Fünfter Teil
1760
I. Den 3. Januar
1760
Sieben und siebenzigster Brief
Ecce iterum Crispinus!
Ich werde abermals das Vergnügen haben, Sie mit einem Werke zu unterhalten, das durch die Feder des berühmten Herrn Dusch geflossen ist.
– – – Et est mihi saepe vocandus
Ad partes. – – –
Und wie oft werde ich dieses abermals, abermals brauchen müssen! Herr Dusch hat geschrieben, schreibt, und wird schreiben, so lange er noch aus Hamburg Kiele bekommen kann: Schoßhunde und Gedichte; Liebestempel und Verleumdungen; bald nordische und bald allgemeine Magazine; bald satyrische, bald hämische Schriften; bald verliebte, bald freimütige, bald moralische Briefe; bald Schilderungen, bald Übersetzungen; und Übersetzungen bald aus dem Englischen, bald aus dem Lateinischen.
– – Monstrum nulla virtute redemptum!
»O der Polygraph! Bei ihm ist alle Kritik umsonst. Ja man sollte sich fast ein Gewissen machen, ihn zu kritisieren; denn die kleinste Kritik, die man sich gegen ihn entfahren läßt, gibt ihm Anlaß und Stoff zu einem Buche. Und so macht sich ja der Criticus seiner Sünden teilhaft! – Zwar von diesen seinen Streitbüchern, sage ich Ihnen diesesmal nichts. Sie sind noch schlechter als seine Übersetzungen; und das Beste muß ich Ihnen doch zuerst bekannt machen.
Eine Duschische Übersetzung also abermals! Und der Abwechselungen wegen, nicht sowohl aus dem Englischen als aus dem Lateinischen! Eine Zwitterübersetzung aus beiden; wenn man sie recht benennen soll. – Lesen Sie den Titel davon am Rande.«(118) – »Aber wo steht denn da etwas von Herr Duschen? Sie werden sich irren.« – Nicht doch; ich irre mich nicht. Das Buch ist ja so dicke; und scheinet mit einer so liebenswürdigen Geschwindigkeit translatieret zu sein! Wer kann aber dickere Bücher geschwinder translatieren, als Herr Dusch?
Doch wenn Ihnen allenfalls dieser Beweis, weil er in Deutschland geführet wird, nicht bündig genug scheinet: Hier ist ein anderer! »Der Jugend besser fortzuhelfen«, sagt Herr Dusch in der Vorrede, »und in eben der Absicht, worin Herr Martin seinem lateinischen Texte eine engländische Übersetzung beigesetzet hat, habe ich eine eigene deutsche Übersetzung unternommen.« – Aus dieser eigenen deutschen Übersetzung nun, führe ich meinen andern bündigern Beweis.
Er lautet so! – Sie erinnern sich doch, daß ich in einem meiner vorigen Briefe,(119) eine Stelle aus den Schilderungen des Hrn. Dusch getadelt habe, welche eine Beschreibung der herbstlichen Nachtgleiche sein sollte? »Itzo wieget die Waage Tag und Nacht in gleichen Schalen, und der Stand der Sonne teilet den Erdkreis in Licht und Finsternis.« Sie erinnern sich doch, daß diese Beschreibung nach zwei Zeilen des Virgils sollte gemacht sein, die Herr Dusch nicht verstanden hatte?
Libra die somnique pares ubi fecerit horas,
Et medium luci atque umbris jam dividit orbem.
Nun sind diese Zeilen aus dem ersten Buche Georgicorum; und ich weiß selbst nicht aus welcher heimlichen Ahndung ich nach der Übersetzung derselben zu allererst sahe. Und was meinen Sie, daß ich da fand? Ich fand: »Wenn die Waage die Tage und die Stunden des Schlafs gleich gemacht, und den Erdkreis in Licht und Finsternis geteilet hat.« O Herr Dusch! rief ich aus. Willkommen Hr. Dusch! – Urteilen Sie selbst, ob es wohl wahrscheinlich ist, daß zwei verschiedene Skribenten eben denselben lächerlichen Fehler sollten gemacht haben? Gewiß nicht! Der Verfasser der Schilderungen und unser Übersetzer müssen eins sein; und müssen eins sein in Herr Duschen!
Aber wenn es Herr Dusch wäre, werden Sie vielleicht einwenden, warum sollte Herr Dusch eben denselben Fehler mit Vorsatz noch einmal wiederholt haben? – Ich antworte: weil er ihn für keinen Fehler hielt; weil er, ohne Zweifel, als er ihn zum andernmale beging, meine Kritik noch nicht gelesen hatte. Und als er sie endlich zu lesen bekam, war der Bogen Rr in seiner Übersetzung leider schon abgedruckt. Einen Carton aber machen zu lassen, das würde ihn zu sehr verraten haben; und er wollte mit diesem kleinen Triumphe seinen Kunstrichter durchaus nicht beglücken. Gnug, daß er sich meine Erinnerung da stillschweigend zu Nutze machte, wo es noch möglich war. In der Parallelstelle nämlich, die ich damals anführte:
Jam rapidus torrens sitientes Sirius Indos
Ardebat coelo et medium sol igneus orbem
Hauserat
hat er das medium orbem richtig übersetzt; ob es gleich auch hier Ruäus falsch verstehet, indem er medium orbem hauserat durch siccaverat medium orbem gibt, aus welchem siccaverat es unwidersprechlich erhellet, daß er unter orbem den Erdkreis verstanden hat. Ich will zwar nicht verhehlen, daß den Herrn Dusch hier sein Martin eben sowohl kann zurechte gewiesen haben, als ich. Denn Martin merket bei dieser Stelle sehr wohl an, daß von der Zeit des Nachmittags die Rede sei, weil Virgil sage, die Sonne habe die Mitte oder die Hälfte ihres Laufes vollendet. Aber doch will ich noch wetten, daß Herr Dusch bei der Übersetzung seinen Martin würde vergessen haben, wenn er nicht auf einer andern Seite einen kleinen Denkzettel bekommen hätte. – Sie sollen gleich meiner Meinung sein. –
Denn, was gibt mir Herr Dusch, wenn ich ihm in eben denselben Worten: »Wenn die Waage die Tage und die Stunden des Schlafes gleich gemachet, und den Erdkreis in Licht und Finsternis geteilet hat« noch einen recht häßlichen, abscheulichen Fehler zeige? – Im Lateinischen heißt die erste Zeile
Libra die somnique pares ubi fecerit horas etc.
Man findet sie aber auch so:
Libra dies somnique pares etc.
Und was ist hier dies und dort die? Beides, wie Sie wissen, ist der alte Genitivus für diei. Aber wußte das Herr Dusch? Hat er nicht offenbar dies für den Accusativus in der mehreren Zahl genommen, da er übersetzt: »wenn die Waage, die Tage und die Stunden des Schlafes gleich macht?« Die Waage macht die Tage gleich? Welcher Unsinn! Wenn ist denn bei Herr Duschen in einem Herbste ein Tag dem andern gleich? Was kann der Mann doch gedacht haben? Virgil sagt: Wenn die Waage die Stunden des Tages und des Schlafes gleichgemacht etc. Ist denn das nicht ganz etwas anders? – Dieser Fehler des Herrn Dusch ist also unwidersprechlich. Und ich setze dazu: unverzeihlich; denn wenn er sich der Anmerkung seines Martin noch erinnert hätte, wenn er sich Zeit genommen hätte, sie wieder nachzulesen: so hätte er ihn unmöglich begehen können. »Bei den alten Römern, sagt Martin, endigte sich der Genitiv der fünften Deklination in es: also war Dies eben das, was wir izt Diei schreiben. Oft wurde es Die geschrieben, welches an dieser Stelle alle Herausgeber annehmen. Ich aber habe, auf Glauben des Aulus Gellius, Dies dafür gesetzt; er sagt nämlich, diejenigen, die Virgils eigenes Manuskript gesehen, hätten versichert, daß es Dies geschrieben wäre. Q. Ennius in sexto decimo annali Dies scripsit pro diei in hoc versu:
Postremae longinqua dies confecerit aetas.
Ciceronem quoque affirmat Caesellius in oratione, quam pro P. Sestio fecit, dies scripsisse pro diei, quod ego impensa opera conquisitis veteribus libris plusculis ita, ut Caesellius ait, scriptum inveni. Verba sunt haec Marci Tullii: Equites vero daturos illius dies poenas. Quo circa factum hercle est, ut facile iis credam, qui scripserunt idiographum librum Virgilii se inspexisse, in quo ita scriptum est:
Libra dies somnique pares ubi fecerit horas;
id est: Libra diei somnique.« – Denken Sie doch nur! Diese lange Anmerkung schreibt Herr Dusch auf dem Bogen E. von Wort zu Wort hin; und auf dem Bogen Rr hat er – sie schon wieder vergessen. Was soll man von ihm sagen? Ist es nicht offenbar, daß er ohne zu denken schreibt? daß er weder bei der Anmerkung, noch bei der Übersetzung muß gedacht haben? – Und nun wieder auf mein voriges zu kommen: So gut er hier seinen Martin vergessen hatte; eben so gut hätte er ihn ja auch bei dem hauserat medium orbem vergessen können, wenn er nicht, bei meinem Ausdrucke zu bleiben, von einer andern Seite einen kleinen Denkzettel bekommen hätte.
Als Herr O. unsere Briefe herauszugeben anfing, sagte er davon: »Ich teile sie dem Publico mit, weil ich glaube, daß sie manchem, sowohl von dem schreibenden, als lesenden Teile der so genannten Gelehrten, nützlich sein können.«(120) – Sie glauben nicht, wie sehr des Herrn Duschs anderes Ich, oder sein kritischer Freund sich, über diese gute Meinung unseres ehrlichen O. formalisieret hat. Und hier ist doch gleich ein Exempel, an seinem eigenen Freunde, daß unsere Briefe wirklich einem sogenannten Gelehrten von dem schreibenden Teile, nützlich gewesen sind, und noch nützlicher hätten sein können, wenn es sein Autorstolz nicht verhindert hätte!
Unterdessen muß bei Fehlern von dieser Art noch etwas mehr als die bloße Nachlässigkeit des Herrn Dusch Schuld haben. Dieser Schilderer der Natur, dieser phantasiereiche Dichter muß sich von dem Weltgebäude nicht die geringste Vorstellung, nicht das allerkleinste Bild, weder nach den alten, noch nach den neuern Hypothesen, zu machen wissen. Hier ist ein neues recht lustiges Exempel: Virgil redet (lib. I. v. 242. 43.) von den beiden Polen, und sagt:
Hic vertex semper nobis sublimis; at illum
Sub pedibus Styx atra videt, manesque profundi.
Der eine Pol, sagt er, ist uns sublimis; der andere ist uns sub pedibus, und diesen, der uns sub pedibus ist, den sehen Styx atra, manesque profundi. Was kann deutlicher sein? Und doch war es Herrn Duschen nicht deutlich genug, denn er übersetzt: »Ein Pol ist uns allezeit erhaben, den andern aber sehen der Styx und die Manes, unter ihren Füßen.« – Die Manes, unter ihren Füßen? Warum nicht gar unter ihrem Kopfe. Denn Herr Dusch wird wohl einmal gehört haben, daß die Antipoden auf den Köpfen gehen. Und unter den Köpfen läßt sich immer noch eher etwas sehen als, unter den Füßen. – Der Übersetzer hat sich ohne Zweifel abermals durch die Interpretation des Ruäus verführen lassen, welcher den Vers:
Sub pedibus Styx atra videt, Manesque profundi.
in seiner Prose so versetzt und erläutert: sed illum Styx nigra, et umbrae infernae vident sub pedibus. Nur daß man es dem Ruäus nicht so unwidersprechlich beweisen kann, daß er sub pedibus auf die Manes gezogen hat, als dem Herrn Dusch!
Wie finden Sie diese Proben? Was glauben Sie auf die ganze Übersetzung daraus schließen zu können? »daß sie elend ist!« – Übereilen Sie sich nicht. Herr Dusch hat es für eine Bosheit erkläret, aus zwei oder drei Fehlern das Ganze zu verdammen. – Nach dem die Fehler sind, mein Herr Dusch! – Aber diese Ausflucht soll ihm inskünftige nicht mehr zu statten kommen. Und Sie müssen es sich gefallen lassen, darunter zu leiden. – Werfen Sie allenfalls den Brief hier weg, wenn Sie sich Ihrer Schuljahre nicht gern erinnern wollen.
»Ich habe mich genauer an meinen Text gebunden, sagt Herr Dusch, um jungen Leuten die Mühe zu erleichtern, als ich ohne diese Absicht würde getan haben.« – Gut! Aber mußte sich diese Sklaverei gegen den Text auch so weit erstrecken, daß die Worte der deutschen Übersetzung dem Schüler kaum so viel helfen, als ob er sie nach und nach aus dem Wörterbuche zusammen gestoppelt und so hingeschrieben hätte? Daß er nunmehr für:
– – – tenuisque Lageos
Tentatura pedes olim, vincturaque linguam
weiter nichts zu lesen bekömmt, als: den leichten Lageos, der einst deine Füße versuchen, und deine Zunge binden wird? Mußte sie gar so weit gehen, daß Herr Dusch im Deutschen lieber zu einem ganz andern Verstande Anlaß geben, als von der wörtlichen Bedeutung abgehen wollte? Z.E.
Cui tu lacte favos et miti dilue Baccho
übersetzt Herr Dusch: Du aber opfere ihr mit Milch und reifem Weine vermischten Honigseim. Miti Baccho, mit reifem Weine? Es ist wahr, mitis hat die Bedeutung reif, als wo Virgil sagt:
Heu male tum mites defendit pampinus uvas.
Wenn wir aber im Deutschen reif zu Weine setzen, so bedeutet Wein uvas, nicht aber vinum. Gleichwohl will Virgil nicht sagen, daß man der Ceres Honigseim mit Milch und reifen Trauben, sondern mit Milch und lieblichem Weine vermischt, opfern solle. – Mit dem nämlichen Worte reif, begehet Herr Dusch kurz zuvor einen ähnlichen Fehler, der aber noch weit lächerlicher ausfällt. Virgil sagt:
– – – – annua magnae
Sacra refer Cereri, laetis operatus in herbis:
Extremae sub casum hyemis, jam vere sereno.
Tunc agni pingues, et tunc mollissima vina.
Und Herr D. übersetzt: Feiere der großen Ceres ihr jährliches Fest, und bringe ihr auf den grünenden Rasen ihr Opfer; wenn der Winter zu Ende gehet, und der Frühling schon heiter wird. Denn sind die Lämmer fett; denn ist der Wein am reifsten. – Wenn ist der Wein am reifsten? Das ist: wenn gibt es die reifsten Trauben? Wenn der Winter zu Ende geht? Wenn der Frühling nun heiter wird? O mein Herr Dusch, wie leben Sie in der Zeit! – Es kann wohl sein, daß mollis hier und da auch soviel als reif heißt, ob ich mich gleich auf keine Stelle zu besinnen wüßte. Aber es heißt doch nicht immer reif, und wenn es auch immer reif hieße: so hätten Sie es doch hier nicht durch reif geben sollen. –
(Die Fortsetzung folgt.)
II. Den 10. Januar
1760
Beschluß des sieben und siebenzigsten Briefes
Bald vergesse ich es, an wen ich schreibe. Ich wende mich wieder zu Ihnen. Eine wörtliche Übersetzung von dieser Art muß notwendig auch da, wo sie richtig ist, unendlichen Zweideutigkeiten unterworfen sein, und hat, wenn noch so wenig an ihr zu tadeln ist, doch weiter keinen Nutzen, als daß der junge Mensch, dem Herr Dusch die Mühe zu erleichtern sucht, sein Wörterbuch seltener nachschlagen darf. Aber wehe dir, junger Mensch, »dem Herr Dusch die Mühe zu erleichtern sucht«, wenn du darum dein Wörterbuch seltener nachschlägst! Höre im Vertrauen: Herr Dusch selbst hat es zu wenig nachgeschlagen. Er hat dich keiner Mühe überhoben; weil er sich selbst die Mühe nicht geben wollen, das was er nicht wußte, dir zum Besten zu lernen! Nimm dein Wörterbuch, und schlage nach, was heißt Myrtus? du findest ein Myrtenbaum. Und Herr Dusch glaubt, es heiße ein Lorbeerbaum. Denn er übersetzt:
– cingens materna tempora myrto(121)
durch: Daß er die Schläfe mit dem mütterlichen Lorbeer umgürte. Nimm dein Wörterbuch, und schlage nach, was heißt caper? Du findest, ein Ziegenbock. Und Herr Dusch sagt, es heiße eine Ziege Denn er übersetzt:
Non aliam ob culpam Baccho caper omnibus aris
Caeditur.(122)
durch: Nur dieses Verbrechens wegen wird dem Bacchus auf allen Altären eine Ziege geschlachtet. Willst du unterdessen deinen guten Freund hier entschuldigen, so sage: Ei, die Ziege ist hier ein Bock! Und das ist wahr! – Nimm nochmals dein Wörterbuch, und schlage nach, was heißt pernox? Du findest übernächtig. Und Herr D. sagt, es heiße hartnäckig. Denn, wenn Virgil von dem Ochsen sagt, der in dem blutigen Kampfe mit seinen Nebenbuhlern den Kürzern gezogen:
Victus abit, longeque ignotis exulat oris:
Multa gemens ignominiam, plagasque superbi
Victoris, tum quos amisit inultus amores:
Et stabula aspectans regnis excessit avitis.
Ergo omni cura vires exercet, et inter
Dura jacet pernox instrato saxa cubili:
so übersetzt Herr Dusch: Der Überwundene gehet davon, und scheidet weit weg in eine entfernte unbekannte Gegend, und beseufzet kläglich seine Schmach, die Wunde, die er von dem stolzen Sieger empfing, und die Geliebten, die er ungerächet verlor; schauet den Stall an, und scheidet aus dem Reiche seiner Väter. Dann gibt er sich alle Mühe, seine Kräfte zu üben, und liegt hartnäckig auf harten Steinen, ohne Streue. – Pernox, hartnäckig! Siehest du, Herr Dusch wußte nur von einem einzigen Adjectivo in x, und das war pertinax!
Rede ich nicht schon wiederum mit jemand andern? – Als wenn ich es nicht wüßte, daß Sie ohnedem nicht so weit lesen würden. – Wenn ich daher dennoch einen neuen Bogen anlege, so geschieht es nicht, Sie zu unterhalten; es geschieht Herr Duschen zu belehren.
