Der Rohrdampfkessel
„Margherita“, sagte ich am nächsten Tag, „wir brauchen dringendst einen Posten für mich und eine Wohnung für uns.“
„Sehr richtig“, meinte Margherita. „Während ich mich dem Holen des Gepäcks widme, findest du heute vormittag eine Stellung. Nachmittags werden wir eine Wohnung finden, die deinem Einkommen angemessen ist. Man kann sich nicht für eine Wohnung entscheiden, ehe man seine finanziellen Möglichkeiten kennt.“
Ich hatte bei aller Bewunderung für ihre Klugheit doch einen Einwand. „Glaubst du nicht, daß es ein bißchen schwierig ist, in drei Stunden einen Posten zu finden?“
„Nein. Mailand hat ein vortreffliches Straßenbahnnetz. Leb wohl.“ Sie ging und ließ mich perplex zurück.
„Der Herr geht nicht aus?“ fragte der alte Kellner des Hotels.
„Ich möchte, aber ich weiß nicht, wohin“, erklärte ich ihm.
„Mailand ist interessant. Wenn Sie auf den Madonnina-Obelisk steigen, haben Sie eine großartige Fernsicht“, bedrängte mich der alte Kellner, dem ich sichtlich unsympathisch war.
„Schon möglich“, antwortete ich, „die Sache ist nur die, daß ich nicht wegen der Fernsicht nach Mailand gekommen bin, sondern um eine Stellung zu finden.“
„Das ist noch viel einfacher!“ rief er aus. „Dazu sind die Inserate im ,Corriere della Sera’ da. Sie breiten die Zeitung aus, nehmen einen Zündholzkopf und werfen ihn in die Luft. Die Annonce, auf die der Zündholzkopf fällt, hat das Schicksal für Sie einrücken lassen. Entschuldigen Sie bitte, man ruft mich.“ Ich warf einen Zündholzkopf in die Luft und las aufmerksam die Annonce, die nach Ansicht des Kellners das Schicksal für mich inseriert hatte:
„Rohrdampfkessel ,Cornovaglia’, sehr gut erhalten, sofort abzugeben. Anfragen an X, Y-Straße.“
„Wenn das Schicksal wünscht, daß meine Zukunft an einem Rohrdampfkessel hängt, werde ich den Rohrdampfkessel besichtigen!“ rief ich entschlossen aus. Zwanzig Minuten später war ich in der Y-Straße.
Ich betrat eine große industrielle Anlage. In der pompösen sechseckigen Vorhalle mit einer Fülle von Marmor und Schmiedeeisen musterte mich voll Interesse ein Türhüter, der hinter einem gewaltigen Tisch saß, und fragte dann: „Dampfkessel?“
„Dampfkessel!“ antwortete ich.
„Dampfkessel!“ sagte der Türhüter ins Telephon.
„Dampfkessel?“ erkundigte sich ein junger Mann, der kurz darauf aus einer Glastür kam und mich betrachtete.
„Dampfkessel!“ bestätigte ich und folgte ihm.
„Dampfkessel“, erklärte der junge Mann, der einen gestrengen Herrn an einem gewaltigen Schreibtisch auf mich aufmerksam machte.
Der gestrenge Herr erhob sich und schritt rfiir voran. Ich folgte ihm in einen großen Saal, an dessen Wand riesige eiserne Geräte befestigt waren, deren gigantische runde Deckel, die von der Wand herabdräuten, auf ihre zylindrische Form schließen ließen. „Dampfkessel“, erklärte der Herr, indem er auf den dritten Deckel wies.
Aufmerksam betrachtete ich das Gerät, berührte einige Hähne und öffnete eine gewaltige Sparherdtür.
„Vergangenes Jahr mit neuen Rohren versehen, ausgezeichneter Zustand, sechsunddreißigtausend bar“, erläuterte der Herr.
Ich nickte zum Zeichen der Billigung energisch mit dem Kopf. Meines Erachtens bedeuteten sechsunddreißigtausend Lire keinen übertrieben hohen Preis für ein so gewaltiges Ding, wenn man bedenkt, daß ein Aluminiumkochtopf auch seine vierzig Lire kostet. „In Ordnung“, bemerkte der gestrenge Herr abschließend.
