Aus dem Leben eines Kunden
Der ruhige Beamte hatte dreißig Jahre lang auf die wenigst abenteuerliche Weise gelebt, die man sich vorstellen kann: Büro, Heim, Café, Kino, Sommerfrische, neue Tapeten im Vorzimmer, Mantel chemisch gereinigt, Erneuerung des Rundfunkabonnements. Dann geht der Beamte in den Krieg und erlebt in einer einzigen Woche tausendmal mehr, als er in den vorausgegangenen dreißig Jahren erlebt hatte.
Ähnlich geht es dem stillen Giovannino aus der Provinz, der eines schönen Apriltages im Jahre 1935 unversehens nach Mailand gekommen ist. Kaum zwei Jahre sind seither vergangen, und der schüchterne Giovannino, der im vorausgegangenen Kapitel einfach ein unbekanntes, unbedeutendes Sandkorn im Wirbelwind gewesen ist, kann der Welt erklären: „Ich bin jemand!“
Ich bin Kunde! Ich bin Kunde der städtischen Verkehrsbetriebe, ich bin Kunde der Staatsbahnen, der Post-, Telegraphen- und Telephondirektion, ich bin Kunde der Gas- und Elektrizitätswerke, ich bin Kunde einer Wohnung, ich bin schließlich und endlich Kunde von Margherita.
Margherita ist keine gewöhnliche Frau. Margherita ist eines von jenen süßen Geschöpfen, die ihr Leben opfern würden, nur um dem Gefährten, den Gott ihnen gegeben hat, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Während Margherita in ihrem Zimmer im Hotel blieb, um sich der Auslösung unseres Gepäcks zu widmen, gelang es mir in meiner Freizeit und in den Mittagspausen, die Wohnung ordentlich mit Möbeln auszustatten; ich richtete sie so ein, daß sich darin alle häuslichen Verrichtungen bequem abwickeln konnten, von der Zubereitung der Speisen bis zur Trockenreinigung von Woll- und Seidenstoffen.
Als mir alles vollkommen in Ordnung zu sein schien, klopfte ich eines Sonntagmorgens an Margheritas Zimmertür und setzte sie von der Tatsache in Kenntnis.
Margherita kam mit mir in die Wohnung. Sie sah sie zum erstenmal. denn Halbheiten seien ihr entsetzlich, versicherte sie. Margherita besichtigte alles mit höchster Aufmerksamkeit. Im Schlafzimmer studierte sie das Gewebe der Bettücher und Decken, sie versuchte, ob die Matratzen weich und federnd waren, sie zählte die Wäschestücke in der Kommode, sie klopfte mit den Knöcheln an den Schrank. Im Salon-Wohnzimmer prüfte sie die Politur der Möbel, sie beklopfte die Teller, um zu sehen, ob sie aus Porzellan seien, sie zog die Vorhänge hin und her, sie drehte an den Rollen der Rolläden. Im Vorzimmer hängte sie sich kurzerhand an den Kleiderrechen, um sich Gewißheit zu verschaffen, ob er gut befestigt sei oder nicht. In der Küche zählte sie alle Töpfe und Tiegel, kontrollierte die Kaffeemühle, ließ das Wasser laufen, zündete das Gas an, prüfte mit dem Finger die Schärfe des Reibeisens. Endlich maß sie den Kubikinhalt der Zimmer, um sich zu vergewissern, ob der Ofen groß genug sei. Endlich sagte sie: „Der eine Hahn dichtet nicht gut, und der Eierquirl fehlt. Aber ich heirate dich trotzdem.“
Das Heim ist die Grundlage des Lebens. Auch wenn man sich gezwungen sieht, zu Mittag nur einen Apfel zu essen, ist es doch etwas anderes, ob man diesen Apfel auf einer Bank im Park verzehrt oder an einem Tisch mit Tischtuch, Gläsern und Geschirr. Das Heim besitzt eine unbestreitbare moralische Kraft; in verzweifelten Fällen ist es das Floß, an das man sich bei einem Schiffbruch klammert, in Augenblicken der Freude stellt es das Podium dar, von dem herab ihr der Welt euer Glück verkünden könnt. In meinem persönlichen Fall bedeutet das Heim überdies einen Ort, wo der Bruder mit Sicherheit seinen Bruder suchen kann.
Wie ich schon angedeutet habe, als ich von meinem Elternhaus sprach, ist mein Bruder trotz seiner achtunddreißig Jahre ein junger Mann mit großen Ideen, ein feuriger und unruhiger Geist, unfähig, sich mit einem so wertvollen Entschluß endgültig abzufinden. Für ihn ist das Leben, was das Gebirge für den Bergsteiger ist: kaum hat er einen Gipfel erreicht, entdeckt er von oben einen anderen, früher nicht gekannten, der ihn schweigend herausfordert. Und er nimmt jede Herausforderung an. So kommt denn der leidenschaftliche junge Mann von Zeit zu Zeit in mein Haus gestürzt, um mir anzukündigen, daß er seinen Weg gefunden hat. Als ich ihn zum erstenmal bei mir sah, hatten wir gerade unser Heim eingeweiht. Er war nach reiflichen Erwägungen zu der Überzeugung gelangt, daß in der Versicherungsbranche viel zu machen sei, erklärte mir die Wichtigkeit und die Vorteile einer Lebensversicherung und veranlaßte mich ohne große Mühe zum Unterschreiben einer Police, die ich immer noch mit großer Regelmäßigkeit bezahle, heute, morgen...
