Das Schloß

Dank dem eingangs erwähnten Zwischenfall hatte ich die sechstausend Meter, die unser Haus von dem Gebäude des Lyzeums trennen, ausnahmsweise einmal zu Fuß zurückzulegen.

Unterwegs blieb ich mindestens hundertmal stehen; ich sah auf das Gras, auf das reife Getreide, ich schleuderte manchen Stein gegen die Isolatoren der Telegraphenleitung. Ich stand knapp vor der Vollendung meines vierundzwanzigsten Lebensjahres, und auch ich hatte das Recht, mein Leben zu leben.

Herr Luigi weiß nichts von diesen elementaren Notwendigkeiten. Das Alter, die Geschäfte und schlechte Lektüre haben ihn für die Psychologie unempfänglich gemacht. Überdies hat er nicht das geringste Vertrauen zu seinem Sohn, und dies betrübt mich, vor allem wegen des Schlosses.

Herr Luigi steht jeden Morgen, Sonn- und Feiertage ausgenommen, um 8 Uhr 40 an der Gartentür und alarmiert mich mit einem Pfiff. Vor seinen Augen besteige ich das Fahrrad. Er sieht nach, ob alles in Ordnung ist, kontrolliert die Härte der Pneus, das Funktionieren der Bremsen und der Klingel; dann läßt er das Schloß aufspringen. Und ich bin tiefbetrübt — nicht etwa, weil das Schloß gewaltige Ausmaße hätte, nein, es ist von gefälligem Format und stört weiter nicht —, sondern wegen der Tatsache, daß dieses Schloß, wenn es zuschnappt, in die letzten Glieder einer Stahlkette greift, deren unteres Ende zwischen den Sattelfedern durchgeht und deren oberes Ende durch eine Art Knopfloch an der Taille meiner Hose gezogen wird. Dies aber bedeutet, daß ich mit meinem Fahrrad fest verbunden bin. Ich könnte zwar ohne Schwierigkeiten das Knopfloch durchreißen und mich befreien; doch wie sollte ich das am Abend rechtfertigen? Nur im Fall wirklicher Gefahr kann ich vom Fahrrad herunter und muß dann unter Beibringung von Augenzeugen oder irgendeines sichtbaren persönlichen Schadens Bericht erstatten. Die zur Verfügung stehende Zeit ist so bemessen, daß ich rechtzeitig in der Schule ankomme, wenn ich mit gemäßigter Eile in die Pedale trete; bei Regen wird diese Zeit um ein angemessenes Stück verlängert, bei Rückenwind wird sie verkürzt. Ich kann mich also auf dem Schulweg keinen Augenblick aufhalten. Vor dem Gebäude tritt der Schuldiener in Aktion, der mich mittels eines zweiten Schlüssels vom Fahrrad abmontiert und zu sofortigem Betreten der Klasse veranlaßt.

Herr Luigi hat kein Vertrauen zu seinem Sohn; die mißliche Geschichte mit dem Schloß ist ein klarer Beweis dafür, und diese Geschichte dauert nun schon ein ganzes Schuljahr. Herr Luigi hat es sich nämlich in den Kopf gesetzt, daß ich dieses Lyzeum, dem ich so sehr zugetan bin, verlassen soll. Nach seiner Meinung sind neun Jahre mehr als ausreichend, um das Lehrziel der drei Klassen zu erreichen. Herr Luigi hat bezüglich dieses Punktes wenig angenehme Ausdrücke gebraucht; er hat sogar gedroht, mich in eine Erziehungsanstalt zu stecken, falls ich nicht in diesem Jahr bei der Reifeprüfung durchkomme. Ich werde durchkommen, aber wie soll ich das Margherita beibringen?

Margherita wird meinen, daß ich durchkomme, weil ich sie nicht mehr liebe, weil ich ihrer überdrüssig bin, weil ich sie verlassen will. Ich habe ihr geschworen, ihretwegen mein ganzes Leben auf dem Lyzeum zu bleiben. Herr Luigi will aber nicht, daß ich eine Klasse länger als drei Jahre besuche.

Heute bin ich also mit Verspätung und ohne Schloß in die Schule gekommen. Mit erheblicher Verspätung — denn alle waren schon im Begriff, zum Mittagessen zu gehen.

Margherita hat mich gleich erblickt und mich sehr besorgt angesehen.

Nachmittags trafen wir einander im Park.

