Die Entdeckung Mailands

Viermal hundert, vierhundert, plus sechzig für das Vorzimmer und dreißig für das Badezimmer, das macht vierhundertneunzig. Dazu kommen weitere einhundertzwanzig zwischen Dachboden und Keller. Ich repräsentiere insgesamt sechshundertzehn Kubikmeter von Mailand. Das ist eine bedeutende Zahl; wollte ich meine Wohnung mit Wasser anfüllen, so würde sie auf die Erde einen Druck von einundsechzigtausend Kilogramm ausüben.

Ich werde meine Wohnung niemals mit Wasser anfüllen, weil mir die zwölf Kilogramm meines Herrn Sohnes genügen. Doch es ist vorteilhafter, erforderlichenfalls auf Grund unwiderlegbarer Berechnungen behaupten zu können: „Ich repräsentiere in dieser ungewöhnlichen Stadt sechshundertzehn Kubikmeter Luft und einundsechzigtausend Kilogramm Wasserdruck.“

Wer nicht imstande ist, solche Rechnungen auszuführen, kann einfach sagen: „Ich repräsentiere ein Millionstel von Mailand.“ Aber das ist allzuwenig. Mailand ist eine enorme Stadt, die immer beginnt und nie aufhört. Der Mensch, der nur ein Millionstel von ihr darstellt, ist wie eine Ameise in einem Getreidefeld.

Nun, da alles in geregelte Bahnen gelenkt ist, nun, da die süße Frau meines vierten Stockwerks auch ihre zweibeinige Maschine ins Rollen gebracht hat, kann man ein wenig herumschlendern und Mailand entdecken. Das tut man gern, wenn man weiß, daß sechshundertzehn Kubikmeter Familie immer bereit sind, ihre Tür weit aufzutun, mit dem Bemerken, man möge den Boden nicht beschmutzen, weil er gerade zwei Minuten zuvor mit Wachs eingerieben worden ist.

Ich besitze sechs Pläne von Mailand. Man müßte also glauben, daß es mir unmöglich ist, mich zu verirren, wenn ich von einer Stelle zu einer anderen gehen muß. Aber je länger ich lebe, um so mehr festigt sich in mir die Überzeugung, daß es nichts Unmögliches auf der Welt gibt. Ja, ich verirre mich sogar, wenn ich mich der Straßenbahn bediene.

Ich besteige die Linie 33.

„Fährt dieser Straßenbahnwagen, den ich soeben bestiegen habe, nach dem Carlo-Erba-Platz?“ frage ich den Schaffner.

„Ja, dieser Wagen fährt genau zum Carlo-Erba-Platz“, antwortet korrekt der Schaffner.

Die Fahrgäste lachen, weil in Mailand jeder weiß: Wenn es eine Linie gibt, die zum Carlo-Erba-Platz fährt, dann ist dies genau die Linie 33.

Ich bezahle die Fahrkarte, ich klammere mich an einen Halteriemen, die Bahn setzt sich in Bewegung. Nach einer halben Stunde befinde ich mich an der Porta Ticinese, also an einer Stelle, an der die Linie 33 nicht vorüberkommen kann, auch nicht, wenn man sie dorthin trüge.

Ich bringe es sogar fertig, mich in den Straßen zu irren. Wenn ich jedoch im Auto fahre, ist das etwas anderes.

Ich fahre seelenruhig von daheim fort, komme auf den Tonoliplatz, halte einen Augenblick und rufe ein Taxi.

„He, Sie“, sage ich zum Chauffeur, „fahren Sie vor mir her in die Soundso-Straße.“

Das Taxi setzt sich in Bewegung, ich fahre gleichfalls an und folge ihm.

Es ist eine große Ausgabe, aber ich gestehe, daß es mir mißfällt, mich von einem Auto durch die Straßen dieser ungewöhnlichen Stadt lotsen zu lassen.

Einige Jahrhunderte lang hatten die Mailänder eine traurige Existenz: sie bewegten sich ausschließlich über die Dächer und Dachtraufen fort. Sie begannen erst auf die Straßen zu gehen, als die Straßenverkehrsordnung erfunden wurde.

Seither ist der Mailänder Verkehr etwas Wunderbares. Man kann an den wichtigsten Kreuzungen von Mailand nicht selten Dichter und Musiker sehen, die das Geheimnis jener erhabenen Harmonie von Rot, Gelb und Grün, von raschem Stehenbleiben und donnerndem Losbrausen zu erfassen suchen.

Freilich, es gibt in dieser ungewöhnlichen Stadt auch neuralgische Punkte. Dort gewinnt der Verkehr eine solche Vollkommenheit, eine so unerbittliche Präzision, daß sich die treffliche Dame, die ruhig lesend die Straße überquert, unversehens rittlings auf der Kühlerhaube eines Lastautos befindet, während ein Lieferwagen nach einer köstlichen Drehung um sich selbst kurz entschlossen in einer Drogerie steckenbleibt, gefolgt von den wichtigsten Teilen einer Straßenbahn.

Man muß anerkennen, daß alles organisiert ist, und das geht so weit, daß sich zwei neue Berufe entwickelt haben: der des Augenzeugen und der des Photographen für Straßenunfälle. Das sind ehrenwerte Professionals, die den ganzen Tag auf den neuralgischen Punkten herumstehen und deren genaue Augen- und Photozeugnisse es erlauben, jede Kontroverse im Hinblick auf Verantwortung und Schadenersatz mit größter Leichtigkeit in Ordnung zu bringen.

