Der Strohwitwer

Es sind jetzt gerade drei Monate vergangen seit dem Abend, an dem Freund Giuseppe atemlos ins Zimmer trat. Vorher hatte er angerufen. Es fehlte eine halbe Stunde auf Mitternacht.

„Warte auf mich; halte die Flurtür und die Tür deines Arbeitszimmers offen. Ich habe keine Zeit zu verlieren!“

Der Ton von Giuseppes Worten war eigentümlich feierlich. Wir hielten die Türen weit offen. Das Zimmermädchen postierte sich vor dem Kleiderhaken und hielt die Arme schon ausgestreckt, um den Hut zu ergreifen. Ich zog in Gedanken eine Linie, die durch die beiden Türen ging, und stellte an ihrem Ende einen Lehnstuhl auf, damit sich Giuseppe in möglichst kurzer Zeit hinsetzen könne. Ich trat hinter den Lehnstuhl, damit er nicht rutsche. Margherita Placierte sich seitlich davon mit einem Glas frischer Orangeade. Nach einer Viertelstunde kam Giuseppe angerannt. Hut, Lehnstuhl, Orangeade.

Nachdem er die Ruhe in seinen Atmungsorganen einigermaßen wiederhergestellt hatte, bedeutete uns Giuseppe, Türen und Fenster zu schließen, und sprach leise, mit äußerster Vorsicht: „Ich komme eben im Auto von der Villa Bibibi. Vor einer Stunde haben wir zufällig eine ausländische Radiostation gehört. Gigi radebrecht ein bißchen — Englisch und hat alles verstanden; sie haben gesagt, unser Eintritt in den Krieg sei nunmehr sicher! Ich bin auf und davon — ich habe mir nicht einmal Zeit genommen, um eine Tasse Suppe zu trinken. Jetzt laufe ich; ich muß meine Freunde benachrichtigen.“ Giuseppe ging fort, nachdem er mich ermahnt hatte, verschwiegen zu sein; und Margherita schaute mir sehr besorgt in die Augen. „Das ist schrecklich, Giovannino!“ rief sie endlich, mit dem Ausdruck der düstersten Verzweiflung im Gesicht. „Es ist Krieg.“

Ich sprach mit äußerster Sanftmut: „Margherita, versuche, bitte, mir möglichst objektiv zuzuhören. Du hast heute, am 10. Juni 1940, hier, in diesem Lehnstuhl sitzend, die historische Radiorede gehört, mit der der Welt unser Eintreten in den Krieg verkündet wurde. Du hast die Rede gelesen, als uns das Mädchen die Extraausgabe des ,Ambrosiano’ gebracht hatte. Bis vor zehn Minuten hat dir der Krieg keine Sorgen gemacht. Da kommt Giuseppe, sagt dir das, was du seit fast sechs Stunden sehr gut wußtest, und nun macht dir der Krieg Sorgen. Warum, Margherita? Sind vielleicht zwei Frauen in dir? Eine offizielle und eine offiziöse? Bist du ein Geschöpf, das zugleich aus Ja und Nein besteht? Oder ist der Krieg, von dem vor einigen Stunden gesprochen wurde, nicht derselbe wie der, von dem Giuseppe gesprochen hat? Gibt es für dich zwei Kriege? Genügt einer nicht?“

Das süße Geschöpf, das Gott auf meinen Weg gestreut hat, schüttelte leise den Kopf. „Im Radio oder in den Zeitungen ist der Krieg etwas anderes, als wenn Giuseppe davon erzählt. Giovannino, was wird aus uns werden?“

Margherita ging, die schlafenden Augen ihres Sprößlings zu betrachten, und ich blieb lange in meinem Arbeitszimmer, um nachzudenken.

Am nächsten Tag verstaute ich um 15 Uhr 30 in einem Abteil zweiter Klasse: eine Margherita, einen Sohn, vier normale Reisetaschen und eine riesige leere Reisetasche.

Kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, erklärte mir Margherita mit leiser Stimme das Geheimnis der leeren Reisetasche.