Einen Monat später sah ich ihn wieder. Er war darauf gekommen, daß die Versicherungsbranche nichts für ihn war, und hatte entdeckt, daß der Ratenverkauf von nützlichen Apparaten, wie Staubsaugern, eine glänzende Karriere verbürge; er überredete mich zum Ankauf eines Staubsaugers, und ich unterschrieb einen entsprechenden Kontrakt.
Es verging ein Monat, da erschien mein Bruder wieder vor mir. Das Prinzip des Ratenverkaufs schien ihm immer noch bestechend, doch hatte er nun von den Staubsaugern keine sehr hohe Meinung mehr, da die elektrischen Eisschränke seinem Temperament besser entsprachen. Er schilderte beredt die Vorzüge dieser kleinen technischen Wunderwerke und ließ mich einen Vertrag über den Ankauf jenes mächtigen Eisschrankes unterschreiben, welchen ich nun auf dem Dachboden aufbewahre.
Dreißig Tage später klingelte der junge Mann wieder an meiner Tür. Er war nun erfüllt von ehrlichem Abscheu gegen jeglichen Handel und versicherte, daß für den Mann nur ein Weg zum Erfolg führe, der Sport. Er zog Jacke und Hemd aus und zeigte mir seinen mächtigen Brustkasten und die gewaltigen Bizepse: „Darf ein junger Mann von meinen Qualitäten auf die Triumphe verzichten, die ihm die Boxerkarriere bietet?“
Er erläuterte mir die intime Schönheit des professionell betriebenen Sports, und um mir seine Fähigkeiten zu zeigen, wollte er, ich solle mich in Verteidigungsstellung begeben und seinen linken Geraden parieren. Ich gestehe, daß mir dies mißlang und daß mein Gesicht drei Wochen lang nett geschwollen war. Nach einem Monat kam mein Bruder, durchdrungen von einer tiefen Verachtung für den Sport, der die Menschen in Unmenschen verwandle. Er war zu der Überzeugung gekommen, daß die Zahnkaries nicht nur eine Geißel der Menschheit ist, sondern zugleich auch eine Goldgrube sein kann; er hatte einen Abendkursus absolviert und fühlte sich nun wie ein kleiner Gott. Ich ließ mir von ihm mein ganzes Gebiß in Ordnung bringen, und das kam mich ein bißchen hoch zu stehen, weil mein Bruder fast einen Monat daran zu arbeiten hatte; dafür kann ich heute nicht einmal mehr ein Biskuit kauen.
In der Folgezeit sah ich den leidenschaftlichen jungen Mann wieder, als er die Zahnheilkunde verachten gelernt und die Überzeugung gewonnen hatte, daß die Verwertung von Glasscherben zur Quelle enormer Reichtümer werden könnte. Er hatte sich deshalb entschlossen, eine Aktiengesellschaft zu gründen, überredete mich, die ersten zwölf Aktienpakete zu kaufen, und stellte mir gewaltige Dividenden in Aussicht. Einen Monat darauf sah ich ihn als Gründer einer großen Zeitung, deren erster Abonnent ich selbstverständlich wurde, dann als Erbauer eines großen Wohnhauses, in dem ich eine Wohnung anzahlen mußte. Später versicherte er mir, daß man durch den Handel mit antiquarischen Büchern ein Vermögen erwerben könne, und übernahm alle Bände meiner Bibliothek in Kommission. Neulich stürmte mein Bruder in mein Haus und schwor, man dürfe im Leben keine Vorurteile haben und könne mit der Leichenbestattung spielend Millionen erwerben.
Da wurde ich unruhig und bat die Hausbesorgerin, wenn jemand mit einem Sarg erscheinen sollte, möge sie ihn wieder fortschicken. Es ist nur recht und billig, daß ich der einzige Kunde meines Bruders bin; aber alles hat seine Grenzen. Nichts ist ohne Schattenseiten, also auch das Heim nicht, das mir so viele Befriedigungen verschafft. Doch die Schattenseiten erscheinen unerheblich, wenn man bedenkt, daß mein Bruder trotz seiner achtunddreißig Jahre ein sympathischer und sehr tüchtiger junger Mann ist. Und außerdem hat er sich ja im Laufe von zwei Jahren nur an die dreißigmal sehen lassen.
Im ganzen bin ich vollkommen befriedigt, denn heute bin ich kein Sandkorn mehr in der Gewalt des mailändischen Wirbelwindes; ich bin ein Jemand.
Ich bin Kunde. Ich bin Konsument. Ich bin Publikum. Und wenn ich nach getaner Arbeit und nach Einnahme der Mahlzeit im Lehnstuhl des Salon-Arbeitszimmer-Empfangsraum-Wohnzimmers die Zeitung aufschlage und die lange Liste der Kinos und Theater anschaue oder die Schilderung des Projekts für den Mailänder Hafen lese, rufe ich befriedigt: „Das machen sie für mich, damit ich mich nach der Arbeit vergnüge, damit ich einen Sechstausend-Tonnen-Kreuzer anlegen sehen kann!“
Die süße Gefährtin meiner Tage und Mitternächte, der es nach zwei Jahren noch immer nicht gelungen ist, unsere Koffer zu holen, sieht mich dann lächelnd an, und ihre großen schwarzen Augen scheinen zu sagen: „Giovannino, Giovannino...“