Die Zeit vergeht
„Margherita, heute habe ich fünfzehn Seiten mit der Maschine ganz eng beschrieben. Wenn ich mich morgen zusammennehme, kann ich wenigstens ein Viertelpfund Novellen schreiben.“
„Du machst zuwenig Absätze“, bemerkt Margherita. „Der Soundso trifft das viel besser als du, mit fünfzig Worten hat er eine Spalte voll.“
Margherita hat recht. Man muß in dieser ungewöhnlichen Stadt viele Absätze machen. Man muß flink sein: zuerst etwas schreiben und erst dann, wenn man Zeit hat, darüber nachdenken.
Vorüber sind die schönen Tage von P. Wenn ich damals dahinspazierte, mit einer einzigen Lira in der Tasche, sah ich ein Mädchen vorüberkommen oder ein Pferd oder ein Fahrrad — und mir kam die Idee für eine hübsche Novelle. Ich setzte mich ins Café und dachte nach, wie ich die Idee ausführen wollte, wie ich mein Manuskript dem Redakteur überreichen und von ihm die lebhaftesten Komplimente hören würde. Ich dachte, wie ich sogleich zur Kasse gehen wollte, um das Honorar im voraus abzuheben. Ich stellte mir vor, wie ich das Geld nehmen und unverzüglich ausgeben würde, um mich glänzend zu amüsieren. Ich dachte, wie ich dann wieder ohne Geld sein würde, Dann bezahlte ich mit meiner Lira den Kaffee, ging nach Hause und war zufrieden, weil ich mich so gut amüsiert und außerdem noch die Idee für eine hübsche Novelle im Kopf behalten hatte.
In der Provinz genügt es im Grunde zum Glücklichsein, eine Idee zu haben; es genügt, auf morgen zu verschieben, was man heute besorgen kann.
In dieser ungewöhnlichen Stadt jedoch ist es etwas anderes. Noch wichtiger als die Ideen ist es hier, nicht auf morgen zu verschieben, was man heute besorgen kann.
Ein Geschöpf des lieben Gottes, das in diese ungewöhnliche Stadt geschneit kommt, ist wie ein Zahnrad, das in das Getriebe einer Maschine gerät. Entweder versteht es, sich in das passende Lager einzufügen und dreht sich mit, oder es verliert seine Zähne.
Man wird ein bißchen wehmütig, wenn man merkt, daß nun alles in geregelte Bahnen gelenkt ist, daß der nächste Tag keine Überraschung bringen kann.
Ein anderer in meinem Heim wird es viel weiter bringen.
Ja, unser Herr Sohn, der wird es zu weiß Gott was bringen. Das sieht man von Tag zu Tag deutlicher. Heute hab’ ich im Café meinen Freund Giovanni getroffen. Wir redeten über dies und das, dann fragte er mich, ob mein Kind gut gedeihe. Ich antwortete ihm, daß wir mit seiner Entwicklung zufrieden seien. „Schade, daß ich keine Photographie bei mir habe“, schloß ich. „Ich gestehe dir: ich konnte die Leute nie ertragen, die mit einem Dutzend Photographien ihrer Kinder herumlaufen. Sie erinnern mich an Reisende mit ihren alten Katalogen. Findest du nicht auch?“
„Wem sagst du das?“ erwiderte Freund Giovanni. „Wenn es etwas Unsympathisches gibt, ist es genau das. Es zeugt von schlechtem Geschmack, es ist höchst kleinbürgerlich und überflüssig. Ja, ich gehe noch weiter: ich habe verboten, daß man mein Kind photographiert. Kleine Kinder sind doch alle gleich. Nicht wahr?“
Wir sprachen ausführlich über die Erziehung der Kinder. Dann, als er in der Tasche nach der Streichholzschachtel suchte, rief Giovanni überrascht aus: „Was ist denn das?“
Es war eine Photographie seines Kindes.
„Das muß meine Frau gewesen sein“, meinte Giovanni. „Du weißt ja, wie Frauen sind. Na, wie gefällt er dir,“
Ich sagte ihm, .es sei ein großes hübsches Kind, und ich bedauerte, daß ich ihm nicht meines zeigen konnte. Aber dann tat auch ich, als ich in meiner Brieftasche herumstöberte, plötzlich einen Ausruf der Überraschung: „Ja, tatsächlich, eine Photographie meines Sprößlings! Die Frauen sind wirklich alle gleich.“
Giovanni gab zu, daß mein Kind einfach ein Phänomen sei. Hierauf erinnerte er sich an irgend etwas, zog die Brieftasche und fand eine zweite Photographie seines Kindleins. Darauf erinnerte auch ich mich an irgend etwas, und es gelang mir, mitten unter den Dokumenten noch eine zweite Photographie meines Sohnes auszugraben. „Schau ihn doch an, ist er nicht süß, wenn er seine kleine Seite besorgt?“ sagte ich, indem ich ihm das Dokument zeigte. „Schau doch meinen an, wenn er den Finger in die Nase steckt!“ rief Giovanni bewegt aus, ein drittes Photo herausholend.