„Ich habe dich nicht aus Launenhaftigkeit gebeten, sie zu kaufen, und eine Reisetasche gehört auch nicht zu den Dingen, die die Eitelkeit einer Frau reizen. Ich wollte sie nur mitnehmen, weil es auf dem Land noch alles gibt; ich werde sie bei meiner Rückkehr mit allen guten Gaben Gottes angefüllt zurückbringen.“

Ich billigte Margheritas Projekt. Im Geist aber schrieb ich auf die Seite meines Rechnungsbuches, die für unnütze Ausgaben reserviert ist: „Große Reisetasche einhundertzwanzig Lire.“

Die letzte Eintragung war noch ganz frisch.

Es war genau der 31. Mai, als Margherita sehr ernst zu mir sagte: „Giovannino, von morgen an ist die Seife rationiert. Es wäre eine Dummheit, diesen letzten Tag des freien Verkaufs nicht auszunützen. Machen wir uns also auf den Weg, jeder für sich. Zehn Stück Seife treibst du auf, zwanzig ich, und alles ist in Ordnung.“ Kurz darauf gingen wir fort, jeder für sich.

Ich hasse Verlegenheiten, besonders wenn ich es bin, der in Verlegenheit kommt.

Ich dachte, daß wohl Tausende von Leuten dieselben Erwägungen angestellt haben dürften wie die sympathische Frau, die ihren Vornamen und meinen Zunamen führt.

Ich legte mir also schnell eine schrittweise, indirekte Methode zurecht, betrat einen Laden und verlangte zunächst etwas ohne den geringsten Zusammenhang mit Seife oder mit Reinigung überhaupt. „Ich möchte eine Dose Erdbeermarmelade.“

Für den Anfang ging es wirklich prächtig. Ich verlangte hierauf ein Paket Biskuit, ein Glas Honig, dann ein Päckchen Kaffeezusatz, ein Knäuel Bindfaden, eine Dose Dörrpflaumen, zwei Dosen Schuhwichse, eine Wäschebürste. Das Manöver der Einkreisung war begonnen. Ich verlangte nun eine Zahnbürste, ein Kilo Soda, eine Flasche Fleckwasser und eine Tube Rasiercreme. Damit war die Aktion großartig vorbereitet; es handelte sich nun nur noch darum, taktisch auszunützen, was strategisch erreicht worden war. Ich nahm daher eine nachdenkliche Miene an und murmelte: „Ich wollte doch noch irgend etwas... Wenn ich mich bloß erinnern könnte!... Macht nichts, ich werde wieder einmal vorbeikommen...“ Dann, während der Verkäufer die Rechnung machte, rief ich befriedigt aus: „Jetzt hab’ ich’s! Ich würde noch ein wenig Seife brauchen.“

„Tut mir leid, wir haben keine mehr“, antwortete der Verkäufer untröstlich.

Ich bezahlte, gab meine Adresse an und ging fort.

Ich verlor den Mut nicht.

Im nächsten Laden ging das Manöver ausgezeichnet bis zur Rasiercreme; als wir zur Rechnung und damit zur Seife kamen, wieder ein untröstlicher Blick: „Tut mir leid, wir haben keine mehr!“

Ich tat, was ich konnte, und suchte noch etliche Läden auf. Aber dann hatte ich auf einmal nur mehr zwei Lire in der Tasche und ging traurig nach Hause zurück. Ohne die geringste Seife.

Aber was machte das? Die Person, die mich zum Gatten und Vater gemacht hat, würde wohl ein zureichendes Quantum Seife aufgetrieben haben. Die teure Frau war schon zu Hause und im Begriff, Pakete und Päckchen auszuwickeln.

»Ich habe unsere Vorräte ergänzt“, erklärte sie mir. „Marmelade, Biskuit, Honig, Kaffeezusatz, Bindfaden, Pflaumen, Schuhwichse, Zahnbürsten, Bürsten, Soda und Fleckwasser. Ich habe dir auch einige Tuben Rasiercreme mitgebracht.“

Hierauf sprach man nicht mehr von Reinigungsmitteln im allgemeinen und von Seife im besonderen. Ich habe die Reisetasche nicht ohne Überlegung in die Rubrik der unnützen Ausgaben geschrieben. Ich bin sicher, daß nach Margheritas Rückkehr von den guten Gaben Gottes keine Rede mehr sein wird. Vielleicht wird nicht einmal mehr von Reisetaschen die Rede sein; mit Reisetaschen habe ich kein großes Glück bei Margherita.