Hier sind noch einige Stellen, mein Herr Dusch, die ich unter dem Durchblättern Ihrer Übersetzung, mit der Bleifeder angestrichen habe. Wir wollen sie näher betrachten.
Virgil sagt, Lib. I. v. III daß auch derjenige Landmann seinem Acker einen großen Dienst erzeige,
– qui ne gravidis procumbat calmus aristis,
Luxuriem segetum tenera depascit in herba,
Cum primum sulcos aequant sata.
dieses übersetzen Sie: Der die geile Saat, sobald sie mit der Furche eine gleiche Höhe erreichet, von seinem Viehe, wenn sie noch im zarten Kraute stehet, abfressen läßt etc. – Mit der Furche eine gleiche Höhe erreichet: ist sehr schlecht gesagt. Die Furchen sind die tiefen Einschnitte, die der Pflug gezogen hat, und sind also auf dem gepflügten Felde, gegen die Striche Erde, welche der Pflug aufwirft, das niedrigste. Wie kann also die Saat zur Höhe dieses niedrigsten Teiles des Ackers wachsen? Die Furchen stehen hier für den Acker überhaupt; und aequare heißt hier eben machen. Der Dichter will also sagen: Wenn die Saat die Furchen eben macht; sie gleichsam mit einem ausgespannten grünen Teppiche überziehet, unter welchem die unebene Fläche des Ackers versteckt liegt. Daß aequare aber eben machen heiße, hätten Sie aus dem 175. Verse eben desselben Buchs lernen können:
Area cum primis ingenti aequanda cylindro.
Es hilft Ihnen nichts, wenn Sie zu Ihrer Entschuldigung auch schon das ventos aequante sagitta aus der Äneis anführen wollten. Ein Übersetzer muß sehen, was einen Sinn macht.
Lib. I. 113
Virgil fährt fort: auch der erzeige seinem Acker eine ersprießliche Wohltat:
– – – Quique paludis
Collectum humorem bibula deducit arena;
Praesertim incertis si mensibus amnis abundans
Exit, et obducto late tenet omnia limo.
Unde cavae tepido sudant humore lacunae.
Der Dichter will sagen: Wenn nach starken Regengüssen, oder nach ausgetretenen Flüssen, auf den Vertiefungen des Ackers Wasser stehen bleibt, und Pfützen macht, so soll der Landmann diese Pfützen bibula deducere arena. Das ist, wie ich es verstehe, mit Sande, als welcher die Eigenschaft hat, daß er das Wasser leicht in sich schluckt, austrocknen. Bibula arena ist mir also das Mittel, wodurch er das Wasser wegschaffen soll. Sie hingegen verstehen den Ort darunter, von welchem er es wegschaffen soll, und übersetzen: der von dem schwammigten Lande das gesammelte Wasser eines Sumpfes ableitet. Sie machen dem Landmanne eine unendliche Mühe! Das Wasser durch Kanäle von dem Acker abzuleiten, ist nichts geringes; und oft wird es für ihn schlechterdings unmöglich sein. Aber die Pfützen mit Sand austrocknen; das kann ihm sehr leicht sein. Ich weiß wohl, Sie haben diesen Fehler mit den gemeinen Auslegern gemein. Denn auch Ruäus erklärt die gegenwärtige Stelle durch: qui derivat ex terra bibula aquam illic collectam, instar paludis. Aber entschuldigen blinde Führer?
Lib. I. v. 133
Virgil will die Ursache angeben, warum Jupiter die freiwillige Fruchtbarkeit des goldnen Weltalters aufgehoben habe, und sagt, es sei geschehen:
Ut varias usus meditando excuderet artes
Paulatim et sulcis frumenti quaereret herbam.
So wie in der ersten Zeile meditando das Mittel und den Weg anzeigt, wie die verschiedenen Künste hervorgebracht werden sollten: so zeigt es auch sulcis in der zweiten an. Die Menschen sollten durch ackern, sich Getreide verschaffen lernen. Sie übersetzen daher ganz links: Damit Erfahrung und Nachsinnen nach und nach verschiedene Künste mit Mühe erfinden, und in den Furchen das Kraut des Getreides suchen möchte. Hier ist alles nur halb recht!
Lib. I. v. 308
– tum figere damas,
Stupea torquentem Balearis verbera fundae:
Cum nix alta jacet, glaciem cum flumina trudunt.
Der Dichter redet von den Beschäftigungen im Winter, und rechnet darunter auch, Gemsen mit der Balearischen Schleuder zu erlegen. Sie aber, mein Herr, machen aus der Balearischen Schleuder, einen Balearischen Schleuderer und sagen dadurch eine Absurdität, denn ich glaube eben nicht, daß auf den Balearischen Inseln tiefer Schnee liegt, und die Flüsse Eisschollen treiben. Dann ist es Zeit für den Balearischen Schleuderer Gemsen zu erlegen, wenn ein tiefer Schnee liegt etc.
Lib. I. v. 475
– pecudesque locutae,
Infandum!
übersetzen Sie: Und Tiere redeten ein entsetzliches Zeichen. Sie nehmen also Infandum hier für das Adjectivum, und glauben es werde als ein Substantivum gebraucht. So aber habe ich es nie gefunden. Es ist hier das Adverbium, oder die Interjektion, wie Sie es nennen wollen. Eben wie in der Äneis:
Navibus, infandum, amissis unius ob iram
Prodimur.
Doch Sie werden sagen: Es fehlet meiner Übersetzung weiter nichts als die Interpunktion nach redeten. Ich will Ihnen glauben.
Sie sehen, ich bin noch immer in dem ersten Buche. Und mehr als das erste Buch habe ich von Ihrer Übersetzung auch nicht gelesen; und auch dieses nur obenhin gelesen. Alles andere aus den übrigen Büchern ist mir bloß bei dem Aufschlagen in die Augen gefallen.
Ich fand z.E. Jährlich muß man drei bis viermal den Boden pflügen, und mit der umgekehrten Hacke die Klöße beständig zerschlagen, und dem ganzen Weingarten die Last der Blätter leichter machen. Was kann man unter diesen letztern Worten anders verstehen, als daß der Dichter die abgefallenen Blätter aus dem Weingarten wegzuschaffen, oder sie unterzuhacken befiehlet? Und doch will Virgil ganz etwas anders sagen; denn
– omne levandum
Fronde nemus(123)
ist von dem sogenannten Blatten zu verstehen, da man die obersten Blätter abreißt, um der Sonne mehr Kraft zu geben. Nemus ist hier eben das, was der Dichter in der 417ten Zeile arbusta nennet. Und Ihre zweideutige Übersetzung würde nur alsdenn zu entschuldigen sein, wenn anstatt nemus, vinea stünde.
Ferner fand ich in eben demselben Buche: Und den Hyläus, der dem Lapithära mit einem schweren Becher drohet. Lapithära? Was ist das für ein Ding? Ich würde es unmöglich haben erraten können, wenn ich nicht den Text zu Hülfe genommen hätte.
– Hylaeum Lapithis cratere minantem.(124)
Ein ganzes Volk so zu einer einzelnen Person zu verstümmeln!
Desgleichen: Auf büschichten Feldern, wo Gruß liegt. Gruß? Was heißt Gruß? Ich muß wirklich den Text wieder zu Hülfe nehmen:
et dumosis calculus arvis (125)
Ah, Sie haben Gries wollen schreiben! Es ist doch vortrefflich, daß Sie Virgil manchmal besser verstehet, als ich. Daß dumosis noch etwas mehr als büschicht heiße, will ich so hingehen lassen.
Auch las ich von ohngefähr die ersten funfzig Zeilen des dritten Buchs. Und wie mancherlei war mir da anstößig. Ich will Ihnen nicht aufmutzen, wie kindisch Sie diese Zeilen:
– Tentanda via est, qua me quoque possim
Tollere humo, victorque virum volitare per ora.(126)
übersetzt haben: Auch ich muß es versuchen, mich auf einer neuen Bahn von der Erde zu erheben, und als ein Sieger durch den Mund der Welt zu fliegen. Volitare per ora virum: durch den Mund der Welt fliegen. Ich will nicht erwähnen, daß es einen ganz schielenden Verstand macht, wenn Sie
Primas Idumaeas referam tibi, Mantua, palmas.(127)
übersetzen: Ich will der erste sein, der dir, Mantua, die idumäischen Palmen bringt. Was für idumäische? Denn so heißt mich der vorgesetzte Artikel die fragen? Es ist kein bloßes poetisches Beiwort mehr, sobald dieser vorgesetzt wird. – Es möchte alles gut sein, wenn Sie nur nicht aus dem feinen Hofmanne, der Virgil war, einen plumpen Prahler machten. Wie haben Sie immer und ewig die Zeilen:
Cuncta mihi, Alpheum linquens lucosque Molorchi
Cursibus et crudo decernet Graecia cestu.(128)
übersetzen können: Das ganze Griechenland wird mir zu Ehren im Wettlaufe streiten. Das vorhergehende illi, nämlich dem Cäsar,
Centum quadrijugos agitabo ad flumina currus
zeiget deutlich, daß mihi hier bloß als ein Füllwort stehet, so wie in unzähligen Stellen: als
Depresso incipiat jam tum mihi taurus aratro
Ingemere etc.
oder
– ah nimium ne sit mihi fertilis illa.
Wenn ein Übersetzer bei dergleichen Gelegenheiten das mihi also ja ausdrücken will, so muß es gleichfalls durch das bloße deutsche Füllwort mir geschehen: »Das ganze Griechenland soll mir im Wettlaufe streiten.« Oder hätten Sie ihm durchaus eine bestimmte Bedeutung geben wollen, so hätten Sie anstatt mir zu Ehren, auf mein Geheiß sagen müssen. Denn nur dieses kann höchstens der Zusammenhang leiden. Ruäus selbst erkläret diese Stelle richtiger, als es sonst seine Gewohnheit ist, durch: meo jussu certabit cursu etc. – Doch itzt erst werde ich gewahr, daß Ihr Martin selbst, dem Dr. Trapp zu Folge, dieses mihi, durch in meum honorem gibt. Er irret sich ganz gewiß; und Sie, der Sie an mehrern Stellen von ihm abgehen, hätten ihm hier am wenigsten folgen sollen. Eben so wenig hätten Sie sich, bei dem 58ten Verse, durch seine angeführte Stelle aus dem Columella, sollen verführen lassen. Der Dichter will lehren, wie eine gute Zuchtkuh gestaltet sein müsse, und setzt endlich hinzu
– – quaeque ardua tota.(129)
Sie übersetzen dieses: imgleichen, wenn sie hoch ist. Arduus heißt nicht was vergleichungsweise hoch ist, sondern was sich hoch trägt. So sagt der Dichter anderswo:
Hinc bellator equus campo sese arduus infert.
Desgleichen sagt er von einer überfahrenen Schlange:
Parte ferox, ardensque oculis et sibila colla
Arduus attollens etc.
Und noch von einem andern Pferde:
– Frontemque ostentans arduus albam.
Kurz, der Dichter redet von einer Kuh, die den Hals hoch trägt, und nicht von einer, die ihrer ganzen Gestalt nach hoch ist. Eben dasselbe Merkmal verlangt er auch an einer Zuchtstute, wo er sich weniger zweifelhaft ausdrücket:
– – Illi ardua cervix etc.
Und nun sollte ich Ihnen auch etwas aus dem vierten Buche anführen. Doch dieses will ich nicht eher tun, als bis Sie mir Trotz bieten werden, Ihnen in dem vierten Buche einen Fehler zu zeigen. Ich weiß, mit diesem Trotz bieten sind Sie sehr geschwind.
Auch sollte ich von Ihren Anmerkungen noch etwas sagen. Wo Sie gute Leute ausgeschrieben haben, da sind sie so ziemlich gut. Wo Sie aber etwas aus Ihren eigenen Kräften versuchen wollen, da glauben Sie gar nicht wie klein Sie erscheinen! Ich nehme die Anmerkung 20) Seite 625 zum Beweise; wo die Worte: nec gratia terrae nulla est, quam inaratae terrae, ein sauberes Pröbchen einer ganz vortrefflichen Latinität sind.
Und warum prahlen Sie mit der Richtigkeit Ihres Textes? Er ist höchst fehlerhaft, und ohne eine bessere Ausgabe nicht wohl zu brauchen. So stehet injusta für injussa, sperantia für spirantia etc. – Doch das sind alles Kleinigkeiten! Sie haben uns wieder ein dickes Buch geliefert; und dafür müssen wir Ihnen freilich verbunden sein. –
Gnug mit dem Herrn Dusch gesprochen! Was unsere galanten Briefsteller die courtoisie nennen, das ist nunmehr wieder an Sie gerichtet. Ich bin etc.
A.
VI. Den 7. Februar
1760
Ein und achtzigster Brief
Der Verfasser der scherzhaften Lieder, deren größter Teil Ihnen wegen seiner naiven Wendungen und feinen Sprache, so viel Vergnügen gemacht hat, und von welchen bereits eine zweite verbesserte Auflage erschienen ist, hat sich aufs neue in einer andern, und höheren Sphäre gezeigt. In der tragischen.(130) Und mit Ehren.
»Was?« – wird ohne Zweifel auch hier der kritische Freund des Herrn Dusch auffahren – »Was? ein Witzling, der den Geist der anakreontischen Gedichte besitzet, sollte auch den Geist der Tragödie besitzen? Der eine erschüttert das Herz; Schrecken und Tränen stehen ihm zu Gebote; der andere erregt ein kurzes Vergnügen über einen unerwarteten Einfall; und wenn er uns ermuntert hat, und wenn wir lachen, so hat er alle Ehre, die er hoffen kann. – Man sollte glauben,« fährt dieser tiefsinnige Kunstrichter fort, »daß diese beiden sehr verschiedenen Eigenschaften sich nicht wohl mit einander vertragen könnten. Ich wenigstens«(131) –
Ja, er wenigstens! – Er, der Freund des Herrn Dusch! – Er wird es solchergestalt gleich a priori wissen, daß die Trauerspiele unsers scherzhaften Liederdichters nichts taugen. Wollen Sie es bei dieser philosophischen Nativitätstellung bewenden lassen? Oder wünschten Sie lieber, mit Ihren eigenen Augen zu sehen, und nach Ihren eigenen Empfindungen zu schließen? – Ich weiß schon, was Sie tun werden; und dieser Brief mag Sie darauf vorbereiten.
In dem Vorberichte klaget Herr Weise – denn warum sollte ich Bedenken tragen, Ihnen den Mann zu nennen, der Ihnen gefallen hat, und den Sie nun bald hoch schätzen werden? – über den Mangel an deutschen Trauerspielen. Daß es den Deutschen am tragischen Genie fehlen sollte, kann er sich nicht überreden. »Aber ein unglückliches Schicksal, sagt er, hat bisher über die deutsche Schaubühne gewaltet. Einige dieser Lieblinge der Musen sind in der Morgenröte ihres Witzes verblühet, und haben uns durch ihre ersten Früchte gezeiget, was für eine angenehme Hoffnung wir mit ihnen verloren haben.« – Dieses muß Sie an die Herren von Cronegk und von Brawe erinnern, von welchen beiden ohne Zweifel der letztere das größere tragische Genie war. Er hat noch ein Trauerspiel in Versen völlig ausgearbeitet hinterlassen, und Freunde, die es gelesen haben, versichern mich, daß er darin mehr geleistet, als er selbst durch seinen »Freigeist« zu versprechen geschienen. – »Andere«, fähret Herr W. fort, »lassen, wir wissen nicht aus was für unglücklichen Ursachen, die Jahre des Genies vorbei fliehen: sie schmeicheln uns mit Hoffnung, und lassen sie unerfüllet, bis sie die Geschäfte des Lebens überhäufen, oder sie sich in andere Sorgen verteilen.« – Ich kann nicht sagen, wer diese andere sind. Sind es aber wirklich tragische Genies, so verspreche ich mir von ihrer Verzögerung mehr Gutes als Schlimmes. Die Jahre der Jugend sind die Jahre nicht, von welchen wir tragische Meisterstücke erwarten dürfen. Alles was auch der beste Kopf in dieser Gattung, unter dem dreißigsten Jahre, leisten kann, sind Versuche. Je mehr man versucht, je mehr verdirbt man sich oft. Man fange nicht eher an zu arbeiten, als bis man seiner Sache zum größten Teile gewiß ist! Und wenn kann man dieses sein? Wenn man die Natur, wenn man die Alten gnugsam studieret hat. Das aber sind lange Lehrjahre! Gnug, daß die Jahre der Meisterschaft dafür auch desto länger dauern. Sophokles schrieb Trauerspiele bis in die achzigsten Jahre. Und wie gut ist es einem Tragicus, wenn er das wilde Feuer, die jugendliche Fertigkeit verloren hat, die so oft Genie heißen, und es so selten sind. »Noch andern, heißt es weiter, fehlt es an Aufmunterung; sie haben niemals eine gute Schauspielergesellschaft gesehen, und kennen die dramatische Dichtkunst bloß aus den Aristoteles und Hedelin.« –
Das ist ohne Zweifel ein Hauptpunkt! Wir haben kein Theater. Wir haben keine Schauspieler. Wir haben keine Zuhörer. – Hören Sie, was ein neuer französischer Schriftsteller(132) von diesem Punkte der Aufmunterung sagt: »Eigentlich zu reden, sagt er, gibt es ganz und gar keine öffentlichen Schauspiele mehr. Was sind unsere Versammlungen in dem Schauplatze, auch an den allerzahlreichsten Tagen, gegen die Versammlungen des Volks zu Athen und zu Rom? Die alten Bühnen konnten an die achtzig tausend Bürger einnehmen. Die Bühne des Scaurus war mit drei hundert und sechzig Säulen, und mit drei tausend Statuen gezieret. Wie viel Gewalt aber eine große Menge von Zuschauern habe, das kann man überhaupt aus dem Eindrucke, den die Menschen auf einander machen, und aus der Mitteilung der Leidenschaften abnehmen, die man bei Rebellionen wahrnimmt. Ja der, dessen Empfindungen, durch die große Anzahl derjenigen, welche daran Teil nehmen, nicht höher steigen, muß irgend ein heimliches Laster haben; es findet sich in seinem Charakter etwas Einsiedlerisches, das mir nicht gefällt. Kann nun ein großer Zulauf von Menschen die Rührung der Zuschauer so sehr vermehren, welchen Einfluß muß er nicht auf die Verfasser, und auf die Schauspieler haben? Welcher Unterschied, zwischen heut oder morgen einmal, ein Paar Stunden, einige hundert Personen, an einem finstern Orte zu unterhalten; und die Aufmerksamkeit eines ganzen Volkes, an seinen feierlichsten Tagen zu beschäftigen, im Besitz seiner prächtigsten Gebäude zu sein, und diese Gebäude mit einer unzählbaren Menge umringt und erfüllt zu sehen, deren Vergnügen oder Langeweile von unsern Talenten abhangen soll?« – So redet ein Franzose! Und welcher Sprung von dem Franzosen auf den Deutschen! Der Franzose hat doch wenigstens noch eine Bühne; da der Deutsche kaum Buden hat. Die Bühne des Franzosen ist doch wenigstens das Vergnügen einer ganzen großen Hauptstadt; da in den Hauptstädten des Deutschen, die Bude der Spott des Pöbels ist. Der Franzose kann sich doch wenigstens rühmen, oft seinen Monarchen, einen ganzen prächtigen Hof, die größten und würdigsten Männer des Reichs, die feinste Welt zu unterhalten; da der Deutsche sehr zufrieden sein muß, wenn ihm ein Paar Dutzend ehrliche Privatleute, die sich schüchtern nach der Bude geschlichen, zuhören wollen.