Bei der zweiunddreißigsten Photographie, die seinen Erben zehn Minuten nach der Geburt darstellte, rief ich mit einem Triumphgeheul und mit einer weiteren Photographie:
„Da schau: meine Frau, zwei Tage, bevor der Kleine geboren wurde!“
„Margherita, es ist schlimm, wie ich verbürgerliche! Auch ich reise mit vielen Photographien unseres Kleinen herum.“
„Besser viele Photographien des Kleinen als eine einzige von einer gewissen blonden Sekretärin“, antwortet Margherita.
Die Zeit vergeht schnell in dieser ungewöhnlichen Stadt. Man steht um acht Uhr auf. Fünfzehn Minuten auf den Füßen, um sich anzukleiden, eine Tasse von irgend etwas zu schlürfen, mit dem Aufzug hinunterzufahren, zur Straßenbahnhaltestelle zu kommen.
In der Straßenbahn sitzt man.
Fünf Minuten auf den Füßen, um von der Straßenbahnsitzbank zu seinem Bürositz zu gelangen.
Von acht Uhr dreißig bis zwölf Uhr sitzen.
Fünf Minuten auf den Füßen, um zur Straßenbahn zu kommen. Sitzen.
Sieben Minuten zu Fuß, um bis zum Tisch zu gelangen. Bei Tisch sitzen. Im Lehnstuhl vorm Radio sitzen. Sieben Minuten auf den Füßen, um sich von der Straßenbahnsitzbank zum Bürositz zu begeben.
Von vierzehn bis neunzehn Uhr sitzen.
Fünf Minuten auf den Füßen, um zur Straßenbahn zu kommen. Sitzen.
Sieben Minuten, um sich auf den Sessel am Tisch zu schleppen.
Bei Tisch sitzen. Im Lehnstuhl vorm Radio sitzen. Wegen der außertourlichen Arbeit bis vierundzwanzig Uhr am Schreibtisch sitzen. Von null Uhr bis acht Uhr liegen.
Man verbringt sechs Tage lang sechsundfünfzig Minuten pro Tag auf den Füßen und dreiundvierzig Stunden vier Minuten sitzend oder liegend.
Berechnen wir jedoch die vierundzwanzig Stunden des Sonntags gesondert: Bis zwölf Uhr liegen. Von zwölf Uhr fünfundvierzig bis fünfzehn Uhr fünfundvierzig bei Tisch, im Lehnstuhl, auf dem Balkon sitzen. Von sechzehn Uhr fünfundvierzig bis achtzehn Uhr fünfundvierzig im Café sitzen. Von neunzehn Uhr dreißig bis zwanzig Uhr dreißig bei Tisch, im Lehnstuhl sitzen, ausgestreckt auf dem Diwan liegen. Von einundzwanzig Uhr fünfzehn bis dreiundzwanzig Uhr fünfzehn im Kino, im Theater oder im Hause von Freunden sitzen.
Die Zeit hat ihren Wert, wenn ein Geschöpf des lieben Gottes jede Stunde seines Tages erlebt, Minute für Minute. Aber schlafen ist schlafen, und am Tisch sitzend arbeiten oder — bei Tische sitzend — Speisen hinunterschlingen, ist wie schlafen. Die Zeit vergeht schnell in dieser ungewöhnlichen Stadt, und plötzlich macht man eine Äußerung des Mißvergnügens: „Margherita, warum sagst du mir gar nichts? Wir sind ja schon im Jahre 1939!“
Margherita beschränkt sich nämlich darauf, mich an die nebensächlichen Dinge zu erinnern: „Giovannino, hör auf, mit leerem Mund zu kauen; schon seit zehn Minuten hast du dein Beefsteak zu Ende gegessen!“ — „Giovannino, hör auf, in die Luft zu blasen, schon seit fünfzehn Minuten ist deine Zigarette ausgeraucht!“ — „Giovannino. dreh das Licht an; es ist Mitternacht, und du sollst nicht im Finstern schreiben!“ — „Giovannino, zieh keine leichten Sachen mehr an, wir haben Dezember.“ — „Giovannino, zieh nicht mehr den Mantel und den dicken Schal an, wir haben Juli!“ So müßte Margherita mich auch daran erinnern, daß ein Jahr vergangen ist; man kann nicht an alles denken!