Bis Codogno war die Reise angenehm. In Codogno stieg jedoch eine Frau ein und besetzte den einzigen frei gebliebenen Platz in unserem Abteil.

„Gestern abend haben sie Mailand bombardiert!“ verkündete sie, ehe sie sich ordentlich hingesetzt hatte.

„Gnädige Frau“, belehrte ich sie, „Sie befinden sich im Irrtum. Wir kommen alle aus Mailand und wissen von nichts.“

„Das hat nichts zu bedeuten“, erklärte die Frau. „Ich komme ja auch von Codogno und weiß ganz und gar nicht, ob man diese Nacht Hühner gestohlen hat oder nicht. Es genügt nicht, an einem Ort zu leben, um alles zu wissen, was dort geschieht. Es könnte sehr gut der Fall sein, daß sie sogar fünfhundert Hühner gestohlen haben. Wie soll man davon wissen, wenn niemand etwas sagt?

„Gnädige Frau“, warf ich ein, „es muß einem nicht eigens mitgeteilt werden, wenn es sich um Bombardierungen handelt. Die Bomben machen Lärm.“

„Machen Hühner keinen Lärm?“ lachte die Frau.

„Es kann recht gut sein, daß sie Mailand bombardiert haben“, bemerkte Margherita. „Ich hab’ doch gegen zwei Uhr etwas wie Einschläge aus der Gegend von Lambrate gehört.“

„Margherita“, unterbrach ich sie, „seit drei Jahren hören wir an jedem nebligen Abend die Sprengungen beim Bahnbau.“

„In Juninächten gibt es keinen Nebel“, versetzte ironisch ein älterer Herr.

Der Herr beim Fenster lachte geräuschvoll.

Ich stand auf und ging zum Fenster, um mir die Lombardische Landschaft anzusehen.

Als wir nach ein paar Stunden in P. das Gepäck vom Taxi abluden und Frau Flaminia uns mit ausgebreiteten Armen entgegenkam, sagte Margherita nicht einmal „Guten Tag“. Sie fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Wir — sind durch ein Wunder gerettet!... Mailand bombardiert!... Was für eine Nacht, was für eine Nacht!“

Juni, Juli, August. Neunzig Tage, fünfhundert Zeitungen. Besichtigung der veränderten Stadt.

Die im Verkehr verbliebenen Autos mit ihren weißbemalten Kotflügeln erinnern an dicke Frauen, die ihre Röcke aufheben, um eine Furt zu durchschreiten, und dabei die weiße Unterwäsche zeigen.

Die anderen schlummern in den Garagen, wo es mehr nach Kleiderablage als nach Benzin riecht. Es ist nicht sehr ruhmvoll: auch die Polsterung eines Autos, sogar eines Achtzylinders, ist ohne Naphthalin eine Beute der Motten. Die Autos sind mit gelbem Papier oder mit schmutzigen Decken zugedeckt; jetzt fürchten sie sogar den Staub. Kein Herzklopfen erschüttert sie, auch wenn man auf die wichtigsten Knöpfe drückt; man hat ihnen das Herz genommen. Ihre Batterien lagern in einer Kammer, ein Krankenwärter fühlt ihnen dann und wann den Puls, und wenn er merkt, daß er zu schwach ist, setzt er sein kompliziertes Armaturenbrett mit Drähten und Voltmetern in Gang und vollzieht die Bluttransfusion von der elektrischen Zentrale her.

Alles riecht hier nach Naphthalin wie in den Wohnungen der alten Frauen; die Autos tragen auch sonderbare Kopfbedeckungen, und sie sehen tatsächlich aus wie würdige alte Frauen im Lehnstuhl. „Man hört, daß viele mit einer Art Kohlensparherd an Stelle eines Benzinmotors herumfahren“, sagt ein schwarzer Sechssitzer.