Doch lassen Sie uns recht aufrichtig sein. Daß es mit dem deutschen Drama noch so gar elend aussiehet, ist vielleicht nicht einzig und allein die Schuld der Großen, die es an ihrem Schutze, an ihrer Unterstützung mangeln lassen. Die Großen geben sich nicht gern mit Dingen ab, bei welchen sie wenig oder gar keinen glücklichen Fortgang voraussehen.
Und wenn sie unsere Schauspieler betrachten, was können ihnen diese versprechen? Leute ohne Erziehung, ohne Welt, ohne Talente; ein Meister Schneider, ein Ding, das noch vor ein paar Monaten Wäschermädchen war etc. Was können die Großen an solchen Leuten erblicken, das ihnen im geringsten ähnlich wäre, und sie auffrischen könnte, diese ihre Repräsentarii auf der Bühne, in einen bessern und geachtetern Stand zu setzen? –
Ich verliere mich in diesen allgemeinen Betrachtungen, die uns noch sobald keine Änderung hoffen lassen. – Das erste Trauerspiel des Hrn. Weise heißt: »Eduard der Dritte«.
Eduard der Zweite war gezwungen worden, sich von der Regierung los zu sagen, und es geschehen zu lassen, daß sie auf seinen Sohn, Eduard den Dritten übergetragen wurde, während dessen Minderjährigkeit seine Mutter Isabella, mit ihrem Lieblinge Mortimer freie Hand zu haben hofften, und sie eine Zeitlang auch wirklich hatten. Der abgesetzte König ward aus einem Gefängnisse ins andere geschleppt; und ich habe folgenden Umstand bei dem Rapin nie ohne die größte Rührung lesen können. »Als ihn die Ritter Maltraves und Gournay, die ihm als Wächter oder vielmehr als Peiniger zugegeben waren, in sein letztes Gefängnis, in das Schloß zu Barkley brachten, nahmen sie tausend unanständige Dinge mit ihm vor, sogar daß sie ihm auf freiem Felde mit kaltem Wasser, welches aus einem schlammigten Graben genommen worden, den Bart putzen ließen. So viel Beständigkeit er auch bis dahin bezeuget hatte, so konnte er sich doch bei dieser Gelegenheit nicht enthalten, sein Unglück zu beweinen, und zu erkennen zu geben, wie sehr er davon gerührt sei. Unter den Klagen und Vorwürfen, die er denjenigen machte, welche ihm mit so vieler Grausamkeit begegneten, sagte er, daß sie, sie möchten auch machen, was sie wollten, ihm doch nicht den Gebrauch des heißen Wassers nehmen sollten, um sich den Bart putzen zu lassen. Und indem ließ er zwei Ströme von heißen Tränen aus seinen Augen die Wangen herabfließen.«
Der arme Mann! – Und es war ein König! – Aber was fällt Ihnen sonst bei dieser Antwort ein? Wenn sie ein Dichter erfunden hätte, würde nicht der gemeine Haufe der Kunstrichter sagen: sie ist unnatürlich; der Schmerz ist so witzig nicht? Und doch war der Schmerz hier so witzig; wenn derjenige anders witzig ist, der das sagt, was ihm die Umstände in den Mund legen. Demnach denke nur auch der Dichter vor allen Dingen darauf, seine Personen, so zu reden, in eine witzige Situation zu setzen? und er kann gewiß sein, daß alle der Witz, den ihnen diese Situation gibt, nicht nur untadelhaft, sondern höchst pathetisch sein wird. Diderot, den ich Ihnen oben angeführt habe, erläutert den nämlichen Satz durch das Exempel einer geringern Person: »Eine Bäuerin, erzählt er, schickte ihren Mann zu ihren Ältern, die in einem benachbarten Dorfe wohnten. Und da ward dieser Unglückliche von einem seiner Schwäger erschlagen. Des Tages darauf ging ich in das Haus, wo sich der Fall zugetragen hatte. Ich erblickte ein Bild, und hörte eine Rede, die ich noch nicht vergessen habe. Der Tote lag auf einem Bette. Die nackten Beine hingen aus dem Bette heraus. Seine Frau lag, mit zerstreuten Haaren, auf der Erde. Sie hielt die Füße ihres Mannes, und sagte unter Vergießung von Tränen, und mit einer Aktion, die allen Anwesenden Tränen auspreßte: Ach, als ich dich hieher schickte, hätte ich wohl geglaubt, daß diese Füße dich zum Tode trügen!« Auch das war Witz, und noch dazu Witz einer Bäuerin; aber die Umstände machten ihn unvermeidlich. Und folglich auch muß man die Entschuldigung der witzigen Ausdrücke des Schmerzes und der Betrübnis nicht darin suchen, daß die Person, welche sie sagt, eine vornehme, wohl erzogene, verständige und auch sonst witzige Person sei; denn die Leidenschaften machen alle Menschen wieder gleich: sondern darin, daß wahrscheinlicher Weise ein jeder Mensch ohne Unterschied, in den nämlichen Umständen das nämliche sagen würde. Den Gedanken der Bäuerin hätte eine Königin haben können, und haben müssen: so wie das, was dort der König sagt, auch ein Bauer hätte sagen können, und ohne Zweifel würde gesagt haben.
Aber ich komme von unserm Eduard ab. Sie wissen sein grausames Ende. Er wollte vor Betrübnis und Kummer nicht bald genug sterben. Seine Wächter erhielten also Befehl, Hand anzulegen. Sie überfielen ihn, und steckten ihm eine Röhre von Horn in den Leib, durch welche sie ein glühendes Eisen stießen, das ihm das Eingeweide verbrennen mußte. Er starb unter den entsetzlichsten Schmerzen; und sein Sohn ward überredet, daß er eines natürlichen Todes gestorben sei.
Der Bruder dieses Unglücklichen, und der Oheim des jungen Königes, Edmund Graf von Kent, hatte an der Veränderung der Regierung nicht geringen Anteil gehabt. Er hatte sich von den Kunstgriffen der Isabella hintergehen lassen, und erkannte es zu spät, daß er seiner brüderlichen Liebe, zum Besten einer Buhlerin, und nicht zum Besten seines Vaterlandes, vergessen habe. Seine Großmut erlaubte ihm nicht, sich lange zu verstellen. Er ließ es Isabellen und ihrem Mortimer gar bald merken, wie übel er mit ihrer Aufführung zufrieden sei; und da sein Verhalten sonst unsträflich war, so konnten ihm diese nicht anders als mit List beikommen. Sie ließen ihm nämlich durch Personen, die er für seine Freunde hielt, auf eine geschickte Art zu verstehen geben, daß sein Bruder Eduard noch am Leben sei, und daß man seinen Tod aus keiner andern Ursache ausgesprengt habe, als um den Bewegungen zuvor zu kommen, die seine Anhänger erwecken könnten. Sie fügten hinzu, daß er in dem Schlosse Corfe genau bewahret werde, und wußten dieses vorgegebene Geheimnis nicht allein durch verschiedene Umstände zu unterstützen, sondern auch durch das Zeugnis vieler angesehenen Personen zu bestätigen, unter welchen sich zwei Bischöfe befanden, die entweder sowohl als Edmund betrogen waren, oder ihn betriegen halfen. Der ehrliche Edmund ließ sich in dieser Schlinge fangen, und faßte den Anschlag, seinen Bruder aus dem Gefängnisse zu ziehen. Er begab sich selbst nach Corfe, und verlangte frei heraus, zu seinem Bruder gelassen zu werden. Der Befehlshaber des Schlosses stellte sich bestürzt, daß Edmund von diesem Geheimnisse Nachricht bekommen habe, und leugnete ihm gar nicht, daß Eduard in dem Schlosse sei, aber er versicherte ihm, daß er die nachdrücklichsten Befehle habe, niemanden zu ihm zu lassen. Edmund verdoppelte sein Anhalten; der Befehlshaber bestand auf seiner Weigerung; endlich faßte jener den unglücklichen Entschluß, diesem ein Schreiben an den Gefangenen anzuvertrauen, in welchem er ihm versicherte, daß er mit allem Ernste an seiner Freiheit arbeiten wolle. Dieses Schreiben ward sogleich der Königin gebracht! Sie hatte ihren Zweck erreicht; Edmund hatte sich strafbar gemacht. Sie vergrößerte ihrem Sohne die Gefahr, in der er sich durch die Ränke seines Oheims befinde; und kurz, Edmund verlor seinen Kopf.
Nun darf ich Ihnen bloß sagen, daß unser Dichter diese gegen den Edmund gebrauchte List, als eine Wahrheit angenommen, und das Schicksal des Edmunds mit dem Schicksale des gefangenen Königs verbunden hat: und sogleich wird Ihnen der ganze Inhalt des Stückes ohngefähr in die Gedanken schießen. Die Ökonomie ist die gewöhnliche Ökonomie der französischen Trauerspiele, an welcher wenig auszusetzen, aber selten auch viel zu rühmen ist. Und eben daher kann ich mich in keine Zergliederung einlassen.
Das erste Dutzend Verse verspricht, in Ansehung des Ausdruckes und der Wendung, nichts geringers als eine Schlegelsche Versifikation.
Lokester zu dem Grafen von Kent.
Ja Freund, dies ist der Dank, den man am Hofe gibt,
Wo man den Edeln haßt, und den Verräter liebt!
Ich, der der Königin ein Heer nach Suffolk brachte,
Mich bei der Welt verhaßt, und sie gefürchtet machte,
Die oft durch meinen Rat, stets durch mein Schwerd gekriegt,
Durch jenen Ruhm erwarb, durch dieses oft gesiegt;
Ich, der an sie zuletzt den König selbst verraten,
So sehr sein Elend sprach und Freunde für ihn baten:
Ich werd itzt kaum gehört, und niemals mehr befragt,
Und wär ich ohne dich, so wär ich schon verjagt.
Doch dieser schöne Anfang zeigt nur, wie edel die Sprache unsers Dichters sein könnte, wenn er sich überall die gehörige Mühe gegeben hätte. Er hat sich leider ein wenig zu oft vernachlässiget, und dadurch selbst seinen Charakteren und Situationen den größten Schaden getan. Charaktere und Situationen sind die Contours des Gemäldes; die Sprache ist die Colorite; und man bleibt ohne diese nur immer die Hälfte von einem Maler, die Hälfte von einem Dichter.
Ich will Sie aber dadurch nicht abgeschreckt haben! So wie der Anfang ist, so werden Sie noch unzähliche Stellen finden. Besonders in den Szenen, die Edmund mit dem jungen Könige, und mit der Isabella hat. Was kann, einige Kleinigkeiten ausgenommen, stärker sein, als folgende Stelle? Edmund hat der Königin bittere Wahrheiten, in Gegenwart ihres Sohnes hören lassen; und sie versetzt: Er habe eine andere Sprache geführt,
– – – – so lang er noch geglaubt,
Daß er für sich allein nur Englands Thron geraubt.
Edmund. – – – – Nein; sprich, so lang er glaubte,
Daß nicht die Königin für Mortimern ihn raubte;
So lang er noch geglaubt, es stritte seine Hand
Für Freiheit, und Gesetz, und Prinz und Vaterland;
So lang er noch geglaubt, daß er der Briten Rechte,
Die Schottland an sich riß, durch seinen Mut verfechte;
So lang er noch geglaubt, daß Englands Ruh und Glück
Dein großer Endzweck wär, und daß man das Geschick
Der Staaten Albions, der Herrschaft schwere Bürde,
Den Weisesten des Reichs indes vertrauen würde:
Allein so bald er sah, daß Geiz nach eigner Macht,
Stolz, blinde Rachbegier den Anschlag ausgedacht,
Daß man nicht für das Glück des besten Prinzen sorgte,
Und zu der Missetat frech seinen Namen borgte,
Daß man den König nicht der Freiheit überließ,
Durch Barbarngleiche Wut ihn in den Kerker stieß,
Wo man vielleicht noch itzt den Unglückselgen quälet,
Wenn unaussprechlich Leid ihn nicht bereits entseelet –
Isabella die ihrem Sohne den Degen von der Seite reißen will.
Verwegner! Rasender! entgehe meiner Wut –
Edmund. Kühl in des Lieblings Arm dein aufgebrachtes Blut! etc.
G.
XII. Den 20. März
1760
Ein und neunzigster Brief
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Noch ein Wort von der schuldigen Ehrenrettung des Herrn Prof. Gottscheds! Die vermeinte Ehrenrührung, darüber sich Herr Gottsched beschwert, gründet sich auf einen Brief im 17ten Stücke der Schadischen Staats- und gelehrten Zeitung, in welchem ein gewisser G. aus L. versichert, er sei der Verfasser der bekannten Schrift, die der Herr von V. unter dem Titel: Candide ou l’Optimisme, traduit de l’allemand de Mons. le Docteur Ralph, im französischen herausgegeben. Er, Herr G. aus L. habe das Manuskript an seinen vertrauten Freund, den Herrn S. G. nach Paris geschickt, es sei aber demselben entwendet, und darauf so ins Französische übersetzt worden, »wie die Herren Franzosen gemeiniglich die deutschen Schriften zu übersetzen pflegen.« Er verwundert sich über den Herrn v. V. daß er ihm einen solchen Streich gespielet, da er, V. ihm, dem Herrn G. doch mehr als einmal öffentliche Zeugnisse seiner Hochachtung gegeben, und noch mehr befremdet es ihn, daß ihm V. den Namen Doktor Ralph beigelegt, da ihm doch der Name G. beinahe so gut bekannt sein müßte, als sein eigener. »Jedoch, setzt Herr G. hinzu, man kann ungefähr die Ursachen des Neides erraten, seitdem ich einer Gnade gewürdigt worden, von welcher nicht nur ganz Germanien spricht, sondern die auch in Frankreich hat bekannt werden müssen.« Herr Gottsched, der selten Spaß verstehet, besorgte, die ganze Welt würde ihn für den Verfasser des »Candide« halten, »und einem Unschuldigen, wie er sich im Neuesten ausdrückt, solche groben Irrtümer, und satyrische Verwegenheit zuschreiben, davon ihn in seinem Leben nicht geträumet hat.« Er machte gewaltigen Lärm in seinem Neuesten, schrieb auch deswegen an Schaden. Dieser schiebt die Schuld auf den Sekretär Dreyer, und versichert, er habe die Schrift, Candide niemals gelesen, und sich daher gar nicht vorstellen können, daß eine Bosheit darunter stecke. Um aber dem Herrn Dreyer gar keine Ausflucht zu lassen, beweiset Herr Schade in bester Form, daß man den Herrn Pr. Gottsched notwendig für den Urheber besagten Briefes halten müsse; 1) aus dem Anfangsbuchstaben des Orts L. 2) aus dem Anfangsbuchstaben des Namens G. 3) aus der Gnade, die dem Herrn Pr. Gottsched von Sr. Königl. Maj. in Preußen widerfahren, und endlich 4) aus dem vertraueten Freund S. G. zu Paris. Doch trauet Herr Sch. dem letzten Beweis selbst nicht viel zu, und mit Recht! denn wer weiß, wie viel vertraute Freunde in Paris S. G. heißen mögen?
Dem sei wie ihm wolle, Gottsched erlangt Genugtuung, und Herr Schade demonstriert gar deutlich, daß Herr Gottsched unmöglich der Verf. des Candide sein könne. Ich dächte Gottsched hätte sich immer auf seine Unschuld verlassen können. Kein Vernünftiger wird in ihm den schalkhaften Doktor Ralph suchen. Eher möchte ich Dreyer für den Erfinder der vernünftigen Archäenwanderung, als Gottsched für den Verf. des Candide halten.
Z.
N.S.