Die Zeit vergeht schnell in dieser ungewöhnlichen Stadt, und bevor du die Leinensachen richtig weggeräumt hast, ist schon wieder der nächste Sommer da.
Wenn man mich rechtzeitig darauf aufmerksam macht, daß es Sommer ist, dann weiß ich gleich, was ich mit meinen Sonntagen anfange. Denn das Autoproblem ist längst gelöst: ein vertrauenswürdiger Mechaniker lotst mich bis zur Autobahn von Varese. Sind wir dort angekommen, verläßt er mich. Ich gebe Gas und fahre fröhlich los. In Varese oder in Sesto Calende angekommen, verlasse ich die Autobahn, parke, komme wieder auf sie zurück und fahre in Richtung Mailand. Hier steht der Mechaniker bereit, der sich an den Volant setzt und mich nach Hause zurückfährt. Ich finde die Autobahn ideal für eine Erholungsfahrt. Keine Kurven, keine Kinder, Hunde, Hühner. Keine Radfahrer. Ruhiger, disziplinierter Verkehr. Stille und Poesie.
Auf der Autobahn werden alle Leute sentimental.
Längs der Autobahn, am Rande des Asphalts, halten die Mailänder für einige Augenblicke ihre schönen Autos an und steigen aus, um das Gras zu berühren und Blumen zu pflücken. Hunderte von Autos sieht man, die am Rande der Autobahn stehen. Auch die großen Industriellen fühlen die Poesie der Asphaltraine, auch die großen Industriellen, die selbst in den heißesten Monaten mit ihren kostbaren Pelzen und glänzenden Zylindern herumfahren. Der livrierte Chauffeur hält das überlange Auto an, steigt aus, öffnet den Schlag, grüßt korrekt; der große Industrielle steigt aus, pflückt einen Grashalm, steckt ihn in den Mund. Dann steigt er wieder ein, und während das Auto weiterfährt, nimmt er seine Gedanken an wichtige Dinge wieder auf.
Die Zeit vergeht schnell in dieser ungewöhnlichen Stadt! Die Monate bestehen aus vier Tagen: Sonntag, Sonntag, Sonntag und Sonntag.
„Margherita, vom ersten September an dürfen keine Autos mehr fahren.“
„Das freut mich, Giovannino.“
„Margherita, es wäre gut, wenn du einen Blick auf meine Uniform werfen wolltest. Man müßte vielleicht meine Stiefel und auch das Koppel ausbessern lassen.“
„Schon geschehen, Giovannino.“
„Eventuell könntest du dich zu Frau Flaminia zurückziehen.“
„Wenn es notwendig sein wird, Giovannino.“
Man kommt nicht mehr zum Arbeiten im Büro; alles scheint sinnlos. Der Herr Direktor brüllt, wenn’ man ihm die Post zur Unterschrift bringt. Er will nur Landkarten und Zeitungen! Überall tuschelt man, jeder hat eine Neuigkeit.
Kürzlich hält mich Giuseppe an.
„Die Engländer haben angeblich dreißig Flugzeuge von Amerika bekommen“, sagt er vorsichtig.
Ich antworte ihm, daß ich auch den „Popolo d’Italia“ gelesen habe, aber daß mir die Sache jeder Bedeutung zu ermangeln scheine: „Das ist nicht wahr, mein Lieber“, erläutert Giuseppe. „Für mich, für dich ist die Sache bedeutungslos, aber die kleinen Leute beeindruckt es.“ Ich gehe Schinken kaufen, und der treffliche Verkäufer informiert mich zwischen einer Scheibe und der nächsten, daß die Engländer von Amerika, dreißig Flugzeuge bekommen haben. Ich antworte ihm wie dem Freund Giuseppe.