In diesem Augenblick erschien, von dem jungen Angestellten begleitet, in höchster Eile ein sehr distinguierter, etwa fünfundvierzig-jähriger, graugekleideter Herr.
Er sah den Dampfkessel und rief: „Ich nehme ihn!“
„Bedaure sehr“, bemerkte der gestrenge Herr, „aber ich bin schon mit diesem Herrn handelseinig. Er nimmt ihn für sechsunddreißigtausend.“
„Vierzigtausend!“ rief der distinguierte Fünfundvierzigjährige aus, „vierzigtausend, aus, Schluß, aus!“
„Unsere Firma steht zu ihrem Wort“, erklärte der gestrenge Herr. Der Fünfundvierzigjährige betrachtete den Dampfkessel lange und voll Zorn, dann wendete er sich plötzlich an mich. „Achtunddreißigtausend!“ rief er aggressiv.
„Vierzigtausend“, antwortete ich, sobald ich der Sprache wieder mächtig war.
„Neununddreißig“, sagte der distinguierte Fünfundvierzigjährige abschließend und zog das Scheckbuch.
„Der Einfachheit halber“, mengte der gestrenge Herr sich ein, „zahlen Sie dem Herrn dreitausend in bar und geben uns über die sechsunddreißig einen Wechsel.“
Brüsk wurden mir drei Tausend-Lire-Noten überreicht. Ich grüßte höflich und ging.
Nach dem Verlassen der Anlage beschloß ich, das Ereignis zu feiern, indem ich mir ein Taxi nahm. Auf meinen Wink hielt ein Taxi vor mir. In diesem Augenblick rief hinter mir eine kräftige Stimme: „Taxi! Taxi!“
„Ich bin schon von diesem Herrn engagiert“, erklärte der Chauffeur und klappte das Fähnchen herunter.
„Verflucht!“ sagte die Stimme.
Ich drehte mich um und sah den distinguierten Fünfundvierzigjährigen, der soeben aus der Anlage gekommen war.
„Ah, um so besser!“ rief der Fünfundvierzigjährige erfreut, „Sie sind es! Stört es Sie, wenn wir die Fahrt gemeinsam machen? Sie fahren zum Domplatz?“
„Ja.“
Wir stiegen ins Taxi.
„Handeln Sie mit Dampfkesseln?“ fragte er.
„Nein, ich bin Journalist“, antwortete ich.
Der Fünfundvierzigjährige fand das ganz natürlich.
„Ein schöner Beruf!“ sagte er.
Auf dem Domplatz protestierte der distinguierte Fünfundvierzigjährige, als ich die Börse zog.
„Das fehlte noch! Sie haben mir den Vortritt gelassen, und da wollen Sie auch noch zahlen?! Nicht einmal im Traum! Kommen Sie, trinken wir einen in der Galerie!“
Ich durfte nicht einmal den „einen“ bezahlen; der distinguierte Fünfundvierzigjährige ging mit der Hand in der Tasche entschlossen an die Kasse.
„Verwünscht!“ rief er ärgerlich. „Ich sitze auf dem Trocknen. Ich hatte einige tausend Lire in der Tasche, aber ich habe ein unvorhergesehenes Geschäft abgeschlossen. Und jetzt komme ich nicht mehr rechtzeitig zur Bank!“
„Darf ich?“ fragte ich lächelnd und zog die dreitausend Lire. „Danke, tausend genügen. Ich werde sie Ihnen noch heute durch meinen Chauffeur ins Haus schicken. Ich habe noch nie einen so höflichen Mann wie Sie getroffen. Wenn Sie es eines Tages satt haben, den Journalisten zu spielen, kommen Sie zu mir; ich kann Ihnen jederzeit in meiner Buchhaltung einen Posten anbieten.“
„Ich habe es satt, den Journalisten zu spielen“, teilte ich ihm mit. „Wie Sie gesehen haben, wollte ich schon heute morgen etwas in der Rohrdampfkesselbranche unternehmen, um umzusatteln.“
Wir wurden schnell einig. Mein Gehalt war sehr anständig. „Morgen früh um neun erwarte ich Sie“, sagte der Industrielle beim Abschied.
„Ich werde pünktlich erscheinen“, versicherte ich.
