Es wird so weit kommen, daß ich mir einen anderen Schutzengel suche!“ rief ich; und Giacinto grinste spöttisch. Der Unverschämte nützt es aus, daß man heutzutage kaum unbeschäftigte Schutzengel findet. Aber ich bin zu allem entschlossen und teilte ihm das mit: „Da gibt es nichts zu brummen, mein Lieber; ich komme auch sehr gut ohne Schutzengel aus.“

Giacinto zuckte die Flügel, dabei lächelte er ironisch, und das ärgerte mich.

„Ich habe mich immer allein zurechtgefunden!“ rief ich und stemmte hie Hände in die Hüften.

„Als Sie zwei Jahre alt waren — wenn ich da nicht gewesen wäre, wären Sie in die Grube im Garten gefallen“, antwortete Giacinto frech. „Ich habe nie ein unvernünftigeres zweijähriges Kind gesehen.“

Ich hielt ihm verdrießlich entgegen, es sei leicht, sich einem zweijährigen Kind überlegen zu fühlen.

„Na schön“, sagte Giacinto. „Wie alt waren Sie im Jahre 1937? Vierunddreißig Jahre, wenn ich nicht irre!“

Das gab ich zu.

„Und am 5. August 1937, um 5 Uhr 30 früh, wer hat da auf Sie achtgegeben, als Sie am Volant Ihres Autos eingeschlafen waren und drauf und dran waren, im Kanal von Pavia zu versinken?“

„Und wer hat es zugelassen, daß ich einschlief?“ replizierte ich. „Wer hat denn, statt mich nach einer arbeitsreichen Nacht...“

„Nach einer Nacht mit Tanz im Freien und Spirituosen“, unterbrach Giacinto.

„Wer hat denn, statt mich zu behüten, auf dem Rücksitz des Autos friedlich geschlummert? Ich habe nicht umsonst einen Rückspiegel und zwei Augen, werter junger Mann! Ich habe Sie gesehen, Herr Giacinto!“

„Ich kenne das Reglement! Der Schutzengel darf nicht vorgreifen, er darf nur im Ernstfall einschreiten. Artikel drei, zweiter Absatz.“

„Ach! Und warum bist du nicht im Ernstfall eingeschritten, als ich im Begriff war, mich zu verheiraten, sondern hast mich in den Ehestand eingehen lassen?“

Nun trat aber Camillo, Margheritas Schutzengel, aus seiner Reserve hervor und erklärte kategorisch: „Meine Schutzbefohlene stellt doch keine Gefahr dar, geehrter Herr! Ebensogut könnte sie mir vorwerfen, daß ich sie nicht energisch vor Ihnen bewahrt habe!“

Ich wollte ihm schon antworten, daß ich seine Schutzbefohlene besser kenne als er, doch plötzlich hörte man aus dem Schlafzimmer einen Plumps und einen Schrei.

„Das Kind!“ rief ich.

„Nein“, erklärte Giacinto, der schnell wie der Blitz gegangen und wiedergekommen war, „die süße Frau Ihres vierten Stocks, wie Sie sie nennen, ist aus dem Bett gefallen.“

Camillo brummte, daß man die Person nicht einen Augenblick allein lassen könne, ohne daß sie etwas anstellte, und entfernte sich.

Aber wenn ich Giacinto vorgeworfen habe, daß er mich nicht vor Margherita bewahrt hat, war das sehr dumm von mir. Margherita, das süße Geschöpf, das der Himmel mit vollen Händen auf meinen Weg gestreut hat, hat niemals eine Gefahr für mich gebildet.

Und nur um Giacinto eine Anklage ins Gesicht zu schleudern, habe ich abscheulich gelogen.

Das rechtfertigt jedoch nicht die Reaktion Camillos. Camillo fand ja geradezu, daß ich eine Gefahr für Margherita bilde. Das ist respektlos, das ist unverschämt! Nicht genug damit: Camillo, bis vor kurzem ein gewissenhafter, pünktlicher, pedantischer Schutzengel, dieser Camillo läßt Margherita nicht nur unbehütet, sondern äußert sich auch noch wenig rücksichtsvoll über sie.

Es ist Giacinto gelungen, auch noch Camillo zu verderben. Dann wird die Reihe an Roberto kommen. Und das wäre der Gipfel! Ich kann zulassen, daß Giacinto sich nicht um mich kümmert, ich kann zulassen, daß Camillo sich nicht um Margherita kümmert, aber ich könnte niemals zulassen, daß Roberto sich nicht um mein Kind kümmert.

Das Maß ist voll. Es muß etwas geschehen!

Ich habe ein Inserat in die Zeitung gegeben: „Vierunddreißig-jähriger Berufstätiger, gute Erscheinung, moralisch, mit Familie, einzigem Sohn, Radio, warmem Bad, sucht seriösen, fleißigen, zärtlichen Schutzengel. Nur mit Namensangabe und detaillierter Angabe der früheren Dienstplätze...“

Vierundzwanzig Stunden später bekam ich schon zwei Offerten, die erste von einem gewissen Gerolamo, der von 1835 bis 1910 bei Mark Twain gearbeitet hat und seither stellungslos sei, die zweite von einem gewissen Giuseppe, der immer bei Beamten und Handwerkern tätig war.

Wenn ich keine weiteren mehr bekomme, werde ich Giuseppe engagieren; er dürfte gut zu mir passen. Von alldem darf Margherita jedoch nichts wissen.

Margherita darf nur Dinge wissen, die sie lächeln machen, während ihre großen schwarzen Augen sagen: „Giovannino, Giovannino...“