Ich kann diesen Brief unsers Z. unmöglich ohne einen kleinen Zusatz fortschicken. Der gute Z., sehe ich wohl, verstehet von den Gottschedischen Autorstreichen eben so wenig als von der Schadischen Archäenwanderung. Würde er sonst die Protestation des Professors, daß er der Verfasser des »Candide« nicht sei, so gutherzig an und aufgenommen haben? Woraus beweiset Herr Gottsched, daß er den »Candide« nicht könne gemacht haben? Nicht wahr, aus seiner Verabscheuung der darin vorgetragenen Lehren? Wenn ich Ihnen nun aber beweise, daß er diese Verabscheuung nur vorgibt, und daß er das aller unsinnigste, was im »Candide« zu finden ist, in völligem Ernste behauptet? Wie da? Und nichts ist leichter zu beweisen. Erinnern Sie sich wohl den närrischen italienischen Grafen im »Candide«, dem nichts mehr gefällt, der alles überdrüssig geworden ist, der von den vortrefflichsten Werken der Alten und Neuern auf eine so skurrile Art urteilet, daß man notwendig an seinem gesunden Verstande zweifeln muß? Sollte man nicht glauben, daß dieser rasende Virtuose nur deswegen eingeführet worden, um ihn durch seinen eigenen Mund lächerlich und verächtlich zu machen? Notwendig. Und doch betriegen wir uns alle, die wir dieses glauben. Denn sieh, Herr Gottsched erkläret ausdrücklich, in seinem Handlexico der schönen Wissenschaften, daß es die pure lautere Wahrheit sein soll, was der närrische Italiener sagt. Kann man das anders als eine authentische Erklärung, als eine Erklärung annehmen, die der Verfasser als derjenige gibt, der sich seiner Meinung am besten bewußt sein muß? Er schreibt nämlich unter dem Artikel Milton. »Das verlorene Paradies hat unter den Deutschen so viele Bewunderer und Tadler gefunden, daß wir unsere Meinung nicht sagen, sondern nur die Worte eines auch unstreitig großen französischen Dichters (der aber auch gut Engländisch versteht) hieher setzen wollen.« – Und nun folgt das atrabiläre Urteil des Grafen, welches ich Ihnen unmöglich abschreiben kann, weil es wahre Tollheiten sind. Herr Gottsched aber schließt es mit den Worten: »So schreibt Herr von Voltaire in seinem Optimisme.« – Wir kennen den Voltaire nunmehr, der das geschrieben hat! Denn was? Das wäre Voltairens Urteil über den Milton? Das ist das Urteil des Sénateur Procuranté Noble Venitien! (Denn itzt besinne ich mich erst, daß ihn Herr Gottsched zu keinem Grafen gemacht hat) Das ist das Urteil Viri celeberrimi Joannis Christophori Gottschedii P. P. Metaphysices ordinarii et Poeseos extraordinarii in Academia Lipsiensi. – Und kurz, glauben Sie mir nur auf mein Wort, ich weiß es eben so gewiß, daß Herr Gottsched den »Candide« gemacht hat, als Herr Gottsched weiß, daß der Verfasser der »Miß Sara Sampson« die »Briefe die neueste Literatur betreffend«, macht.(133)
G.
Sechster Teil
1760
XIX. Den 8. Mai 1760
Hundert und zweiter Brief
Der zweite Teil des »Nordischen Aufsehers« ist noch nicht hier. Sie müssen sich gedulden. – Aber hätte ich Ihnen doch nie etwas von diesem Werke geschrieben! Ich hätte es vor aussehen sollen, wofür man meine Freimütigkeit aufnehmen würde. Die kleine Wolke, die der Hamb. »Anzeiger« über meinen Horizont heraufgeführet,(134) hat sich in ein erschreckliches Ungewitter ausgebreitet. Und es ist keine unbekannte Stimme mehr, die aus der finstern Höhe desselben auf mich herabdonnert. Es ist die Stimme eines Professors, eines berühmten Professors, der von der Grammatik an bis auf die Philosophie, seine Lehrbücher geschrieben hat.
Hier ist der Titel dieses Ungewitters: »Vergleichung der Lehren und Schreibart des Nordischen Aufsehers, und besonders des Herrn Hofprediger Cramers, mit den merkwürdigen Beschuldigungen gegen dieselben, in den Briefen, die neueste Literatur betreffend, aufrichtig angestellt von Johann Basedow, Prof. der Königl. Dän. Ritterakad.«(135) Nun? werden Sie sagen. Das verspricht doch auch kein Ungewitter. Herr Basedow will ja nur vergleichen; und aufrichtig vergleichen; er redet ja nur von merkwürdigen Beschuldigungen. – O Sie vergessen, daß das Titelblatt eines Orkans die Meerstille ist.
Erlauben Sie mir immer, mich ein wenig possierlich auszudrücken. Denn wenn ich einen ernsthaften Ton annehmen wollte: so könnte ich leicht empfindlich werden. Und das wäre ein Sieg, den ich nicht gern einem Gegner über mich verstatten wollte. – Was Herr Basedow auf dem Titel merkwürdige Beschuldigungen nennt, heißen einige Seiten weiter, offenbar falsche, grausame, bis zu einer seltnen Grausamkeit getriebene Beschuldigungen. Meine Kritik ist hart, bitter, lieblos, unbesonnen; und zwar so lieblos und so unbesonnen, daß man ohne Traurigkeit an ihre Existenz zu unsern Zeiten nicht denken kann. Sie ist ein Phänomenon, dessen Wirklichkeit man ohne einigen Beweis auf ein bloßes Wort fast nicht glauben würde. Ich besitze eine schamlose Dreistigkeit. Ich verleumde. Ich habe abscheuliche Absichten. Ich habe das schwärzeste Laster begangen. Ich habe einen unglücklichen Charakter. Ich verdiene den Abscheu der Welt. Er wünschet aus Menschenliebe, daß ich mich den Augen der Welt verbergen könne. Nun da! So einen Freund haben Sie! – Wie beredt ist die Menschenliebe des Herrn Basedow! Welch einen Spiegel hält sie mir vor! Er stehet hinter mir, und zeiget mir ein Ungeheuer darin. Ich erschrecke, und sehe mich um, welcher von uns beiden das Ungeheuer ist. Diese Bewegung ist natürlich.
Könnte man härtere Dinge von mir sagen, wenn ich mich auch des Hochverrats schuldig gemacht hätte? Wenn ich auch den Himmel gelästert hätte? Ich habe das schwärzeste Laster begangen. Ich habe einen unglücklichen Charakter. Ich verdiene den Abscheu der Welt. Wer ist denn die Majestät, die ich beleidiget habe? »Alle Kenner, stößt Herr Basedow in die Trommete, alle Kenner der itzigen Gelehrsamkeit der Teutschen, wissen die Verdienste des Herrn Hofprediger Cramers.« Der Verfasser der nach dem Bossuetschen Muster fortgesetzten Weltgeschichte; der neueste und sorgfältigste Ausleger des Briefes an die Hebräer; der geistliche Redner, der in unsern Tagen kaum so viel Predigten schreiben kann, als die Welt von ihm zu lesen verlangt; der Übersetzer des »Chrysostomus«, welcher seinem Originale gleicht, das er durch viele Anmerkungen und Abhandlungen bereichert hat; derjenige, dem wir die beste Übersetzung der Davidischen Psalmen in gebundner Schreibart zu danken haben; der Verfasser des »Schutzgeistes«; derjenige, der an dem »Jünglinge«, den Bremischen Beiträgen, und darauf erfolgten »Vermischten Schriften«, einen ansehnlichen Anteil genommen hat; endlich der Verfasser der meisten Stücke des »Nordischen Aufsehers«, sind nur – – ein einziger Mann, welcher in der ersten Hälfte der gewöhnlichen Lebenszeit ein solcher einziger Mann ist! –
Sie sehen, Herr Basedow nimmt das Maul voll, er mag schmähen, oder er mag loben. Die Hyperbel ist seine Lieblingsfigur in beiden Fällen. Dieser einzige Mann! Nicht zu vergessen: er war auch einer von den hällischen Bemühern, dieser einzige Mann! – Aber soll ich ungerecht gegen jemand sein, weil ihn ein Schmeichler auf eine unverschämte Art lobt? Nein. – Herr Cramer ist allerdings ein verdienter Gottesgelehrter; einer von unsern trefflichsten Schriftstellern. Aber Herr Cramer ist ein Mensch; könnte er in einer Wochenschrift nicht etwas gemacht haben, was ihm nicht ähnlich wäre? Und wenn ich das und das an ihm mißbillige, verkenne ich darum seine Verdienste?
Ich weiß gar nicht, was Herr Basedow will. Für ihn schickte es sich am allerwenigsten, der Verfechter des »Nordischen Aufsehers« zu werden. Er hat Lobsprüche darin erhalten, die seine Unparteilichkeit sehr zweifelhaft machen müssen. Ich beneide ihm diese Lobsprüche nicht. Ich spreche sie ihm auch nicht ab. Aber man dürfte sagen: eine Hand wäscht die andere. Und noch mehr. Herr Basedow ist selbst einer von den Verfassern des »Nordischen Aufsehers«. Es würde mir ein Leichtes sein, die Stücke zu nennen, die ganz gewiß niemand anders als er gemacht hat: oder ich müßte mich auf die Schreibart wenig verstehen. Wenn man nun also vermutete, daß es ihm nicht sowohl um die Wahrheit, nicht sowohl um die Ehre des Herrn Cramers, als um seine eigene Ehre, um die Ehre eines Buchs zu tun sei, in welchem er gerne wolle, daß ein ewiger Weihrauch für ihn dampfe; eines Buchs, das er gewisser Maßen auch sein Buch nennen kann?
Herr Cramer selbst findet sich ja durch unsere Kritik bei weiten nicht so beleidigt, als ihn Herr Basedow beleidiget zu sein vorgibt. Denn er soll ihrer, in der Vorrede zu dem zweiten Bande, ganz gleichgültig erwähnt haben. Und warum nicht? Herr Cramer ist ein rechtschaffener Mann, den es auf keine Weise befremdet, wenn andere andrer Meinung sind, und er nicht immer den Beifall erhält, den er sich überhaupt zu erhalten bestrebet. Diese lautere Quelle gebe ich seinem Betragen, ob ihm gleich Herr Basedow eine ganz andere gibt. »Die Selbstverteidigung, sagt er, wenn sie nicht zu unvollständig scheinen sollte, müßte oftmals in einem Tone reden, der von denjenigen, die alles, was sie sehen und hören, in Fehler und Laster verwandeln, für den Ton einer verdächtigen Zufriedenheit mit sich selbst könnte ausgegeben werden. Überdem pflegen Seelen von einer gewissen Würde so wenig furchtsam und argwöhnisch zu sein, daß sie, wenn ihre Unschuld in einem gewissen Grade klar ist, bei der verständigen und billigen Welt keine Verantwortung derselben zu bedürfen glauben.« – Nicht doch! So ein großes Air hat Herr Cramer gewiß nicht affectieren wollen. Hätte er es aber affectieren wollen, so hätte sein Freund keinen solchen Commentarium darüber schreiben müssen. Er hätte es müssen darauf ankommen lassen, ob man diesen edlen Stolz, den Seelen von einer gewissen Würde haben, von selbst merken werde.
Denn nur alsdenn tut er seine Wirkung. Keine Großmut will mit Fingern gewiesen sein. Sind es gar die Finger eines Freundes, o so wird sie vollends lächerlich! etc.
G.
Hundert und dritter Brief
Auch nicht in der geringsten Kleinigkeit will mich Herr Basedow Recht haben lassen. Lieber stellt er sich unwissender als ein Kind, verwirret die bekanntesten Dinge, und verfälscht auf die hämischste Art meine Worte, die ich mit vielem Bedachte gewählt hatte.
Ich habe gezweifelt, ob man dem Herrn Cramer ein poetisches Genie zugestehen könne. Ich habe aber mit Vergnügen bekannt, daß er der vortrefflichste Versificateur ist. Ich nehme beide Ausdrücke so, wie sie die feinsten Kunstrichter der Engländer und Franzosen nehmen. »Ein poetisches Genie,« sagt einer von den ersten,(136) den ich eben vor mir liegen habe, ist so außerordentlich selten, that no country in the succession of many ages has produced above three or four persons that deserve the title. The man of rhymes may be easily found; but the genuine poet, of a lively plastic imagination, the true Maker or Creator, is so uncommon a prodigy, that one is almost tempted to subscribe to the opinion of sir William Temple, where he says: »That of all the numbers of mankind, that live within the compass of a thousand years, for one man that is born capable of making a great poet, there may be a thousand born capable of making as great generals, or ministers of state, as the most renowned in story.« Und ich habe ein Verbrechen begangen, daß ich gezweifelt habe, ob der Herr Hofprediger ein solcher außerordentlicher Mensch ist? Wenn er es wäre: er würde ganz sicherlich ein schlechter Hofprediger sein. Eben dieser Engländer erkennet unter seinen Landsleuten eigentlich nur drei Männer für Poeten, den Spenser, den Shakespeare, den Milton. Eben derselbe spricht Popen den Namen eines Poeten schlechterdings ab. Popen spricht er ihn ab, der unter so vielen vortrefflichen Werken, auch eine Ode auf die Musik gemacht hat, die wenigstens nicht schlechter ist, als die beste Cramersche Ode. Und wozu macht er dafür Popen? Eben dazu, wozu ich Cramern mache: zu den vortrefflichsten Versificateur. Und ich habe Cramern geschmäht, daß ich ihn mit Popen auf eine Bank setze? Ist denn ein Versificateur nichts als ein Reimer? Kann man der vortrefflichste Versificateur sein, ohne ein Mann von vielem Witze, von vielem Verstande, von vielem Geschmacke zu sein? Diderot, der neueste, und unter den neuen unstreitig der beste französische Kunstrichter, verbindet keinen geringern Begriff mit dem Namen eines Versificateurs. Quelle difference entre le Versificateur et le Poete! Cependant ne croyez pas que je méprise le premier: son talent est rare. Mais si vous faites du versificateur un Apollon, le poete sera pour moi un Hercule. Or supposez une lyre à la main d’Hercule, et vous n’en ferez pas un Apollon. Appuyez un Apollon sur une massue: jettez sur ses epaules la peau du lion de Nemée, et vous n’en ferez pas un Hercule. Dieses seltene Talent gebe ich dem Herrn Cramer, und gebe es ihm in dem höchsten Grade: und doch habe ich ihn geschmäht, doch habe ich ihn auf eine ungezogene Art geschmäht? Sind seine Schmeichler nicht die unverschämtesten, die unwissendsten, die unter der Sonne sein können? Wenn sie noch nicht gelernt haben, wie sehr und worin der Poet von dem Versificateur unterschieden ist: so mögen sie es doch nur erst lernen, ehe sie einen ehrlichen Mann, der es zu begreifen gesucht hat, und sich diesem Begriffe gemäß ausdrückt, darüber chicanieren. Wäre das nicht billig? Oder suchen sie es erst aus unsern Briefen zu lernen? Jeder von uns wird ihnen sagen: par’ emoi pokos ou knaptetai. Und der aufrichtige Herr Basedow! Mit aller seiner Aufrichtigkeit ist er ein offenbarer Falsarius. Ich habe, wenn Sie meine alten Briefe nachsehen wollen, Cramern den vortrefflichsten Versificateur genennt: und Herr Basedow macht seinen Lesern weiß, ich hätte ihn nur einen guten Versificateur genennt, und läßt(137) diese beiden Worte mit Schwabacher drucken, als ob es meine eigene Worte wären. Welch eine schamlose Dreistigkeit! mich seines eigenen Ausdrucks zu bedienen. Ist denn ein guter, mit welchem Beiworte man oft eine kalte Ironie verbindet, eben das, was der vortrefflichste ist, mit welchem Beiworte sich leicht nichts zweideutiges, nichts ironisches verbinden läßt? – Ich sage ferner: Cramer besitzt die beneidenswürdigste Leichtigkeit zu reimen: und Basedow läßt mich ihm nur eine beneidenswürdige beilegen. Ich brauche nicht gern einen Superlativum ohne Ursache. Und wo ich ihn brauche, will ich, daß mir ihn mein Gegner lasse, wenn ich an seiner Aufrichtigkeit, mit der er so prahlet, nicht sehr zweifeln soll.
Aber wie elend führt er, auch nach dieser Verfälschung, die Sache seines Freundes. Hören Sie doch nur. »Das poetische Genie des Herrn Hofpredigers, und besonders zu erhabenen und zugleich lehrreichen Oden, ist zu bekannt, als daß der Journalist mit Grunde hätte hoffen können, Beifall zu finden, da er es ihm despotisch absprach, und nichts als die Vollkommenheit eines Versificateurs lassen wollte.« – Es ist zu bekannt? Was ist denn zu bekannt? Daß in den Cramerschen Oden, (weil es doch mit aller Gewalt Oden heißen sollen) sich Genie zeiget? Das habe ich nie geleugnet. Aber Genie eines Versificateurs, und nicht Genie eines Poeten. Dieses spreche ich ihm ab; nicht jenes. Oder ich müßte glauben, daß man der Vortrefflichste in seiner Art sein könne, ohne Genie zu haben. – Hören Sie doch den guten Basedow noch weiter: »Ob desselben drei Oden, im ersten Teile des Nordischen Aufsehers, Anlaß geben, ein solches Urteil zu fällen, werden die Leser aus folgenden Strophen sehen.« – Aus einzeln Strophen will Herr Basedow beweisen, daß Cramer ein poetisches Genie habe? Und wenn diese Strophen auch die vollkommensten von der Welt wären; so könnten sie das nicht beweisen. Hier sind sie.
Aus der Ode über die Geburt Christ,
Erst wird er niederknien und streiten
Der Löw aus Juda. Ewigkeiten
Voll Ehre sind der Preis des Siegs!
Er leidet, Gott uns zu versühnen,
Dann werden ihm die Völker dienen,
Wir sind die Beute seines Kriegs.
Nun werden wir wieder den Himmel bewohnen,
Uns, wenn wir nur kämpfen, erwarten auch Kronen!
Wie herrlich ist der Sieger Lohn?
O kämpfet, o kämpfet, uns krönet der Sohn.
Aus der Ode über das Leiden Jesu
Ich, ewig hab ich es begehret,
Ich habe, Vater, dich verkläret,
Verklären will ich dich noch mehr.
Ich hatte tief in Qual versunken,
Schon mehr als einen Kelch getrunken,
Ach wie ist deine Hand so schwer?
Allein ich will sie ganz versühnen,
Laß sie in diesen Wunden ruhn.
Vergib, vergib, o Vater, ihnen,
Sie wissen, Herr, nicht was sie tun.
Aus der Ode auf den Geburtstag des Königs
Da sie dem Throne nahe kamen,
Ertönt auf einmal ihr Gesang,
Und alle nennten Friedrichs Namen,
Und alle nennten ihn voll Dank:
Uns hat Jehova sein Leben,
In einer der gnädigsten Stunden gegeben,
Fleug unser Dank, fleug mit umher!
Er, der ihn gab, gedenke seiner!
Wer liebt nicht seine Beherrscher? doch keiner
Wird billiger geliebt, als er.
Können Sie sich des Lachens enthalten? Diese Strophen sollen beweisen, daß Herr Cramer ein Poet ist, und ich ein Verleumder bin? Bald bewiesen sie, daß ich ein Schmeichler wäre. Denn wenn nicht in sehr vielen Cramerschen Oden, sehr viele, viel schönere Strophen wären: so wäre ich es wirklich, und ich würde mir es nimmermehr vergeben, daß ich einen solchen Sänger den vortrefflichsten Versificateur genennet hätte. In diesen Strophen ist er kaum ein leidlicher.
G.