Als ich Margherita zu Mittag mitteilte, daß ich eine Stellung gefunden hätte, wunderte sie sich nicht. Sie fand es ganz natürlich. „Geht in Ordnung; wir müssen also heute nur noch eine anständige kleine Wohnung finden.“
Eine Wohnung zu finden, sollte in Mailand nicht schwierig sein, denn es fehlt gewiß nicht an Häusern. Es kann Ihnen in Mailand sogar immer wieder passieren, daß Sie abends, wenn Sie von der Arbeit heimkehren, in der Straße, die Sie auswendig kennen, mit der Nase an ein Haus stoßen, das in der Früh noch nicht dagewesen ist.
Man muß in dieser außergewöhnlichen Stadt beim Gehen aufpassen. Die Häuser schießen unglaublich schnell in die Höhe; ist der Baugrund gekauft und von jedem Hindernis frei gemacht, markiert man mit Gips auf der Erde den genauen Plan. Aus dem Boden wächst sodann der Metallkäfig des Lifts, der alsbald funktioniert. Es ist alles bereit: Sie treten in die Liftkabine ein, drücken auf den Knopf des vierten, fünften oder sechsten Stockwerkes, steigen oben aus und suchen die Tür, die Sie interessiert. Während der Zeit, die der nützliche Mechanismus gebraucht hat, um hinaufzusteigen, ist das große Wohnhaus gebaut worden. Natürlich muß man in Betracht ziehen, daß die Aufzüge nicht übermäßig schnell gehen und daß sie, um zum Beispiel in den fünften Stock zu gelangen, immerhin zwei bis zweieinhalb Minuten brauchen.
Die großen Wohnhäuser bestehen jedoch fast immer aus Eigentumswohnungen, und die sind schon alle verkauft, bevor die Fundamente gelegt werden. Man geht in das Büro der Baugesellschaft, nimmt Einsicht in den Bauplan und trifft seine Wahl. Man sagt: „Mir gefällt diese Wohnung hier rechts neben dem Tintenfleck“, man macht dort ein Kreuz mit rotem Bleistift (nicht mit schwarzem, denn es ist oft vorgekommen, daß die Baumeister diese Zeichen auf ihre Art auslegten und mitten in einem großen Zimmer sonderbare, vollkommen überflüssige Wände errichteten), man bezahlt und geht.
Oft sieht man ehrenwerte Herren mit Verwandten und Freunden ihre künftigen Wohnungen besichtigen. Sie bleiben an einem Bretterverschlag stehen und zeigen mit dem Finger nach oben: „Siehst du diese Wolke? Dort ist die gute Stube. Weiter rechts der Lichtstreifen ist das Speisezimmer. Genau da, wo die Taube fliegt, ist das Schlafzimmer...“
Kein Nachmittag, ja nicht einmal eine Woche oder ein Monat reicht jedoch aus, um eine nette Wohnung zu finden, wenn nicht außerordentliche Umstände eintreten oder vernünftige Überlegung triumphiert. Ich ging zum „Entern“ einer Wohnung allein in die Stadt; Margherita mußte, wie sie mir erklärte, die Auslösung des Gepäcks vollenden. Ich beschloß, das allervernünftigste System anzuwenden, nämlich Mailand in Sektoren einzuteilen und dann systematisch in sämtliche Portierlogen zu treten und zu fragen: „Ist hier eine Wohnung zu vermieten?“
Ich verwarf den Gedanken, mich einer Agentur zu bedienen, aus der einfachen Überlegung heraus, daß ich dann nicht nur eine Wohnung, sondern auch noch eine Agentur hätte finden müssen. Ich entschloß mich also, die direkte Methode anzuwenden. Nachdem ich mir das Stadtviertel ausgesucht hatte, das mir am meisten zusagte, und das Haus bestimmt hatte, das die der Höhe meines Einkommens entsprechenden Eigenschaften besaß, trat ich ehrerbietig in die Portierloge.
„Verehrteste“, fragte ich die Hausbesorgerin höflich, „ist in diesem Haus eine Wohnung zu vermieten?“
„Wenn in einem Haus eine Wohnung frei ist, wird draußen ein Zettel angeheftet, der die Bevölkerung von dem Ereignis in Kenntnis setzt“, antwortete die Hausbesorgerin unfreundlich.
Ich legte ein Zwei-Lire-Stück auf den Tisch.