„Es gibt auch welche mit Flaschen“, sagt ein blaues Kabriolett.

„Sie haben kein Schamgefühl mehr“, seufzt ein stahlgrauer Rennwagen.

Dann und wann kommt ein neuer Gast und berichtet von sonderbaren Abenteuern: „Ich bin gestern mit Methangas gefahren. Aber dann haben sie bemerkt, daß die Kanister mit Benzin statt mit Gas gefüllt waren.“

Ich ging mein Auto besuchen. Auf dem Sitzpolster schlief eine große Katze. Ein Glück, daß es noch zu irgend etwas gut ist! Mailand ist von Fahrrädern überflutet; und das ist recht und billig, denn für jedes stillgelegte Auto arbeiten wenigstens vier Räder. Alle haben ein Fahrrad, auch die, die es nicht benützen können. Sie begnügen sich damit, ihr Rad an der Lenkstange spazierenzuführen. An Sonntagen sind die Straßen mit Fahrrädern übersät. Ich habe bis Ende August widerstanden; dann bin ich der Versuchung erlegen und habe mein altes Fahrrad vom Dachboden herabgeholt. Welche Freude! Ich brachte es zum Mechaniker und ließ mir von ihm die Mäntel, die Schläuche, die Lenkstange, den Sattel, die Kotflügel, die Kette, die Pedale und die Gabel auswechseln; dann ließ ich es durch doppelte Übersetzung, elektrische Scheinwerferanlage, Winker, Kilometerzähler, Gepäckträger, Zeitungsbehälter, Kettenschutz, Rückstrahler, Vorderradbremse und Rücktritt, Kleiderschutz, automatische Glocke und diebstahlsicheres Schloß komplettieren, kaufte mir ein paar kurze Hosen, ein rot-gelbes Leibchen, eine weiße Mütze, eine Brille, Karten und Pläne, und begab mich auf die Reise. Die Unternehmung war ein bißchen gewaltig, aber ich schwor, um jeden Preis die einhundertzwanzig Kilometer zwischen Mailand und Margherita zu überwinden.

Ich muß gestehen, daß mich die Fahrt etliches Geld gekostet hat, denn sie hat drei Tage gedauert, die Hotels sind teuer, und ich habe für meinen und meines Fahrrades Transport von Piacenza bis Fidenza im Taxi 128 Lire ausgegeben; dafür bin ich aber frisch wie eine Rose bei Margherita angekommen, „Margherita, um dich zu besuchen, habe ich mit dem Rad zwölf Millionen Zentimeter Straße zurückgelegt. Ich bin noch ganz wacker, meinst du nicht?“

Juni, Juli, August, September, Oktober.

Am 5. November ist Margherita heimgekehrt, und es wurde mir von Augenzeugen versichert, daß sich die süße Gefährtin meiner sechshundertzehn Kubikmeter zum Zeichen des Entsetzens schon die Haare gerauft hatte, als der Eisenbahnzug kaum über die Po-Brücke gefahren war. Offensichtlich müssen einige Anzeichen von Unordnung, die ich in diesen fünf Monaten des Alleinseins in unseren Zimmern angerichtet hatte, bis in die Gegend um Piacenza gedrungen sein.

Drei Tage stieg ich über überschwemmte Fußböden, balancierte zwischen Leitern, auf deren obersten Sprossen die anerkannt robustesten Frauen des Bezirks standen, den Plafond kehrten und die Kabel der elektrischen Leitung reinigten. Bald war wieder alles auf seinem Platz. Auch die famose große Reisetasche.

„Es war eine wunderbare Idee, diese Reisetasche mitzunehmen“, erläuterte Margherita. „Während dieser Monate habe ich so viel für das Kind gekauft; wo hätte ich das alles hingetan, wenn ich die Reisetasche nicht gehabt hätte?“

Und ihre großen schwarzen Augen sagen: „Giovannino, Giovannino...“