„Das ist nicht wahr, lieber Herr“, sagt der wackere Kleinhändler. „Für mich, für Sie ist die Sache bedeutungslos, aber die kleinen Leute beeindruckt es.“
Auf der Treppe treffe ich das Dienstmädchen vom dritten Stock, das mir die Zeitung zeigt und fragt, ob wirklich hier geschrieben sei, daß die Engländer von Amerika dreißig Flugzeuge bekommen haben. Ich lese ihr die Nachricht laut vor, denn das Dienstmädchen vom dritten Stock trägt zwar orthopädische Schuhe, ist aber Analphabetin. Dann teile ich ihr zum Abschluß der Zeremonie mit, die Sache sei unwichtig. „Das ist nicht wahr, gnädiger Herr“, erwidert das treffliche Dienstmädchen. „Für mich, für Sie ist die Sache bedeutungslos, aber die kleinen Leute beeindruckt es.“
Am Nachmittag wiederholt sich alles bei dem alten Weiblein, das an der Straßenecke die glückbringenden Tierkreiszeichen verkauft, und auch das Weiblein mit den Tierkreiszeichen schließt: „Für mich, für Sie ist die Sache bedeutungslos, aber die kleinen Leute beeindruckt es.“
September 1939. Es ist schön, ohne den Alpdruck der Autos durch Mailand zu schlendern. Es fahren nur Fahrräder herum.
Fahrräder, Fahrräder.
Das Fahrrad ist lebenswichtig geworden. Auch Margherita ist draufgekommen, daß sie ohne Fahrrad nicht leben kann, und das hat seine Komplikationen. Denn wenn das Fahrrad für einen Mann einfach aus einem Fahrrad besteht, setzt es sich für eine Frau zusammen aus: einem Hosenrock, einem Paar Strümpfe, einem Paar Socken, einem Pullover mit langen Ärmeln, einem Pullover mit kurzen Ärmeln und einem Pullover ohne Ärmel, Leder-, Zwirn- und Wollhandschuhen, je einer Stoff-, Woll- und Regenjacke, Tuchmütze, Zelluloidschirm, schwarzen, grünen und blauen Brillen, dreierlei Sandalen, Umhängetasche, gelbem, blauem oder grünem geflochtenem Körbchen zum Anhängen an der Lenkstange, drei Kleidern in lebhaften Farben mit dazupassenden Strohhüten und Seidentüchern, einer Regenhaut mit Kapuze, einer Satteltasche aus Tuch und einem Fahrrad.
Der Mann fährt nicht mit dem Fahrrad, weil es Mode ist, sondern weil es ihn verdrießt, zu Fuß zu gehen. Aber wenn selbst ein Mann mit der Mode geht, ist das Radfahren nur um ein klein wenig komplizierter als für den Durchschnittsmann: es kommen nur die kurzen Hosen und einige Pullover dazu.
Bei Brautpaaren ist das schon ganz anders. Jedes Brautpaar besteht aus einem Mann, einer Frau und einem Tandem; zwei Seelen und ein Fahrrad. Und obwohl sie auf dem hinteren Sattel sitzt, ist die Frau tonangebend in jenem Zweigespann, das die Mädchenherzen in den Vorstädten höher schlagen und die Mütter ausrufen läßt: „Seht nur, wie nett sie zusammenpassen!“
Sie hat ein graues Kleid, und er hat graue Hosen, sie hat einen grün-gelben Pullover, und er hat einen grün-gelben Pullover, sie hat ein blaues Hütchen und er eine blaue Mütze, gleich sind die Handschuhe, die Farbe der Schuhe, die Farbe der Brillen... und das macht aus dem Tandem und den beiden jungen Leuten ein kompaktes, unteilbares und harmonisches Ganzes, und man versteht, was es bedeutet, wenn man ein Mädchen mit gelb-grünem Pullover hinter einem Jüngling in rot-blauem Pullover die Pedale treten und das Mädchen mit dem rot-blauen Pullover hinter einem Jüngling mit gelb-grünem Pullover radeln sieht. Denn auch auf dem Tandem ist es viel leichter, den Verlobten zu erneuern als die Garderobe. Manchmal freilich geschieht es, daß der Jüngling im rot-blauen Pullover allein auf seinem Tandem radelt; der Platz hinten ist leer. Und das ist bitter; denn wenn es auch leicht ist, zwei Schicksale zu trennen, so ist es doch unmöglich, ein Tandem zu teilen. Und so zieht denn der Jüngling ein halbes Fahrrad voll unnützer, schwermütiger Erinnerungen hinter sich her, während das Mädchen zu Fuß auf dem Asphalt einer vergangenen Zeit dahingeht.
Mailand ist voller Fahrräder.
Auch Margherita ist draufgekommen, daß sie ohne Fahrrad nicht leben kann.
Ich habe ihr ein Fahrrad gekauft. „Komplett mit Zubehör.“ Ein Vermögen.
„Margherita, nun ist alles soweit. Wollen wir am Sonntag einen Ausflug machen?“
„Es ist jetzt nicht der Moment, seine Zeit mit Radfahrenlernen zu vertun“, antwortet die Gefährtin meines wehmütigen Herbstes. Und ihre großen Augen sagen mir: „Giovannino, Giovannino...“