XX. Den 15. Mai
1760
Hundert und vierter Brief
Ich habe geurteilet: Viele Worte machen; einen kleinen Gedanken durch weitschweifende Redensarten aufschwellen; labyrinthischen Perioden flechten, bei welchen man dreimal Atem holen muß, ehe man einen ganzen Sinn fassen kann: Das sei überhaupt die vorzügliche Geschicklichkeit desjenigen von den Mitarbeitern an dem »Nordischen Aufseher«, der die meisten Stücke geschrieben zu haben scheine. Soll ich mein Urteil widerrufen, weil es Herr Basedow für eine Verleumdung ausschreiet? Es ist wahr, ich habe es mit keinen Beispielen bestätiget. Aber mit wie vielen will er es noch bestätiget haben? Mit unzähligen? – Ich darf das Buch nur auffallen lassen, wo es auffallen will. – Aber, wer wird mir abschreiben helfen? Und o des armen Papiers, das ich so verschwenden muß! – Was hilfts? Herr Basedow hat einen zu starken Trumpf darauf gesetzt. Ich muß, liebe Hand.
Also, z. E.
»Große Beispiele der Frömmigkeit und Tugend unter denen, welche sich durch Geburt und Würden über andere Menschen erheben, sind nicht allein so rührend, sondern auch so unterweisend und lehrreich, daß nach meinem Urteile, selbst die, welche sie nicht nach ihrer ganzen Größe kennen, aus Ehrfurcht und Liebe gegen die Religion das Andenken derselben zu erhalten und fortzupflanzen verbunden sind, und von der bloßen Furcht, nicht genug von ihnen sagen zu können, nie zurückgehalten werden dürfen, öffentlich auszubreiten und zu rühmen, was sie davon wissen, wenn sich zumal alle Stimmen zu ihrem Ruhme vereinigen.« etc.
»Die Trunkenheit ist eine so schändliche Beleidigung der Tugend; sie erniedriget den Menschen so tief; die Vernachlässigung und Übertretung der edelsten Pflichten, ist bei ihren Ausschweifungen so unausbleiblich, und sie hat so viele nachteilige und unglückselige Einflüsse, nicht allein auf die Wohlfahrt derjenigen, welche sich dadurch der schönsten Vorzüge unserer Natur berauben, sondern auch auf das öffentliche und gemeine Beste, daß sowohl der Menschenfreund, als der Patriot, unter einer dringenden Verbindlichkeit stehet, für sichre und zuverlässige Mittel besorgt zu sein, einem so gefährlichen Laster Grenzen zu setzen, und den ausschweifenden Gebrauch berauschender Getränke zu verhindern.« etc.
Wie gefallen Ihnen diese Perioden? – Aber sie könnten noch länger sein. – O Geduld, ich will Sie auch nur erst in Atem setzen. Da sind schon etwas längere.
Z. E. »So sorgfältig sich auch Altern in der Erziehung ihrer Kinder bestreben mögen, sie von ihrer ersten Kindheit an zur Tugend zu bilden, und alles zu verhindern, was ihr Herz verderben, oder die angeboren Unordnung desselben unterhalten und vermehren kann; so notwendig es auch ist, sehr frühzeitig mit denselben, als mit vernünftigen Wesen umzugehen, die des Nachdenkens und der Überzeugung fähig sind: So ist es dennoch beinahe unmöglich, diese wichtigen Endzwecke ohne allen Gebrauch schmerzhafter Mittel zu erreichen, ob es gleich eine eben so unleugbare Erfahrung bleibt, daß nach den von Natur sehr verschiedenen Charakteren der Kinder, einige der Züchtigung mehr, und andere derselben weniger bedürfen.«
Oder: »So oft ich mich zurück erinnere, wie sorgfältig mein Vater schon in meiner frühsten Jugend den Geist der Frömmigkeit und eine lebhafte Neigung, aus Gehorsam und Liebe gegen das höchste Wesen, tugendhaft zu sein, in meine Seele zu pflanzen suchte, und wenn mir mein Gedächtnis sagt, vor welchen Ausschweifungen, zu denen ich, gleich andern, starke Reizungen und Versuchungen gehabt habe, diese Neigung mich bewahret hat: So fühle ich mich allezeit von den zärtlichsten Empfindungen der Dankbarkeit durchdrungen, ob ich sie gleich durch nichts beweisen kann, als nur dadurch, daß ich das Andenken seiner Gesinnungen erhalte, und durch sein Beispiel andere Väter aufmuntere, Kinder, die sie glücklich zu machen wünschen, auf eine ähnliche Weise zu erziehen.«
Wie nun? – Welcher Schwall von Worten! Welche Teuerung an Gedanken! Gedanken? Daß man der schändlichen Trunkenheit steuren müsse; daß man die Kinder auch manchmal züchtigen müsse etc. Kann man abgedroschnere Wahrheiten mit aufgeblasenern Backen predigen? – Mit diesen vier Perioden fangen sich vier verschiedene Stücke an. Und wenn ich Ihnen versichre, daß sich dreißig andere nicht viel erträglicher anfangen; daß in allen Mittel und Ende dem Anfange vollkommen gemäß sind; daß der Verfasser sehr oft mitten in seiner Materie noch weit schleppender, langweiliger, verworrener wird: werden Sie mir auf mein Wort glauben? Nicht? Ich begehre es auch nicht. Aber Ihr Atem soll es empfinden. Lesen Sie; nehmen Sie dabei alle Ihre Gedanken zusammen; und sagen Sie mir am Ende, was Sie gelesen haben.
»Da sich, hebt das dreißigste Stück an, in unsern Zeiten die Bestreitung, und Verachtung der Religion so weit ausbreitet, daß sie auch die Gespräche des Umganges vergiftet; so ist es für diejenigen, welche sich nach ihren äußerlichen Umständen in die Gesellschaften der größern Welt eingeflochten sehen, nicht genug, mit den Wahrheiten ihres Glaubens bekannt zu sein, und die Gründe einzusehen, die einen vernünftigen Beifall wirken. Wer Anfalle zu befürchten hat der muß seine Feinde, er muß ihre Stärke, ihre Waffen, und die Art, wie sie streiten, kennen, damit er sich zur Zeit des Kampfes desto glücklicher verteidigen könne. Es scheinet zwar, daß man von den Einwendungen wider die Wahrheit nicht unterrichtet zu sein brauche, sobald man sie nicht aus Vorurteil und Gewohnheit annimmt; sobald man sie bekennt, weil es richtige, überwiegende und unumstößliche Beweise waren, die uns überredeten. Allein wenn man diese Wissenschaft besitzt, und die Schwäche, die Nichtigkeit, und besonders auch die Strafbarkeit der Einwürfe kennt: So hat man weniger zu befürchten, daß die Ruhe unsers Verstandes in der Wahrheit eine unerwartete und gewaltsame Erschütterung leiden werde; unsre Vernunft ist selbst vor einer plötzlichen Unordnung und Verdunklung sichrer; man ist vorbereiteter und geübter, zu widerstehen, und ist der rechtschaffene Mann, der seinen Glauben liebt, nicht verbunden, denen zu widerstehen, welche die großen Grundsätze desselben angreifen, und entweder durch künstliche und verblendende Schlüsse, oder durch Einfälle, welche voll Witz zu sein scheinen, ihrer Würde und zugleich ihres Nutzens zu berauben suchen? Vielleicht ist seine Überzeugung so gewiß und unbeweglich, daß ihn keine Einwürfe irren können; aber wenn er in irgend einem gesellschaftlichen Gespräche, durch solche Zudringungen aufgefodert, welche ihn verbinden, beleidigte Wahrheiten zu verteidigen, auf gewisse Einwürfe nicht antworten kann; wenn er nicht fähig ist, ihnen ihren falschen Schimmer von Wahrheit und Vernunft zu nehmen, und das Falsche in feindseligen Beschuldigungen zu entdecken: So wird er wider seinen Willen die stolzen Verächter seines Glaubens in der Einbildung bestärken, daß sie diejenigen, die sich für verbunden achten, Religion zu haben, weit übersehen; sie werden sein Stillschweigen und die Verwirrung, worein sie ihn brachten, für einen Triumph über sie selbst halten, und den Schwächern können sie vielleicht mit geringerer Mühe zur Gleichgültigkeit gegen Wahrheiten verführen, die er nicht genug schärzet, weil er sie nicht genug untersucht hat.« etc.
Was plaudert der Mann? Sie werden ihn schon noch einmal lesen müssen. Und wenn Sie denn nun sein Bißchen Gedanken weghaben: wollten Sie sich nicht getrauen, es mit dem siebenden Teile seiner Worte, eben so stark und schöner vorzutragen?
G.
Hundert und fünfter Brief
Nun frage ich Sie, wenn dergleichen labyrinthische Perioden, bei welchen man dreimal Atem holen muß, ehe sich der Sinn schließet; wenn dergleichen Perioden, die man geschrieben oder gedruckt, durch alle ihre verschränkte und verschraubte Glieder und Einschiebsel, kaum mit dem Auge verfolgen kann, ohne drehend und schwindlicht zu werden; wenn der gleichen Perioden uns von der bedächtlichen langsamen Aussprache eines Kanzelredners Wort vor Wort zugezählet würden, ob wohl die feurigste Aufmerksamkeit, das beste Gedächtnis sie in ihrem ganzen Zusammenhange fassen, und am Ende auf einmal übersehen könnte? Nimmermehr. Was habe ich denn also für ein Verbrechen begangen, wenn ich gesagt habe, der Stil dieses Verfassers im »Nordischen Aufseher«, »sei der schlechte Kanzelstil eines seichten Homileten, der nur deswegen solche Pneumata herpredige, damit die Zuhörer, ehe sie ans Ende derselben kommen, den Anfang schon mögen vergessen haben, und ihn deutlich hören können, ohne ihn im geringsten zu verstehen?« Habe ich etwas anders als die strengste Wahrheit gesagt? Freilich ist das nicht der einzige schlechte Kanzelstil; freilich predigen nicht alle seichte Homileten so: sondern nur die seichten Homileten predigen so, die in Mitternachts Rhetorik das Kapitel von den zusammengesetzten Perioden nicht ohne Nutzen studieret haben.
Welche invidiöse Wendung aber Herr Basedow dieser meiner Kritik gibt, das ist ganz unbegreiflich. Alles nämlich, was ich wider diesen vornehmsten Verfasser des »Nordischen Aufsehers« sage, soll ich wider den Herrn Hofprediger Cramer gesagt haben. Von diesem, dem Herrn Hofprediger Cramer, soll ich mit schamloser Dreistigkeit, ohne den geringsten Beweis gesagt haben: Sein Stil sei der schlechte Kanzelstil eines seichten Homileten etc. – Träumt Herr Basedow? O so träumt er sehr boshaft.
Was habe ich denn mit dem Herrn Cramer zu tun? Ist Herr Cramer jener vornehmste von mir getadelte Verfasser des »Nordischen Aufsehers«: so sei er es immerhin. War ich denn verbunden, es zu wissen? – Doch nein; das will ich nicht einmal für mich anführen. Ich will es gewußt haben. Geht denn das wider den Herrn Cramer überhaupt, was wider den Herrn Cramer als Nordischen Aufseher geht? Muß die Kritik, die einzelne Blätter von ihm trifft, alle seine Schriften treffen? Wenn ich zum Exempel zu dem Herrn Basedow sagte: Mein Herr, in dieser Ihrer Ausdehnung meines Tadels, ist eben so wenig Billigkeit, als Verstand. Habe ich damit gesagt, in allen Basedowschen Schriften sei eben so wenig Billigkeit als Verstand?
Ich habe immer geglaubt, es sei die Pflicht des Kriticus, so oft er ein Werk zu beurteilen vornimmt, sich nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabei zu denken; sich unbekümmert zu lassen, ob der Verfasser noch andere Bücher, ob er noch schlechtere, oder noch bessere geschrieben habe; uns nur aufrichtig zu sagen, was für einen Begriff sich man aus diesem gegenwärtigen allein, mit Grunde von ihm machen könne. Das, sage ich, habe ich geglaubt, sei die Pflicht des Criticus. Ist sie es denn nicht?
Hätte ich zu verstehen geben wollen, daß der Vorwurf, den ich dem vornehmsten Verfasser des »Nordischen Aufsehers«, wegen seiner unleidlichen Schreibart mache, auch allen andern Schriften des Herrn Hofprediger Cramers zu machen sei: so würde ich es gewiß ausdrücklich gesagt haben; ich würde den Herrn Cramer dabei genennt haben, so wie ich es ohne die geringste Zurückhaltung bei dem allgemeinen Urteile über seine Oden getan habe. Aber wie konnte ich das hier tun, da ich mir deutlich bewußt war, daß Herr Cramer in seinen moralischen Abhandlungen, die in den »Bremischen Beiträgen« und den »Vermischten Schriften« zerstreuet sind, diese Schreibart nicht habe; daß er diese Schreibart von seinem Chrysostomus und Bossuet nicht könne gelernet haben? Ob er sie in seinen Predigten hat; das weiß ich nicht: denn diese habe ich nie gelesen. So viel aber weiß ich, wenn er diese Schreibart in seinen Predigten hat, daß ich den Herrn Hofprediger betaure; daß ich seine Zuhörer betaure. Aber es kann nicht sein; es muß in seinen Predigten mehr Licht, mehr Ordnung, mehr nachdrückliche Kürze herrschen: oder er verkennet die geistliche Beredsamkeit ganz. Welcher Prophet, welcher Apostel, welcher Kirchenlehrer, hat je das Wort des Herrn in solchen Ciceronischen Perioden verkündiget? In Perioden, die Cicero selbst nur alsdenn flochte, wenn er die Ohren einer unwissenden Menge kützeln, wenn er gerichtliche Ränke brauchen, wenn er mehr betäuben, als überzeugen wollte?
Und im Grunde sind das nichts weniger, als Ciceronische Perioden, die Arthur Ironside macht. Man suche mit Fleiß die allerlängsten aus den Reden des Römers, und ich will verloren haben, wenn man einen einzigen findet, in welchem alle Symmetrie sowohl unter den Worten, als unter den Gedanken, so gewaltig vernachlässiget ist. Und nur diese Symetrie, von welcher Arthur gar nichts weiß, macht die langen zusammengesetzten Perioden erträglich, besonders wenn sie eben so selten eingesteuert werden, als es die kurzen und einfachen bei ihm sind.
Unterdessen muß bei dem Herrn Basedow Cicero doch derjenige sein, dessen Beredsamkeit noch größere Armseligkeiten des Arthur Ironside decken, und wenn Gott will, gar in Schönheiten verwandeln muß. Sie erinnern sich der ekel haften Ausdehnung des Gleichnisses von einem Menschen, der ein kurzes und blödes Gesicht hat.(138) Herr Basedow gesteht zwar selbst, daß dieses Gleichnis um fünf bis sechs Zeilen kürzer sein könnte: Aber können Sie sich einbilden, was er gleichwohl davon sagt? »Ich gestehe es, sagt er, einige große Schriftsteller, die mehr Demosthenisch als Tullianisch sind, würden hier ein so ausführliches Gleichnis nicht gewählt haben. Aber wer war größer, Tullius oder Demosthenes? Viele gute Schriftsteller würden dies Gleichnis nicht so haben ausführen können, wenn sie auch gewollt hätten. Aber diese würden auch dadurch gezeigt haben, daß ihnen eine gewisse Art der Größe in der Beredsamkeit fehle, die man an einem Cramer mit Ehrerbietung bewundert.« – Da haben wirs! Nun will ich gern nicht stärker in den Herrn Basedow dringen; nun will ich ihn gern nicht auffordern, mir doch ein ähnliches so ausgerecktes Gleichnis bei dem Tullius zu zeigen. Denn wenn er gestehen müßte, daß auch bei dem Tullius keines anzutreffen wäre, was hätten wir, nach der einsichtsvollen Frage: Aber wer war größer, Tullius oder Demosthenes? anders zu erwarten, als die zweite Frage: Aber wer ist größer, Tullius oder Cramer? – Lieber will ich bewundern, mit Ehrerbietung bewundern, und schweigen.
G.
XXI. Den 22. Mai
1760
Hundert und sechster Brief
Welche verräterische Blicke Herr Basedow in das menschliche Herz schießet! Auch meines liegt so klar und aufgedeckt vor seinen Augen, daß ich darüber erstaune. – Sie erinnern sich, daß mir das Blatt, in welchem der »Nordische Aufseher« beweisen will, ein Mann ohne Religion könne kein rechtschaffener Mann sein, mißfiel. Ich glaubte, es mißfiele mir deswegen, weil darin von einem unbestimmten Satze unbestimmt raisonnieret werde. Aber nein, mein Mißfallen hat einen andern Grund. Herr Basedow weiß, daß es mir des wegen mißfallen habe, »weil in demselben einigen, die ich selbst für rechtschaffene Männer halte, dieser beliebte Name abgesprochen wird.« Ich erschrak, als ich diese Worte zum erstenmale las. Ich las sie noch einmal, um zu sehen, ob ich wenigstens nicht ein Vielleicht dabei überhüpft hätte. Aber da war kein Vielleicht. Was Herr Basedow weiß, das weiß er ganz gewiß. Allwissender Mann! rief ich aus; Sie kennen mein Herz so vollkommen, so vollkommen, daß – daß mir das Ihrige ganz Finsternis, ganz Rätsel ist. – Mag ich es doch auch nicht kennen!