Margherita spricht wenig; sie ist ein Tatmensch. Die Frau, die das Schicksal mir zugedacht hat, ist schlank, hat sehr große schwarze Augen und noch schwärzere Haare. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt wie ich und am selben Tag im Mai geboren, als der liebe Gott aus einem Windhauch zwei Seelen machte, um sie auf die Erde zu schicken.

Wir lieben einander seit neun Jahren. Wir haben einander am 12. November 1920 kennengelernt; ich war fünfzehn Jahre alt, gerade in die erste Klasse eingetreten und hatte mich mit so viel Begeisterung auf Tacitus und die Logarithmen gestürzt, daß Herr Luigi ausgerufen hatte: „Übertreibe nicht, Giovannino!“

Ich werde mich immer an diesen 12. November 1920 erinnern. Ich war der ruhigste, fleißigste, ordentlichste Schüler der Klasse; wer gab es mir am 12. November 1920 um 10 Uhr 25 ein, ein Lehrbuch in den südöstlichen Winkel des Klassenzimmers zu schleudern? Wirre Erinnerungen wollen mir erklären, daß dies durch Giancarlo provoziert wurde, der mich seit einer halben Stunde aus diesem südöstlichen Winkel mit gekauten und dann passenderweise in Tinte getauchten Papierkugeln beschoß; doch ich glaube es nicht! Hier tritt nämlich das Schicksal auf den Plan, dasselbe Schicksal, welches gefügt hat, daß ich eines Morgens zu Fuß und ohne Schloß in die Schule kam.

Ich wurde vom Lateinprofessor gebeten, mich möglichst schnell aus dem Schulgebäude zu entfernen. Der Herr Direktor schloß sich dieser Meinung an, und ich kam den Wünschen unverzüglich nach. Ich erinnere mich genau: es war ein milder, klarer Novembertag, das Laub des Parks war vergoldet, alle Bänke waren leer, nur eine einzige wurde von einem Mädchen mit schwarzen Haaren eingenommen. Das Schicksal wollte, daß ich mich gerade auf die von dem Mädchen mit den schwarzen Haaren eingenommene Bank setzte. Das Mädchen las in einer Zeitschrift, und als ich einige Spannen von ihr entfernt Platz nahm, erblickte ich einen Tacitus und eine griechische Syntax. „Sind Sie auch im Lyzeum?“

Das Mädchen hob die Augen von der Zeitschrift, Augen, die selbst einen Universitätsstudenten aus der Ruhe gebracht hätten. „Ja“, erklärte sie, „erste Klasse, zweite Abteilung.“

„Sind Sie auch suspendiert?“

„Ja. Mathematik. Tintenfaß.“

„Latein. Wörterbuch“, sagte ich.

Wir schwiegen lange, dann teilte ich ihr errötend mit, daß ich Giovannino hieße.

„Margherita“, antwortete sie. „Drei Tage Suspendierung.“

„Ich auch.“

Dann schwiegen wir, denn über dieser ganzen Unterhaltung war es Mittag geworden, und wir mußten nach Hause gehen.

Am Parktor trennten wir uns.

„Guten Tag.“

„Guten Tag.“

Am nächsten Morgen kam ich wieder in den Park, um den Herbst zu betrachten. Um zehn erschien Margherita.

Und auch am Tag darauf war es so. Immer war es so.

Wir waren zusammen dreißig Jahre alt. Abends, wenn wir aus der Schule gingen, trafen wir rasch unser heimliches Übereinkommen. „Morgen?“

„Übermorgen.“

Und wir ließen uns suspendieren. Dann trafen wir einander im Park oder an der Stadtmauer und sprachen von unbedeutenden, unschuldigen Dingen; sehr oft schwiegen wir auch, einen Meter voneinander entfernt sitzend, aber ich fühlte mein Herz voll Süße und dachte an Dido und andere große Liebende der Geschichte.

Am Ende des Schuljahres fielen wir beide durch.

„Vielleicht werden sie uns nächstes Jahr in dieselbe Abteilung stecken“, sagte Margherita, und ich fühlte mich glücklich.

Im Jahr darauf kam ich jedoch in die B, und Margherita kam in die A. Und wir fielen nach gemeinsamem Beschluß wieder durch. Als ich zum drittenmal in die erste Klasse eintrat, barst mir fast das Herz vor Freude; Margherita war in derselben Abteilung wie ich. Wir beschlossen aufzusteigen. Wir wollten nicht allzusehr auffallen, indem wir übermäßig auf einer Klasse bestanden. Als wir in die zweite kamen, waren wir achtzehn. Eines Tages schwor ich ihr im Park feierlich, ich würde mein Leben lang im Lyzeum bleiben, nur um sie jeden Tag in meiner Nähe zu haben.