„Ich verstehe, Verehrteste“, entgegnete ich, „aber jede Regel hat ihre Ausnahme.“
„Zugegeben“, bestätigte die vortreffliche Dame, „trotzdem gibt es in diesem Haus keine freien Wohnungen. Wenigstens im Augenblick.“ Ich legte ein zweites Zwei-Lire-Stück neben die ersten zwei Lire. „Ich bin vollkommen im Bilde!“ rief ich aus. „Die Zukunft liegt in Gottes Hand. Immerhin halten Sie es nicht für ausgeschlossen, daß eine Wohnung in diesem Haus frei werden könnte.“
„Gewiß nicht“, sagte liebenswürdig die sympathische Funktionärin. „Ich halte es nicht für ausgeschlossen.“
Ich legte ein weiteres Zwei-Lire-Stück auf den Tisch. „Natürlich haben Sie sehr gute Gründe, wenn Sie das sagen“, bemerkte ich. „Sie sind nicht die Frau, die unüberlegte Worte ins Blaue redet.“ Gewiß nicht“, meinte die vortreffliche Dame und lächelte geschmeichelt. „Ich rede nicht in den Tag hinein. Wenn ich so spreche, so spreche ich so, weil ich weiß, was ich weiß. Meiner Meinung nach befinden sich zum Beispiel die Herrschaften vom vierten Stock in einer ganz bestimmten Situation.“
(Weiteres Geldstück.)
„Ich bewundere Ihren klaren Blick“, flüsterte ich. „Jedenfalls erlaube ich mir, Sie darauf hinzuweisen, daß wir, ich wie Sie, zwei ehrenhafte Leute sind. Ich gestehe Ihnen, daß die Situation der Herrschaften vom vierten Stock mein Interesse erregt.“
„Ich verstehe Sie“, seufzte die ausgezeichnete Person. „Das Studium der Menschheit bietet immer ein lebhaftes Interesse. Es geschieht also gewiß nicht aus Bosheit, sondern lediglich um der Wissenschaft willen, wenn ich Ihnen verrate, daß die Herrschaften für vier Quartale die Miete schuldig sind.“
„Haben Sie vielleicht eine Ahnung, welche Auslegung der Herr des Hauses geben könnte?“ drang ich weiter in sie.
„Meines Erachtens dürfte besagter Herr die Sache übel auslegen und nicht zaudern, seinen Anwalt zu bemühen“, betonte die schätzenswerte Dame.
(Weitere zwei Lire.)
„Wenn ich nicht Gefahr laufe, indiskret zu erscheinen...“, flüsterte ich, „ist das Ihre eigene Vermutung oder wissen Sie Genaueres?“
„Ich habe den Kündigungsbrief hier und werde ihn heute abend übergeben“, gestand die kluge Frau und zeigte mir einen geschlossenen Umschlag.
(Zwei Lire.)
„Ich danke Ihnen, Verehrteste“, murmelte ich. „Darf ich mir Ihre Erfahrung und Ihre Fachkenntnisse zunutze machen?“
„Gewiß.“
(Zwei Lire.)
„Wann könnte sich Ihrer Meinung nach, unter der Annahme von Umständen, die den geschilderten gleichen, ein Wohnungsaspirant einem Hausherrn mit der Bitte vorstellen, in seinem Haus als Mieter des vierten Stockes zugelassen zu werden?“
„Heute um 17 Uhr 30, C.-P.-Straße 14, dritter Stock, rechts.“
(Zwei Lire.)
„Ich bin Ihnen verbunden, Verehrteste.“
„Höflichkeit und Entgegenkommen sind mein Lebensinhalt“, erklärte die vortreffliche Person.
So kehrte ich denn um 19 Uhr 45 mit dem Mietvertrag in der Tasche ins Hotel zurück.
Margherita war mit dem Ergebnis meines Wirkens einverstanden. „Margherita“, fragte ich, „hast du die Reisetaschen und die Koffer in mein Zimmer stellen lassen oder in deines?“
„Giovannino“, antwortete Margherita mit ernster Miene, „halte dir vor Augen, daß ich eine Frau bin und keine Maschine. Und die Kräfte einer Frau sind begrenzt.“
Die süße Gefährtin meines bescheidenen Glückes sah mich an, und ihre schwarzen Augen sagten schmerzlich: „Giovannino, Giovannino...“