Die vornehmste Erinnerung, die ich dem Aufseher gegen seine Erhärtung eines so strengen Ausspruches machte, war diese, daß er das Wort, ein Mann ohne Religion, in dem Beweise ganz etwas anders bedeuten lasse, als es in dem zu beweisenden Satze bedeute. Und diese Zweideutigkeit habe ich eine Sophisterei genennt. Der Text ist lustig, den mir Herr Basedow darüber lieset. Gesetzt, sagt er, daß es mit diesem Vorwurfe auch seine Richtigkeit hätte: »ist es nicht ein menschlicher Fehler der größten Philosophen, sich selbst durch eine unvermerkte Zweideutigkeit der Worte zu hintergehen? Niemand hat noch eine Metaphysik ohne Fehler geschrieben, und ich getraue mir zu sagen, daß die Fehler in dieser Wissenschaft mehrenteils aus der Zweideutigkeit der Worte entstehen. Wer nur solche Zweideutigkeiten nicht mit Fleiß braucht, um andere zu verblenden, wer in ein solches Versehen nicht oft verfällt, wer sich nicht, wenn man ihm seinen Fehler entdeckt hat, durch neue Zweideutigkeiten hartnäckig verteidiget, der kann allemal ein großer und verehrungswürdiger Mann sein, und dem kann man, ohne Lust an gelehrten Scheltworten, nicht Sophistereien und Fechterstreiche vorwerfen. Sonst müßte kein Leibniz, Wolf, Mosheim, ja kein großer Mann, von seinen Beurteilern mit Recht verlangen können, daß er mit solchen unhöflichen Vorwürfen möchte verschont bleiben.« – Ich verstehe von der Höflichkeit nichts, die Herr Basedow hier prediget. Er nennet gelehrte Scheltworte, was nichts weniger als Scheltworte sind. Wenn ein großer Mann eine Sophisterei begehet, und ich sage, daß er eine begangen hat: so habe ich das Kind bei seinem Namen genennt. Ein anderes wäre es, wenn ich ihn deswegen einen Sophisten nennte. Man kann sich einer Sophisterei schuldig machen, ohne ein Sophist zu sein; so wie man eine Unwahrheit kann gesagt haben, ohne darum ein Lügner zu sein; so wie man sich betrinken kann, ohne darum ein Trunkenbold zu sein. Herr Cramer ist ein großer und verehrungswürdiger Mann. Nun ja; und er soll es auch bleiben. Aber was verbindet mich denn, von einem großen und verehrungswürdigen Manne in dem Tone eines kriechenden Klienten zu sprechen? Und ist das der Ton, der einem großen und verehrungswürdigen Manne gefällt? Ein solcher Mann sieht auf die Wahrheit, und nicht auf die Art, wie sie gesagt wird; und hat er sich wo geirret, so ist es ihm unendlich lieber, wenn man ohne Umstände sagt: das und das dünkt mich eine Sophisterei: als wenn man viel von menschlichen Fehlern der größten Philosophen präliminieret, und ihn um gnädige Verzeihung bittet, daß man es auch einmal so gemacht hat, wie er es macht, daß man auch einmal seinen eigenen Verstand gebraucht hat.
So viel von der Höflichkeit meiner Erinnerung. Nun hören Sie wie Herr Basedow beweisen will, daß mein Tadel auch ungegründet und falsch sei. Er analysieret in dieser Absicht das ganze Blatt; und es ist nötig, daß ich Ihnen das Skelet, welches er davon macht, vor Augen lege.
»Satz: Keine Rechtschaffenheit ist ohne Religion.
Erster Beweis. Ein Rechtschaffener sucht die Pflichten, die aus seinen Verhältnissen gegen andere folgen, allesamt getreu und sorgfältig zu erfüllen. Und man hat auch Pflichten gegen Gott, welche ein Mensch ohne Religion nicht zu erfüllen trachtet.
Erster Zusatz. Polidor, dessen unerschöpflicher Witz über Lehren spottet, die er niemals untersucht hat, und Lehren lächerlich macht, ohne sich darum zu bekümmern, ob sie es verdienen, ist also kein rechtschaffener Mann, ob er gleich seine Zusage hält, und zuweilen mitleidig ist, welches vielleicht noch eine Wirkung des in der Jugend gelernten Katechismus sein kann, den er nunmehr verachtet.
Zweiter Zusatz. Der Mensch hat eine natürliche Neigung zu denen Handlungen, die, wenn sie aus dem rechten Grunde geschehen, rechtschaffen heißen. Aber diese Neigung ist im hohen Grade schwach und unzuverlässig.
Zweiter Beweis. Ein Rechtschaffener muß eine gründliche Erkenntnis von den Gegenständen haben, gegen welche man rechtschaffen handeln muß. Indem er zu dieser Erkenntnis kömmt, gelangt er auch zur natürlichen Erkenntnis Gottes; und durch diese zum Wunsche einer Offenbarung. Alsdann hat er die Pflicht, eine vorgegebene Offenbarung ohne sorgfältige Untersuchung nicht zu verwerfen, vielweniger zu verspotten. Tut er es, so ist er (vermöge des ersten Beweises) nicht rechtschaffen.
Dritter Beweis. Wegen der Macht der Leidenschaften ist nicht zu erwarten, daß ein Mensch, der weder geoffenbarte noch natürliche Religion hat, die gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen geneigt sei, und also in dieser eingeschränkten Bedeutung ein rechtschaffener Mann sein könne. Man hat aber bessern Grund es zu hoffen, wenn er die Religion in seinem Verstande für wahr hält, und sein Herz zur Ausübung derselben gewöhnt.«
Was für eine kleine, unansehnliche, gebrechliche Schöne ist der »Nordische Aufseher«, wenn man ihm seine rauschende Einkleidung, seinen rhetorischen Flitterstaat, seine Kothurnen nimmt. Eine solche Venus kann nicht sagen: Ich bin nackend mächtiger, als gekleidet. Gegen sie darf Minerva nur ihre Eule zu Felde schicken. – Doch lieber keinen Witz! Herr Basedow ist ein Todfeind von allem Witze. Er erwartet Gründe; und wie können Gründe bei Witz bestehen?
Erlauben Sie mir also, eine ganz trockene Prüfung der drei Beweise, wie sie Herr Basedow ausgezogen hat, anzustellen. – Vor allen Dingen muß ich wegen der Bedeutung des Worts ein Mann ohne Religion mit ihm einig werden. Ein Mann ohne Religion also, heißt entweder ein Mann, der kein Christ ist, der diejenige Religion nicht hat, die ein Christ vorzüglicher Weise die Religion nennet: Das ist die erste Bedeutung: Oder es heißt ein Mann, der gar keine geoffenbarte Religion zugibt, der weder Christ, noch Jude, noch Türke, noch Chineser etc. weiter als dem Namen nach ist, der aber eine natürliche Religion erkennt, und die Wahrheiten derselben auf sich wirken läßt: Das ist die zweite Bedeutung. Oder es heißt ein Mann, der sich weder von einer geoffenbarten, noch von der natürlichen Religion überzeugen können; der alle Pflichten gegen ein höheres Wesen leugnet: Das ist die dritte Bedeutung. Mehr als diese drei Bedeutungen sollte das Wort ein Mann ohne Religion nicht haben. Allein, ich weiß nicht wie es gekommen ist, daß man ihm auch eine vierte gibt, und einen Mann – ich will sogleich den rechten Ausdruck brauchen, – einen Narren oder Bösewicht darunter verstehet, der über alle Religion spottet.
Nun lassen Sie uns sehen, auf welche von diesen vier Bedeutungen der erste Beweis passet. Ein Rechtschaffener sucht die Pflichten, die aus seinen Verhältnissen gegen andre folgen, allesamt getreu und sorgfältig zu erfüllen. Und man hat auch Pflichten gegen Gott, welche ein Mensch ohne Religion nicht zu erfüllen trachtet. Gut. Aber was für ein Mensch ohne Religion? In der ersten Bedeutung? Nein. Denn ist er schon kein Christ, so erkennet er doch als Türke, oder Jude etc. Pflichten gegen Gott, und trachtet diese Pflichten zu erfüllen. In der zweiten Bedeutung? Auch nicht. Denn auch dieser erkennet Pflichten gegen Gott, die er zu erfüllen trachtet, obgleich nur aus der Vernunft erkannte, und nicht geoffenbarte Pflichten. Ob es bei jenem die rechten Pflichten sind; ob sie bei diesem hinlänglich sind: Das ist hier die Frage nicht. Genug jener glaubt, daß es die rechten sind; dieser glaubt, daß sie hinlänglich sind. Also wird der Beweis wohl auf die dritte Bedeutung passen? Auf einen Menschen, der gar keine Pflichten gegen ein höchstes Wesen erkennet? Eben so wenig. Denn gegen diesen ist der gegenwärtige Beweis ein offenbarer Zirkel! Man setzt nämlich das, was er leugnet, als bewiesen voraus, und bringt in die Erklärung der Redlichkeit Pflichten, die er für keine Pflichten erkennet. Sollte dieser Beweis gelten: so mag sich der Herr Hofprediger Cramer in Acht nehmen, daß ihn ein Papist nicht gegen ihn selbst kehret, und in der nämlichen Form von ihm erhärtet, daß er kein guter Christ sei. Der Papist dürfte nämlich nur sagen: Ein guter Christ suchet die Pflichten, die ihm seine Religion auflegt, allesamt getreu und sorgfältig zu erfüllen. Nun legt ihm diese auch Pflichten gegen den Pabst auf, die Pflicht nämlich dieses Oberhaupt der Kirche für untrüglich zu halten, welche Herr Cramer nicht zu erfüllen trachtet. Der Beweis wäre lächerlich; aber könnte Herr Cramer im Ernst etwas anders darauf antworten, als was der Mann ohne Religion in unsrer dritten Bedeutung, zu seiner Verteidigung vorbringen würde? Das ist unwidersprechlich, sollte ich meinen. Also, zur vierten Bedeutung. Gilt der Beweis gegen einen Mann, der über alle Religion spottet? Hier gibt es zu unterscheiden. Entweder er spottet darüber, weil er von der Falschheit aller Religion überzeugt ist; oder er spottet darüber, ohne diese Überzeugung zu haben. In dem ersten Falle trifft ihn der Beweis eben so wenig, als den Mann ohne Religion in der dritten Bedeutung. In dem andern Falle aber ist er ein Rasender, dem man schlechterdings die gesunde Vernunft und nicht bloß die Religion absprechen muß. Gegen diesen hat Herr Cramer Recht; vollkommen Recht: ein Rasender, ein Mann ohne gesunde Vernunft, kann kein rechtschaffner Mann sein.
Und das hat Herr Cramer mit seinem ersten Beweise bewiesen! Doch die Wahrheit ist mir zu lieb, als daß ich ihm hier nicht mehr einräumen sollte, als er bewiesen hat. Aus seinem Beweise erhellt es zwar nicht, daß derjenige, der über die Religion spottet, weil er von der Falschheit derselben überzeugt ist, kein rechtschaffner Mann sei; aber dennoch ist es wahr; er ist keiner. Allein er ist nicht deswegen kein rechtschaffner Mann, weil er keine Religion hat; sondern weil er spottet. Wer gibt ihm das Recht, über Dinge zu spotten, die unzählige Menschen für die heiligsten auf der Welt halten? Was kann ihn entschuldigen, wenn er durch Spöttereien arme Blödsinnige um ihre Ruhe, und vielleicht noch um ein mehreres bringt? Er verrät Lieblosigkeit, wenigstens Leichtsinn; und handelt unrechtschaffen an seinem Nächsten. Denn auch sogar ein Christ, der gegen Mahometaner über den Mahomet spotten, weiter nichts als spotten wollte, würde kein rechtschaffner Mann sein. Er lehre, wenn er glaubt, daß seine Lehren anschlagen werden; und sei überzeugt, daß jede Unwahrheit, die er aufdeckt, sich ohne sein Zutun von selbst verspotten wird.
Bei dem allen scheinet es, als habe es Herr Cramer selbst empfunden, daß er hier nicht eigentlich mit einem Manne ohne Religion, sondern mit einem Religionsspötter zu tun habe; und zwar auch nur mit diesem in so fern er spottet, und nicht in so fern er keine Religion hat. Denn was ist sein Polidor, den er in dem ersten Zusatze seines Beweises, zu einem Exempel eines Mannes ohne Religion macht, anders, als ein Religionsspötter? Und zwar noch dazu einer von den allerdümmsten, dem man unmöglich einen Funken Menschenverstand zugestehen kann; denn er spottet über Lehren, die er niemals untersucht hat, und macht Lehren lächerlich, ohne sich darum zu bekümmern, ob sie es verdienen. Und das heißt ein Mann ohne Religion? Es gemahnt mich nicht anders, als wenn man einen Lahmen beschreiben wollte: ein Lahmer sei ein Mensch ohne Flügel.
Der Beschluß künftig
XXII. Den 29. Mai
1760
Beschluß des 106ten Briefes
Ich wende mich zu dem zweiten Beweise. »Ein Rechtschaffner muß eine gründliche Erkenntnis von den Gegenständen haben, gegen welche man rechtschaffen handeln muß. Indem er zu dieser Erkenntnis kömmt, gelangt er auch zur natürlichen Erkenntnis Gottes; und durch diese zum Wunsche einer Offenbarung. Alsdann hat er die Pflicht, eine vorgegebene Offenbarung, ohne sorgfältige Untersuchung nicht zu verwerfen, vielweniger zu verspotten. Tut er es; so ist er (vermöge des ersten Beweises) nicht rechtschaffen.« – Das ist ein Beweis? Und ein zweiter Beweis? Wenn doch Herr Basedow so gut sein wollte, ihn in eine syllogistische Form zu bringen. Doch er fühlt es selbst, daß dieses Geschwätze auf den ersten Beweis hinausläuft; daß es weiter nichts ist, als der erste Beweis, auf den Religionsspötter näher eingeschränkt. Und in wie fern der Satz von diesem gilt, darüber habe ich mich erklärt. Er gilt von ihm, nicht in so fern er keine Religion hat, sondern in so fern er spottet.
Also der dritte Beweis: »Wegen der Macht der Leidenschaften ist nicht zu erwarten, daß ein Mensch, der weder geoffenbarte noch natürliche Religion hat, die gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen geneigt sei, und also in dieser eingeschränkten Bedeutung ein rechtschaffner Mann sein könne.
Man hat aber bessern Grund es zu hoffen, wenn er die Religion in seinem Verstande für wahr hält, und sein Herz zur Ausübung derselben gewöhnt.« Auch dieses Raisonnement ist kein Beweis unsers Satzes. Herr Basedow hat für gut befunden, meine Einwendung dagegen gar nicht zu verstehen. Ich sage nämlich: Hier ist die ganze Streitfrage verändert; anstatt zu beweisen, daß ohne Religion keine Rechtschaffenheit sein könne, sucht man nur taliter qualiter so viel zu erschleichen, daß es wahrscheinlicher sei, es werde eher ein Mann von Religion, als ein Mann ohne Religion rechtschaffen handeln. Aber weil jenes wahrscheinlicher ist, ist dieses darum unmöglich? Und von der Unmöglichkeit ist gleichwohl in dem Satze die Rede: Es kann keine Rechtschaffenheit ohne Religion sein. Herr Basedow sagt selbst, es solle diesem Beweise der zweite Zusatz zur Einleitung dienen. Und wie lautet der zweite Zusatz? »Der Mensch hat eine natürliche Neigung zu denen Handlungen, die wenn sie aus dem rechten Grunde geschehen, rechtschaffen heißen. Aber diese Neigung ist im hohen Grade schwach und unzuverlässig.« Warum ist sie so schwach und unzuverlässig? Wegen der Gewalt der Leidenschaften. Und diese zu bändigen, das lehrt uns nur die Religion? Oder haben wir nicht auch hinlängliche Gründe, unsere Leidenschaften der Vernunft zu unterwerfen, die mit unsern Verhältnissen gegen ein höchstes Wesen in gar keiner Verbindung stehen? Ich sollte es meinen. Haben wir nun dergleichen: so kann jene natürliche Neigung zu rechtschaffnen Handlungen, so schwach und unzuverlässig sie wegen der Leidenschaften immer sein mag, wenn wir diese ihre Hindernisse aus dem Wege räumen, auch ohne Religion stark und zuverlässig werden. Und kann sie das, wie steht es um den Cramerschen Beweis? Ist es nicht offenbar, daß er ihn durch diesen Zusatz selbst untergraben hat? Herr Basedow sage nicht: Aber die Religion gibt uns noch mehrere Gründe, unsre Leidenschaften zu bemeistern etc. Das gebe ich zu. »Allein, habe ich damals schon erinnert, kömmt es denn bei unsern Handlungen bloß auf die Vielheit der Bewegungsgründe an? Beruhet nicht weit mehr auf der Intension derselben? Kann nicht ein einziger Bewegungsgrund, dem ich lange und ernstlich nachgedacht habe, eben so viel ausrichten, als zwanzig Bewegungsgründe, deren jedem ich nur den zwanzigsten Teil von jenem Nachdenken geschenkt habe?« Wenn Herr Basedow das nicht versteht: so kann ich ihm freilich nicht helfen; und man muß ihm erlauben, so lange zu schwatzen als er will.
Und wahrhaftig, sein Geschwätze erregt ordentlich Mitleiden. Er räumt es ein, daß ein Mann ohne Religion ein sehr unbestimmtes Wort sei; aber doch, meinet er, habe Herr Cramer nicht nötig gehabt, es zu bestimmen. Und warum nicht? »Der Herr Hofprediger, sagt er, trägt im Nordischen Aufseher kein System vor, und hat die Absicht nicht, allen möglichen Chicanen eines Widersachers auszuweichen. Sonst hätte er allerdings ausdrücklich anzeigen müssen, ob er unter einem Manne ohne Religion, einen solchen verstehe, der gar keine hat, oder nur denjenigen etc.« Kann man eine größere Absurdität sagen? Deswegen, weil der Herr Hofprediger kein System schreibt, darf er unter eben demselben Worte, bald das, bald jenes verstehen? Herr Basedow wird nie ein System schreiben: ich wette darauf.
In dem ersten Beweise, fährt er fort, meinet Herr Cramer einen Mann ohne alle Religion; in dem zweiten einen leichtsinnigen Spötter der Religion; und in dem dritten wieder einen Mann ohne alle Religion. Als dem Verfasser eines Wochenblatts, versichert er, sei ihm diese Vertauschung erlaubt gewesen; und ich verdiene den Abscheu der Welt, und habe das schwärzeste Laster begangen, weil ich Bösewicht geglaubt habe: »Der Nordische Aufseher müsse und wolle in dieser ganzen Abhandlung den Satz: ohne Religion ist keine Rechtschaffenheit, in einer und derselben Bedeutung verstehen.«
Das habe ich leider geglaubt. Ja ich habe sogar geglaubt, daß Herr Cramer unter einem Manne ohne Religion, bloß einen Mann verstehe, der die christliche Religion in Zweifel ziehet. Denn ich Bösewicht setzte voraus, Herr Cramer werde doch etwas haben sagen wollen; er werde doch lieber etwas falsches (das ihm aber wahr scheine), als gar nichts haben sagen wollen. Nun aber, da uns Herr Basedow sein Wort gibt, daß Herr Cramer wirklich gar nichts habe sagen wollen: muß ich mich freilich auf den Mund schlagen. Sie glauben nicht, wie ich mich schäme! Wollte doch der Himmel, daß ich mich vor den Augen der Welt verbergen könnte!