Trotzdem macht es mir keinen Spaß, mich von einem Auto durch die Straßen von Mailand lotsen zu lassen. Es ist besser, man bewegt sich per Straßenbahn oder zu Fuß, doch ohne sich auf ein Ziel festzulegen. Man läßt sich überraschen.

Wenn man Glück hat, kommt man in einer Stunde in die Galerie, in der die Leute nicht zaudern würden, sich mit einer Spitzhacke zu bewaffnen und unterirdische Zugänge zu graben, um einen Aperitif zu ergattern.

Man kann auch den berühmten Markt von Senigallia entdecken; er ähnelt einer Wüste, an der sich das Strandgut von tausend Schiffbrüchigen des täglichen Lebens ablagert. Man muß dort an alte, schwarzgekleidete Frauen mit langgriffigen Schirmen denken, die allein in dunklen und feuchten Zimmern leben, die eines Tages erlöschen, und die Hausbesorgerin merkt es zufällig zwei Tage später. Da kommen dann Leute mit einem Lastwagen, räumen in zwei Stunden alles aus, werfen das einbalsamierte Hündchen auf das Pflaster, dazu das Bild mit der Locke des toten Kindes, das alte Trichtergrammophon mit der Adelina-Patti-Platte, den seit dreißig Jahren im Schrank aufbewahrten Bratenrock des Gemahls und das Befähigungszeugnis für das Lehramt an Elementarschulen.

Ich habe das alles gesehen. Ich. habe auch eine Menge antiquarischer Bänder von Grabkreuzen mit Goldpapier-Buchstaben gesehen. Ein alter Mann wühlte gerade in dem Pack. Er suchte ein Band, auf dem geschrieben steht: „Der Enkel.“ Es war keines da. So begnügte er sich mit einem, auf dem geschrieben stand: „Der Schwager.“

Ein Mann im Overall wählte bedächtig aus einem Haufen Fahrradreifen den am wenigsten zerfetzten aus.

Man sah auch Vögel in Käfigen. Lebend, aber trotzdem antiquarisch.

Als ich P. verließ, teilte mir die sentimentale Kassiererin meines Espressos mit, Mailand sei im Winter am schönsten, weil es einen nordischen Zauber besitze. Ich finde Mailand hauptsächlich im Herbst und im Frühling schön, weil es den Zauber von Mailand besitzt. Und es gefällt mir auch im Sommer, wenn am Sonntagnachmittag der weiße Schutzmann auf einem verlassenen Platz wie eine Fata Morgana aussieht.

Alle Jalousien sind dann geschlossen, und auf den menschenleeren Straßen machen die Straßenbahnen und Autobusse einen Höllenlärm; aber gegen Abend erwacht Mailand. Die Leute kommen von den Seen oder vom Meer zurück.

Das Verlangen, Wasser zu sehen, ist eine fixe Idee der Mailänder. An jedem sommerlichen Sonntagmorgen eilen sie auf der Suche nach Wasser davon, und am Abend kommen sie zurück: Motorräder, Fahrräder, Tandems und Autos, alle Typen von der 501 bis zum Topolino, aber vorwiegend Autos, die nur an Feiertagen aus der Garage geholt werden, alte Maschinen, Familienerbstücke. Bisweilen macht so eine alte 501 auf der sonnendurchglühten Straße drei oder vier Huster und bleibt stehen. Das Benzin ist ausgegangen, die nächste Tankstelle ist wenigstens zwanzig Kilometer entfernt. „Los, Alte“, sagt dann der Fahrer und klopft freundschaftlich auf das Armaturenbrett, „tu mir den Gefallen und fahr noch bis zur Tankstelle!“

„Na schön“, antwortet rauh die Maschine und setzt sich wieder in Bewegung.

Das sind Autos, mit denen man nachsichtig sein muß. Wenn es steil aufwärts geht und man einsieht, daß es die Alte nicht zustande bringt, steigt man eben ab und spielt ein bißchen Komödie. „Nein, nein, wir gehen zu Fuß hinauf“, sagt man, „hier ist so eine schöne Aussicht.“

Am Sonntagabend, wenn die leichte Brise die Seen verläßt und die Mailänder in die Stadt heimbegleitet, öffnen sich allmählich die Fenster und füllen sich mit Köpfen. Aus den kalten Zimmern werden die alten Großmütter im Lehnstuhl herausgebracht und auf die Balkone getragen, damit sie frische Luft schöpfen. Die Dienstmädchen laufen rasch an die Fenster und winken dem Geliebten an der Ecke einen letzten Gruß zu. Dann flammen die Lichter und die Scheinwerfer der Autos auf. Ein Radio, zwei Radios, siebenundzwanzigtausend Radios.

Die Stimme der Hausbesorgerin dringt bis zum vierten Stock hinauf. Die jüngste Tochter meines Nachbarn bringt den Frühling in unsere Küche. Sie kommt, macht schnell ihre große Verrichtung neben dem Eisschrank, dann läuft sie davon, kreischend wie eine Schwalbe. Heute ist der 10. Juni 1938. Margherita. Es sind schon neun Jahre seit dem ersten Kapitel vergangen! Margherita ist es bisher noch immer nicht gelungen, alle meine Reisetaschen auf dem Bahnhof auszulösen; sie hat jetzt so viel mit dem Kind zu tun. Aber sie lächelt, und ihre großen schwarzen Augen sagen: „Giovannino, Giovannino...“