Margherita machte, wie gewöhnlich, wenig Worte. „Ich auch, ich schwöre es dir.“

Wir fielen wieder durch, aber als wir zum zweitenmal in die Zweite gekommen waren, bemerkten wir, daß wir bei boshaften Leuten Verdacht zu erregen begannen. Wir mußten uns für die Augen der Welt wenigstens kurze Zeit trennen. Einer von uns beiden mußte aufsteigen. Mutig bot ich mich an.

„Nein“, antwortete Margherita, „die Liebe muß vor allem für die Frau ein Opfer sein! Ich werde aufsteigen.“

Ich ging zum drittenmal in die zweite Klasse, und Margherita stieg in die dritte auf. Im nächsten Jahr bewirkte es Margherita, daß sie durchfiel, und ich stieg auf. Dann fielen wir beide durch, und ebenso im Jahr darauf; die Welt sollte nur sehen!

Wichtig war es, beisammenzubleiben, einander jeden Tag zu treffen, sich jede Woche suspendieren zu lassen, in den Park zu gehen, um den Frühling, den Herbst, den Winter zu genießen. An die Ferien dachten wir mit Schaudern.

Und nun sollte alles ein Ende haben; Herr Luigi hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß ich die Reifeprüfung ablegen sollte. Seit Jahresfrist hat er mich an das Fahrrad gekettet, damit ich keine Stunde versäume.

Wie soll ich dies alles Margherita beibringen?

Am Nachmittag trafen wir einander im Park. Wir setzten uns auf die Bank. Margherita nahm aus ihrem Beutel Nadel, Fingerhut, Schere und Zwirn. Wie oft hat mir Margherita in diesen acht Monaten der Fesselung geduldig das Knopfloch wieder in Ordnung gebracht, und zwar so geschickt, daß Herr Luigi niemals das geringste bemerkt hat!

Margherita fädelte ein.

„Nein“, sagte ich, „es ist nicht notwendig. Glücklicherweise hat man mir das Fahrrad gestohlen. Aber heute muß ich unbedingt mit dir sprechen.“

Margherita verstaute alles wieder sorgfältig in ihrem Beutel. „Margherita“, stammelte ich, „erst heute finde ich den Mut, dir zu sagen, wie sehr mein Herz seit acht Monaten gequält wird. Ich muß dieses Jahr die Reifeprüfung machen! Mein Vater verlangt es. Margherita, versuche mich zu verstehen.“

Margherita sah mich mit ihren großen tiefen Augen an und fragte mich mit fester, ruhiger, unbefangener Stimme: „Liebst du eine andere?“

„Nein, Margherita!“

„Ich glaube dir“, sagte Margherita. „Ich wußte, daß etwas so Schönes nicht ewig dauern kann. So ist das Leben, Giovannino! Auch ich werde die Prüfung machen. Wirst du auf die Universität gehen?“

„Nein, ich werde arbeiten. Herr Luigi hat mir diesbezüglich ernste Worte gesagt. Wenn ich nach Absolvierung des Lyzeums mit einiger Regelmäßigkeit essen wolle, behauptet er, müsse ich nun arbeiten.“ Mein Vater behauptet wieder, ich müsse nach Absolvierung des Lyzeums an einen Mann denken.“

Ich fühlte meinen Herzschlag aussetzen.

„Und du, was wirst du tun?“ fragte ich erbleichend.

„Ich werde an einen Mann denken. Es ist nichts Schlimmes dabei, an einen Mann zu denken. Zehn Jahre lang habe ich gemeint, das Leben einer Frau bestehe aus dem Lyzeum. Jetzt werde ich meinen, das Leben einer Frau bestehe aus der Ehe. Aus der Ehe mit dir — fügte sie hinzu, als sie sah, daß ich mich plötzlich auf die Bank gesetzt hatte und sie sonderbar anschaute.

„Aber ich... ich…“, stammelte ich in freudigem Schrecken.

„Mach dir keine Sorgen!“ Das süße Mädchen, das mich als fünfzehnjährigen Schüler kennengelernt hatte und das mit dem vierundzwanzigjährigen Schüler geschwisterlich die trüben Tage der Schule und die heiteren Tage der Suspendierung teilte, lächelte, und ihre großen schwarzen Augen sagten mir: „Giovannino, Giovannino...“