G.
Hundert und siebender Brief
Herr Cramern muß es also hier gegangen sein, wie es allen gehet, die ihre Gedanken unter der Feder reif werden lassen. Man glaubt eine große Wahrheit erhascht zu haben; man will sie der Welt ins Licht setzen; indem man damit beschäftiget ist, fängt man selbst an, sie deutlicher und besser einzusehen; man sieht, daß sie das nicht ist, was sie in der Entfernung zu sein schien; unterdessen hat man sein Wort gegeben; das will man halten; man dreht sich itzt so, itzt anders; man geht unmerklich von seinem Ziele ab; und schließt endlich damit, daß man etwas ganz anders beweiset, als man zu beweisen versprach; doch immer mit der Versicherung, daß man das Versprochene bewiesen habe. Amphora coepit institui, currente rota urceus exit.
Ohne Religion kann keine Rechtschaffenheit sein! diesen großen Satz wollte Herr Cramer beweisen, um alle Gegner der Religion, wo nicht auf einmal in die Enge zu treiben, doch wenigstens so zu brandmarken, daß sich keiner seiner Entfernung von der Religion mehr öffentlich rühmen dürfe. Der Vorsatz war vortrefflich, und eines eifrigen Gottesgelehrten würdig. Schade nur, daß sich die Wahrheit nicht immer nach unsern guten Absichten bequemen will. Nicht will? O sie wird müssen; wir verstehen uns aufs beweisen. »Denn, sagt Herr Cramer, ein Mensch welcher sich rühmet, daß er keine Pflicht der Rechtschaffenheit vernachlässige, ob er sich gleich von demjenigen befreit achtet, was man unter dem Namen der Frömmigkeit begreift, ist- ein Lügner, muß ich sagen, wenn ich nicht strenge, sondern nur gerecht urteilen will; weil er selbst gestehet, kein rechtschaffener Mann gegen Gott zu sein.« Da steht der Beweis; und er ist noch dazu schön gesagt. Nun will Herr Cramer weiter gehen. Aber indem überlegt er seinen Beweis noch einmal: »Ein Rechtschaffener sucht alle Pflichten zu erfüllen, auch die Pflichten der Religion; nun sucht ein Mann ohne alle Religion diese nicht zu erfüllen, ergo – Denn er hält sie für keine Pflichten:« fällt ihm ein, ehe er sein Ergo ausdenkt. »Er hält sie für keine? das ist etwas anders. So fällt mein Beweis in die Brüche. Ich striche ihn gern aus; wenn ich nicht alles ausstreichen müßte. Ich muß sehen, wie ich mir helfe.« – Geschwind schlägt er also die Volte, und schiebt uns für einen Mann ohne alle Religion, einen Religionsspötter, einen Dummkopf unter, der über Lehren spottet, die er niemals untersucht hat. – »Und so einer kann doch kein rechtschaffner Mann sein?« – Kein Mensch wird ihn dafür erkennen. »Kein Mensch? Ja, nun habe ich zu wenig bewiesen. Vorhin zu viel, itzt zu wenig: wie werde ich es noch machen, daß ich mich mit meinem frommen Paradoxo durchbringe?« So denkt er, und schleicht sich stillschweigend aus dem Paradoxo in die angrenzende Wahrheit. Anstatt zu beweisen, daß ohne Religion keine Rechtschaffenheit sein könne, beweiset er, daß da, wo Religion ist, eher Rechtschaffenheit zu vermuten sei, als wo keine ist. Das, sage ich, beweiset er; versichert aber jenes bewiesen zu haben, und schließt. – Nun, ihr Herrn Basedows,
– – Jovis summi causa clare plaudite!
Wie gesagt: so muß es Herr Cramern hier gegangen sein. Er versprach etwas zu beweisen, wobei wir alle die Ohren spitzten, und currente calamo bewies er etwas, was keines Beweises braucht. Ich aber, der ich mir dieses von dem Herrn Cramer nicht so gleich einbilden konnte, tat ihm dabei Unrecht, bloß weil ich ihm nicht gern Unrecht tun wollte. Ich glaubte nämlich, er verstehe unter einem Manne ohne Religion, einen Mann ohne Christentum; ich hielt ihn für einen übertriebenen Eiferer, um ihn für keinen Mann zu halten, der so schreibt, als es in der Hitze des Dispüts kaum zu reden erlaubt ist.
G.
Hundert und achter Brief
Aber ich habe doch gleichwohl den Herrn Hofprediger Cramer zum Socinianer machen wollen? Ich? Ihn zum Socinianer?
Arthur Ironside empfiehlt seinen Lesern die Methode, nach welcher ihn sein Vater in der Kindheit den Erlöser kennen lehrte. Diese Methode bestand darin, daß er anfangs von der Gottheit desselben gänzlich schwieg, und ihn bloß als einen frommen und heiligen Mann, und als einen Kinderfreund vorstellte. Ich mache hierüber die Anmerkung, daß ein Kind, so lange es den Erlöser nur von dieser Seite kennet, ein Socinianer sei. Folglich habe ich Herr Cramern zum Socinianer gemacht? O Herr Basedow! O Logik!
Und hören Sie nur, was er wider die Anmerkung selbst erinnert. »Das Kind, sagt er, ist zu der Zeit, da es Christum als einen Menschenfreund, Wundertäter und Lehrer denkt, kein Socinianer; denn obgleich ein Socinianer ihn auch so denkt, so leugnet derselbe doch zugleich, daß er auch Gott und ein wahrer Versöhner sei, und nur durch das letzte verdienet er den Namen eines Socinianers.« – Nur durch das Leugnen? Ist denn aber das Leugnen etwas anders, als eine Folge des Widerspruchs? Man frage so ein Kind, das Christum nur als einen Menschen kennet: war nicht Christus auch wahrer Gott? »Gott? das wüßte ich nicht.« – Ja, er war es ganz gewiß. – »Ach nicht doch; Papa, der mir so viel von ihm gesagt hat, hätte mir das sonst auch wohl gesagt.« Nun leugnet das Kind. Nun ist das Kind erst ein Socinianer? Oder von einer andern Seite. Das Kind eines Socinianers, das den Lehrbegriff seines Vaters eingesogen hat, aber von keinen Leuten weiß, die Christum für mehr als einen großen und heiligen Mann halten, das also mit diesen Leuten noch nie in Widerspruch geraten können: das Kind ist kein Socinianer? Armselige Ausflüchte!
Nestor Ironside rechtfertigte seine Methode damit, daß man auch hier von dem Leichten und Begreiflichen zu dem Schwerern fortgehen müsse. Ich erkenne diese Regel der Didaktik; ich erinnere aber, daß dieses Leichtere, von welchem man auf das Schwerere fortgehen müsse, nie eine Verstümmlung, eine Entkräftung der schweren Wahrheit, eine solche Herabsetzung derselben sein müsse, daß sie das, was sie eigentlich sein sollte, gar nicht mehr bleibt. »Und daran, fahre ich fort, muß Nestor Ironside nicht gedacht haben, wenn er es, nur ein Jahr lang, dabei hat können bewenden lassen, den göttlichen Erlöser seinem Sohne bloß als einen Mann vorzustellen, den Gott zur Belohnung seiner unschuldigen Kindheit, in seinem dreißigsten Jahre mit einer so großen Weisheit, als noch niemals einem Menschen gegeben worden, ausgerüstet, zum Lehrer aller Menschen verordnet, und zugleich mit der Kraft begabt habe, solche herrliche und außerordentliche Taten zu tun, als sonst niemand außer ihm verrichten können.« – In dieser Stelle habe ich, nach dem Herrn Basedow, nicht mehr als zwei Verfälschungen begangen. Denn er fragt: Steht denn im Nordischen Aufseher etwas von einem Jahrlang? Werden daselbst die vortrefflichen Eigenschaften des Heilandes, für eine Belohnung seiner unschuldigen Kindheit ausgegeben?
Antwort auf die erste Frage: Das Jahrlang ist freilich mein Zusatz, aber ich sollte meinen, ein so billiger Zusatz, daß mir Herr Cramer Dank dafür wissen sollte. »Ein Kind, sagt Herr Basedow, ist früher, fähig zu fassen, daß der Heiland ein gehorsames Kind, ein weiser und unschuldiger Mann, ein großer Lehrer, Wundertäter und Menschenfreund war, als es seine Gottheit und Erlösung fassen kann.« Wie viel früher? Weniger als ein Jahr? So muß die Erkenntnis des Kindes mehr als menschlich zunehmen; oder der Übergang von dem einen Satze zu dem andern muß sehr gering und leicht sein. Ich Abscheu der Welt! Ich setze nur ein Jahr, wo ich vier bis fünf Jahre hätte setzen können.
Antwort auf die zweite Frage: Ja, allerdings läßt es der Aufseher den Nestor Ironside seinem kleinen Arthur sagen, daß die vortrefflichen Eigenschaften des Heilandes eine Belohnung seiner tugendhaften Kindheit gewesen wären. Nestor, sagt er, habe ihm erzählt, wie unschuldig, wie lehrbegierig, wie fromm, wie gehorsam das Kind Christus gewesen sei. »Und darum, läßt er ihn fortfahren, darum hätte er auch täglich an Weisheit und Gnade vor Gott und Menschen zugenommen; er wäre die Freude, das Wohlgefallen und die Bewunderung aller seiner Freunde und Bekannten geworden, und Gott hätte ihn endlich, nachdem er seine unschuldige Jugend in der Stille und Zufriedenheit mit der Armut und dem Mangel seiner Ältern zurück gelegt hatte, in seinem dreißigsten Jahre mit einer so großen Weisheit ausgerüstet etc.« Das ist eine zusammengesetzte periodus consecutiva, und das Darum, womit die Periode anfängt, muß auf alle Glieder derselben gezogen werden. Wenn ich also lese: Darum, weil er ein so unschuldiges, lehrreiches, frommes, gehorsames Kind war, rüstete ihn Gott in seinem dreißigsten Jahre mit so großer Weisheit aus etc.: so habe ich hoffentlich nicht falsch konstruiert. Und wofür hätte der junge Arthur die Wundergaben, womit Christus in seinem dreißigsten Jahre ausgerüstet ward, auch anders halten können, als für Belohnungen und Folgen seiner tugendhaften Kindheit? Er wußte ja sonst nichts anders von Christo!
G.
XXIII. Den 5. Junius
1760
Hundert und neunter Brief
»Warum verschweigt der Criticus die Rechtfertigung, die Herr Cramer seinem Rate« (einem Kinde den Erlöser, vors erste nur als einen frommen und heiligen Mann vorzustellen) »wahrlich um schwächerer Personen willen, als ein Journalist sein sollte, in demselben funfzigsten Stücke zugefügt hat?« – So fragt Herr Basedow, und wahrlich in einem Tone, daß ein treuherziger Leser darauf schwören sollte, ich hätte diese Rechtfertigung aus bloßer Tücke verschwiegen. Und ich bin mir doch bewußt, daß ich sie aus bloßem Mitleiden verschwiegen habe.
Denn wie lautet diese Rechtfertigung? So wie folget: »Mein Vater fand selbst in der Offenbarung eine Anleitung zu einer vorzüglichen Art des Unterrichts in diesen uns so notwendigen und unentbehrlichen Lehren, und zwar so wohl in der vortrefflichen Rede, die Paulus vor den Atheniensern, als in der Schutzrede, die er vor dem Landpfleger Felix und dem Könige Agrippa hielt. In beiden redet er von Christo; aber auf eine solche Art, die uns lehrt, wie man diejenigen von ihm unterrichten müsse, die noch gar keine Erkenntnisse von seiner erhabenen und herrlichen Person haben. Er schwieg mit einer bewundernswürdigen Weisheit in dem ersten Unterrichte, den er den Atheniensern gab, von den schweren und tiefsten Geheimnissen des Christentums. Er fing damit an, daß er ihnen einen Begriff von der Gottheit beizubringen suchte. Die Schöpfung und Regierung der Welt von Gott, und seine Vorsehung, die Schuldigkeit ihn kennen zu lernen, und seinen Gesetzen zu gehorchen, und das künftige Gericht durch einen Menschen, den er dazu ersehen, und deswegen von den Toten erweckt hätte, waren die ersten Lehren, die er ihnen verkündigte: und er wählte sie offenbar deswegen, weil sie schon einige obgleich falsche Begriffe davon hatten. So wenig sagte er das erstemal von Christo, ob er gleich genug sagte, ihre Neubegierde und Aufmerksamkeit zu reizen. Lehren von einem tiefern Inhalte würden eine ganz widrige Wirkung hervorgebracht, und ihren Verstand nicht sowohl erleuchtet, als verblendet haben. Man sieht diesen großen Lehrer der Völker in seiner Schutzrede vor Felix und Agrippa eine ähnliche Methode beobachten, und ihn aus den Lehren von dem Heilande der Welt dasjenige aussuchen, was von einem noch ununterrichteten Verstande am leichtesten gefaßt werden konnte. Er machte ihnen Christum, welches besonders merkwürdig ist, zuerst nicht als einen Versöhner, der für die Menschen eine vollkommene Genugtuung geleistet hätte, sondern als den Lehrer des menschlichen Geschlechts bekannt, als den, der verkündigen sollte ein Licht dem Volke Israel und den Heiden.«
»Diese Rechtfertigung« (setzt Herr Basedow von dem Seinigen hinzu) »ist vollkommen gründlich, und dem Criticus zu stark, als daß er ihrer erwähnen dürfte. Man darf nicht sagen, daß das Apostolische Exempel deswegen, weil Heiden und Juden Meinungen hatten, die den Geheimnissen des Christentums gerade entgegen gesetzt waren, einem stufenweise zunehmenden Unterrichte der Kinder nicht zur Rechtfertigung dienen könne. Denn erstlich erhellet doch so viel daraus, daß es nicht ketzerisch sei, von Christo anfangs dasjenige zu sagen, was weniger wunderbar ist, und vors erste von dem Schweren und Geheimnisvollen zu schweigen. Zweitens ist das Unvermögen kleiner Kinder, den Ausdruck der Geheimnisse zu verstehen, gewiß eine eben so wichtige Ursache dieser Lehrart, als die Vorurteile der Juden und Heiden.«
Herr Basedow glaube ja nicht, daß ich auf diesem Einwurfe, den er sich selbst macht, und selbst beantwortet, bestehen werde. Und warum nicht? Weil er eine Kleinigkeit als unstreitig voraussetzet, an der ich mir die Freiheit nehme, noch sehr zu zweifeln. An der ich zweifle? Die ich schlechterdings leugne. Und welches ist diese Kleinigkeit? Nur diese: daß Paulus bei besagten Gelegenheiten besagte Methode wirklich gebraucht habe.
Dieses, wie gesagt, leugne ich. Urteilen Sie, ob ich Grund habe. – Zuerst von der Rede des Apostels vor den Atheniensern.(139) Der Apostel wird vor Gerichte geführet, und er soll da sagen, was dieses für eine neue Lehre sei, die er lehre. Er fängt an zu reden; wirft ihnen ihren Aberglauben vor; dringet auf den wahren Begriff einer einzigen höchsten Gottheit, der ihren eignen Weisen nicht ganz unbekannt gewesen sei; und eilet zu der Sache zu kommen, die man eigentlich von ihm zu wissen verlangt, zu seiner neuen Lehre. Die Worte, Und zwar hat Gott die Zeit der Unwissenheit übersehen; nun aber gebeut er allen Menschen an allen Enden Buße zu tun; diese Worte, sage ich, sollen den Einwurf vorläufig beantworten, den man von der Neuheit seiner Lehre hernehmen könnte; und nun ist er auf einmal Mitten in seiner Materie: Darum, daß er einen Tag gesetzt hat, auf welchen er richten will den Kreis des Erdbodens mit Gerechtigkeit durch einen Mann, in welchem ers beschlossen hat, und jedermann fürhält den Glauben, nachdem er ihn hat von den Toten auferweckt. Das sind die Sätze, über die er sich nunmehr weiter verbreiten will; die er den Atheniensern in der Folge seiner Rede näher erklären will. Aber was geschieht? Da sie hörten die Auferstehung der Toten, da hattens etliche ihren Spott, etliche aber sprachen: wir wollen dich davon weiter hören. Es waren Teils Epikurer, Teils Stoiker, die den Apostel vor Gerichte geführt hatten. Die Epikurer spotteten; die Stoiker wurden kalt: jene lachen; diese gähnen: keiner besteht auf seiner Anklage, und also ging Paulus von ihnen. Nun frag ich: wie kann man dieses für eine ganze, vollständige Rede des Apostels halten? Es ist ja offenbar nichts mehr, als der bloße Anfang einer Rede. Er ward unterbrochen; man wollte ihn nicht mehr hören, als er nun eben auf das kam, wovon Herr Cramer sagt, daß er es vorsetzlich mit einer bewundernswürdigen Weisheit in dem ersten Unterrichte verschwiegen habe. Verschwiegen? Verschweigt man das, wozu man uns nicht kommen läßt? Paulus erwähnt des Glaubens, erwähnt des Gerichts; aber seine Zuhörer gehen fort. Lag die Ursache also in dem Paulus, lag sie also in seiner didaktischen Klugheit, von dem minder Wunderbaren anzufangen, daß er ihnen von diesem Glauben nicht mehr sagte? daß er sie den Mann nicht näher kennen lehrte, durch welchen Gott den Kreis des Erdbodens richten wolle? Herr Cramer macht, zu meinem nicht geringern Erstaunen, aus diesem Manne einen Menschen: aus diesem Manne, den Petrus mit einer ihm selbst am besten bewußten Emphasis,(140) den Mann von Gott nennt, einen Menschen. Ich möchte doch wissen, wie er diese Vertauschung bei unsern Exegeten verantworten wollte. Sie ist ganz gewiß unverantwortlich; ob ich sie gleich für weiter gar nichts ausgeben will, als für eine Übereilung des Herrn Hofpredigers. Hätte Paulus weiter reden können, so würde sein zweites Wort unfehlbar von der Gottheit dieses Mannes gewesen sein. Denn er beobachtete in diesem Punkte die menschliche Klugheit des Herrn Hofpredigers so wenig, daß er schon vorher zu Athen auf dem Markte alle Tage, zu denen, die sich herzufanden, von der Gottheit Christi gesprochen hatte. Wie hätte sonst der heilige Geschichtschreiber hinzusetzen können: Etliche aber der Epikurer und Stoiker Philosophi zankten mit ihm, und etliche sprachen: Was will dieser Lotterbube sagen? Etliche aber: Es siehet, als wolle er neue Götter verkündigen. Das machte, er hatte das Evangelium von Jesu, und von der Auferstehung ihnen verkündigt. Man überlege die Worte: »Es scheinet als wolle er neue Götter verkündigen; das machte, er hatte ihnen das Evangelium von Jesu verkündiget.« Nichts kann deutlicher sein. Folglich kann Herr Cramer aus der obigen Rede für sich nichts schließen. Erstlich, weil sie nicht der erste Unterricht war, den der Apostel den Atheniensern gab; und zweitens weil es eine unterbrochene Rede war. Vielmehr kann man den Herrn Cramer aus diesem Exempel förmlich widerlegen; weil es drittens offenbar ist, daß der Apostel gerade das Gegenteil von dem getan hat, was er ihn tun läßt, daß er seinen Unterricht ohne Umschweife von der Gottheit Christi angefangen hat. Denn er schien neue Götter zu verkündigen, weil er ihnen das Evangelium von Jesu verkündigte.
Ich hätte hier eine feine Gelegenheit, gelehrte Bücher zu plündern, und meinem Briefe selbst dadurch ein gelehrtes Ansehen zu geben. Aber wer betrachtet gern etwas durch ein Vergrößerungsglas, was er mit bloßen Augen deutlich genug sehen kann? Erlauben Sie mir unterdessen, nur einen einzigen Mann anzuführen, dessen exegetische Gelehrsamkeit ein wenig mehr außer Zweifel gesetzt ist, als des Herrn Cramers oder meine. Es ist D. Heumann. Herr Basedow sei so gut, und lese dieses würdigen Gottesgelehrten »Erklärung der Apostelgeschichte«, wenn er die Meinung seines Freundes von der obigen Rede des Paulus, Vers vor Vers widerlegt und verworfen finden will. Gleich Anfangs gedenkt der Doctor der Vorstellungen, welche Sebastian Schmidt, und Franciscus Fabricius von dieser Rede des Apostels gemacht haben, und sagt: »Beiden aber kann ich darin keinen Beifall geben, wenn sie glauben, es habe Paulus diese Rede an die Professoren der Stoischen und Epikurischen Weisheit gehalten, und daher die Lehren der Vernunft von Gott oder der philosophischen Theologie vornehmlich vorgetragen. Der letztere, Fabricius, will auch die Klugheit unsers heiligen Redners zeigen, und suchet sie auch darinnen, daß Paulus Gott nicht den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs genennet, auch seine Lehren nicht aus den Propheten, sondern aus heidnischen Poeten, bestätigt, wie auch Jesum nicht einmal mit Namen genennt habe. Wie unbedachtsam ist doch dieses! Wird nicht auf diese Weise Paulo fast eben die Klugheit beigelegt, welche die Jesuiten in China ausüben, deren Bekehrungsklugheit von ihren eigenen Religionsverwandten gemißbilliget wird?« – Was sagen Sie zu dieser Stelle? Der Doctor will von keiner Bekehrungsklugheit wissen, die der Hofprediger eine bewundernswürdige Weisheit nennt. Er schwieg mit einer bewundernswürdigen Weisheit in dem ersten Unterrichte, den er den Atheniensern gab, von den schweren und tiefsten Geheimnissen des Christentums. Die Rede, die der Apostel auf dem Areopago hielt, war der erste Unterricht nicht, den er den Atheniensern gab; und in dem vorhergegangenen ersten Unterrichte, sagt der Doctor ausdrücklich, »lehrte Paulus, Jesus sei der Sohn Gottes.(141) Die Spötter nennten Jesum einen neuen und fremden, das ist, bisher unerhörten Gott. Sie sagten neue Götter, und meinten doch nur den von Paulo gepredigten Jesum. Diese Art zu reden ist gewöhnlich, wenn man indefinite redet« etc. Eben so ausdrücklich behauptet der Doctor, daß Paulus in der gedachten Rede selbst, allerdings von den eigentlichen Glaubenslehren würde geredet haben, wenn ihn das laute Gelächter der spöttischen Zuhörer nicht aufzuhören gezwungen hätte. Er erklärt die letzten Worte pisin parechein pasin durch »die Glaubenslehren allen Menschen vortragen, und sie belehren, daß, die Seligkeit zu erlangen, der Glaube an Jesum das einzige Mittel sei.« Er sagt nicht, daß der Apostel den Atheniensern nur deswegen von einem künftigen Gerichte durch einen Mann, den Gott dazu ersehen, geprediget, weil dieses eine Lehre gewesen sei, von welcher sie schon einige, obgleich falsche Begriffe gehabt hätten: sondern er sagt, daß es deswegen geschehen sei, weil Paulus durch diese drohende Vorstellung des Gerichts, seine Zuhörer aufmerksam machen, und bewegen wollen, daß sie den Beweis seiner göttlichen Gesandtschaft von ihm verlangen möchten. »Diesen Beweis, fährt der Doctor fort, würde er ihnen überzeuglich gegeben haben, wenn sie nicht bald darauf mit spöttischem Schreien ihm in die Rede gefallen wären, und dieselbe zu beschließen, ihn genötigt hätten.« etc.
Nun von des Apostels Schutzrede vor dem Landpfleger Felix. – Auch in dieser ist nicht die geringste Spur von der didaktischen Klugheit, welche die Methode des Herrn Cramers entschuldigen soll. Und wie könnte es auch? Paulus hat darin nichts weniger als die Absicht zu unterrichten, und seiner Lehre Proselyten zu schaffen: sondern er sucht einzig und allein die bürgerliche Klage von sich abzulehnen, welche die Juden gegen ihn erhoben hatten. Er zeiget aus den Umständen der Zeit, daß die Beschuldigung, als habe er einen Aufruhr erregen wollen, schon an und vor sich selbst unwahrscheinlich sei, und füget die wahre Ursache hinzu, warum er von den Juden so verleumdet werde; darum nämlich, weil er nach diesem Wege, den sie eine Sekte heißen, also dem Gotte seiner Väter diene, daß er glaube allem, was geschrieben stehet im Gesetze und in den Propheten. Von diesem Wege sagt er alsdenn nur auch ganz allgemeine Dinge, und wenig mehr als ohngefähr einen Einfluß auf den Charakter eines ehrlichen Mannes, eines ruhigen und wohltätigen Bürgers haben konnte. Und dieses tut er, nicht um den Felix zu größern Geheimnissen vorzubereiten, sondern bloß um von ihm als Richter, bürgerliche Gerechtigkeit zu erlangen. Kurz, es ist mir unbegreiflich, wie Herr Cramer in dieser Rede seine Methode hat finden können. Hätte er unterdessen nur einige Zeilen weiter gelesen; so würde er gerade das Gegenteil derselben, auch hier gefunden haben. Nach etlichen Tagen aber, fährt der Geschichtschreiber fort, kam Felix mit seinem Weibe Drusilla, die eine Jüdin war, und fodert Paulum, und hört ihn von dem Glauben an Christo. Da aber Paulus redet von der Gerechtigkeit, und von der Keuschheit, und von dem zukünftigen. Gerichte, erschrak Felix und antwortete: Gehe hin auf diesmal, wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich her lassen rufen. Diese Stelle ist höchst merkwürdig. Felix und seine Gemahlin hören den Apostel von dem Glauben an Christo, von den unbegreiflichsten Geheimnissen unsrer Religion. Aber nicht über diese unbegreifliche Geheimnisse erschraken sie; nicht diese unbegreifliche Geheimnisse hatten Schuld, daß sie nicht Christen wurden: sondern das strenge und tugendhafte Leben, auf welches der Apostel zugleich mit drang, das schreckte sie ab.
Aber ich eile, auch noch ein Wort von der Schutzrede des Paulus vor dem Könige Agrippa, zu sagen. – Ich werde hier recht sehr auf meiner Hut sein müssen, daß mir nicht etwas hartes gegen den Herrn Cramer entfähret. Seine ganze Theologie mußte ihn verlassen haben, als er schreiben konnte, »Paulus habe Christum dem Agrippa, zuerst nicht als einen Versöhner, der für die Menschen eine vollkommene Gnugtuung geleistet hatte, sondern als den Lehrer des menschlichen Geschlechts bekannt gemacht, als den, der verkündigen sollte ein Licht dem Volke Israel und den Heiden.« Das ist zu arg! Hören Sie nur. Agrippa war ein Jude; also ein Mann, der mit dem Apostel in dem Begriffe von dem Messias überein kam; also ein Mann, dem er nicht erst beweisen durfte, daß Gott durch die Propheten einen Messias versprochen habe; sondern den er bloß überführen mußte, daß Jesus der versprochene Messias sei. Und dieses tat er dadurch, daß er zeigte, die Prophezeiungen, der Messias werde leiden müssen, werde der erste unter denen sein, die von den Toten auferstehen, diese Prophezeiungen wären in Jesu erfüllt worden. Paulus schwieg also von der Göttlichkeit und Genugtuung des Messias hier so wenig, daß er beides vielmehr bei dem Agrippa voraussetzte. Leiden, Sterben, Auferstehen, ein Licht dem Volke und den Heiden verkündigen; alles dieses faßt der Apostel in einen einzigen Perioden: und doch kann Herr Cramer behaupten, daß er von Christo nur als einem Lehrer und nicht als einem Versöhner gegen den Agrippa gesprochen habe? Er lese doch nur: Daß Christus sollte leiden, und der Erste sein aus der Auferstehung von den Toten, und verkündigen ein Licht dem Volke und den Heiden.
Und das ist nun die Rechtfertigung, welche Herr Basedow vollkommen gründlich, und mir zu stark nennet, als daß ich ihrer hätte erwähnen dürfen. Noch einmal: ich habe ihrer aus bloßem Mitleiden nicht erwähnt.
G.
XXIV. Den 12. Junius
1760
Hundert und zehnter Brief
Sie sind meine polemischen Briefe müde. Ich glaube es sehr gern. Aber nur noch eine kleine Geduld; ich habe wenig mehr zu sagen, und will mich so kurz als möglich fassen.
Wenn Herr Cramer die Rechtfertigung seiner Methode in der Offenbarung nicht findet: so kann er sie nirgends finden, als in seiner guten Absicht. Diese will ich ihm nicht im geringsten streitig machen. Allein ein Projektmacher, wenn es auch ein theologischer Projektmacher wäre, muß mehr als eine gute Absicht haben. Sein Projekt muß nicht allein für sich selbst praktikabel sein, sondern die Ausführung desselben muß auch unbeschadet anderer guten Verfassungen, die bereits im Gange sind, geschehen können. Beides vermisse ich an dem Projekte des Herrn Cramers. Vors erste ist es für sich selbst nicht praktikabel. Denn so ein Kind, das den Erlöser erst als einen frommen und heiligen Mann, als einen Kinderfreund, soll kennen und lieben lernen, müßte so lange dieser vorbereitende Unterricht dauerte, von allem öffentlichen und häuslichen Gottesdienste zurückgehalten werden; es müßte weder beten noch singen hören, wenn es in den Schranken der mit ihm gebrauchten Methode bleiben sollte. Zweitens streitet das Cramersche Projekt mit mehr als einer angenommenen Lehre unserer Kirche. Ich will itzt nur die Lehre von dem Glauben der Kinder nennen. Herr Cramer muß wissen, was unsere Kirche von dem Glauben der Kinder, auch schon alsdenn, wenn sie noch gar keine Begriffe haben, lehret; er muß wissen, daß die Frage, die einem Täuflinge geschiehet: Glaubest du etc. mehr saget, als: Willst du mit der Zeit glauben etc.
Und hier will ich abbrechen. Schließlich möchte ich den Herrn Basedow, folgendes zu überlegen, bitten. Als ich in dem »Nordischen Aufseher« eine Methode angepriesen fand, die mir eine unbehutsame Neuerung eines Mannes zu sein schien, der die strenge Orthodoxie seinen guten Absichten aufopfert; als ich sie mit Gründen angepriesen fand, die den sorgfältigsten Exegeten gewiß nicht verraten; als ich den betäubenden, niederdonnernden Ausspruch, ohne Religion kann keine Redlichkeit sein, damit verglich: war es nicht sehr natürlich, daß mir gewisse Gottesgelehrten dabei einfielen, »die sich mit einer lieblichen Quintessenz aus dem Christentume begnügen, und allem Verdachte der Freidenkerei ausweichen, wenn sie von der Religion überhaupt nur fein enthusiastisch zu schwatzen wissen.« Weder Herr Basedow noch Herr Cramer wird leugnen wollen, daß es dergleichen Gottesgelehrten itzt die Menge gibt. Wenn aber jener meine allgemeine Anmerkung so ausleget, als ob ich sie schlechterdings auf diesen angewendet wissen wolle; so muß ich seine Auslegung für eine Calumnie erklären, an die ich nie gedacht habe. Ich sage: »auch der ›Nordische Aufseher‹ hat ein ganzes Stück dazu angewandt, sich diese Miene der neumodischen Rechtgläubigkeit zu geben etc.« Ist denn dieses eben so viel, als wenn ich gesagt hätte: Auch der Nordische Aufseher ist einer von diesen Rechtgläubigen? Ich rede ja nur von einer Miene, die er sich geben will. Ich sage ja nicht, daß er sich diese Miene aus eben der Ursache geben will, aus welcher sie jene führen. Jene führen sie, um ihre Freidenkerei damit zu maskieren; und er will sie annehmen, vielleicht weil er glaubt, daß sie gut läßt, daß sie bezaubert. Wenn eine neue Mode aus einer gewissen Bedürfnis entsprungen ist, haben darum alle, welche dieser Mode folgen, die nämliche Bedürfnis? Haben alle, die einen Kragen am Kleide tragen, einen Schaden an ihrem Halse, weil ein solcher Schaden den ersten Kragen, wie man sagt, veranlaßt hat?
G.
Hundert und elfter Brief
Die Verlegenheit, in die mich Herr Basedow in Ansehung des zweiten Mitarbeiters an dem »Nordischen Aufseher«, des Herrn Klopstocks, mit aller Gewalt setzen will, hat mich von Grund des Herzens lachen gemacht.
»Auch das fünf und zwanzigste Stück, sagt Herr Basedow, von einer dreifachen Art über Gott zu denken, dessen Verfasser der Herr Klopstock ist, wird von dem Herrn Journalisten sehr feindselig angegriffen. Er muß vermutlich das Klopstockische Siegel nicht darauf gesehen haben, wie auf andern Stücken desselben Verfassers, von welchen er mit Hochachtung redet.« – Herr Basedow will vermutlich hier spotten. Vermutlich aber wird der Spott auf ihn zurück fallen. Denn gesetzt, ich hätte allerdings das Klopstockische Siegel darauf erkannt: was weiter? Hätte ich es bloß deswegen, ohne fernere Untersuchung, für gut, für vortrefflich halten sollen? Hätte ich schließen sollen: weil Herr Klopstock dieses und dieses schöne Stück gemacht hat; so müssen alle seine Stücke schön sein? Ich danke für diese Logik. »Herr Klopstock, heißt es an einem andern Orte, so gewogen der Criticus sich demselben auch anstellt« etc. Anstellt? Warum denn anstellt? Ich kenne den Herrn Klopstock von Person nicht; ich werde ohne Zweifel nie das Vergnügen haben, ihn so kennen zu lernen; er wohnt in Kopenhagen, ich in ** ; ich kann ihm nicht schaden; er soll mir nichts helfen: was hätte ich denn also nötig, mich gegen ihn anzustellen? Nein, ich versichere den Herr Basedow auf meine Ehre, daß ich dem Herrn Klopstock in allem Ernste gewogen bin; so wie ich allen Genies gewogen bin. Aber deswegen, weil ich ihn für ein großes Genie erkenne, muß er überall bei mir Recht haben? Mit nichten. Gerade vielmehr das Gegenteil: weil ich ihn für ein großes Genie erkenne, bin ich gegen ihn auf meiner Hut. Ich weiß, daß ein feuriges Pferd auf eben dem Steige, samt seinem Reiter den Hals brechen kann, über welchen der bedächtliche Esel, ohne zu straucheln, gehet.
Wer heißt den Herrn Klopstock philosophieren? So gewogen bin ich ihm freilich nicht, daß ich ihn gern philosophieren hörte. Und können Sie glauben, Herr Basedow selbst ist in dem gedachten Stücke nicht ganz mit ihm zufrieden. Sie wissen, was ich dagegen erinnert habe. Erstlich, daß er uns mit seiner dritten Art über Gott zu denken, nichts Neues sage; das Neue müßte denn darin liegen, daß er das denken nennet, was andere empfinden heißen. Das räumet Herr Basedow ein, und fragt bloß: »Ob man denn über alte Dinge etwas neues sagen müsse? Und ob denn Herr Klopstock nicht das Recht gehabt habe, das Wort denken anders zu nehmen, als es in der üblichen Sprache einiger Systeme genommen werde?« Ich selbst habe ihm dieses Recht zugestanden, und nur wider den Irrtum, auf welchen er dadurch verfallen ist, protestieret; als worin mein zweiter Einwurf bestand. Er sagt nämlich, daß man durch die dritte Art über Gott zu denken, auf neue Wahrheiten von ihm kommen könnte, wenn die Sprache nicht zu arm und schwach wäre, das, was wir dabei dächten, auszudrücken. Ich sage: keine neue Wahrheiten! Und was sagt Herr Basedow? »Ich gestehe, es wäre vielleicht nicht ganz abzuraten gewesen, den Ausdruck neue Wahrheiten zu vermeiden, oder ihn vielmehr zu erklären.« Das gesteht Herr Basedow, und doch zankt er mit mir. Ja freilich; wenn es erlaubt ist, allen Worten einen andern Verstand zu geben, als sie in der üblichen Sprache der Weltweisen haben: so kann man leicht etwas Neues vorbringen. Nur muß man mir auch erlauben, dieses Neue nicht immer für wahr zu halten.
Aber wieder auf das Vorige zu kommen: Hatte ich wirklich das Klopstockische Siegel auf dem gedachten Stücke nicht gesehen? O nur allzudeutlich; und ich dächte, ich hätte es auch nur allzudeutlich zu verstehen gegeben. Ich schrieb nämlich: »Ich verdenke es dem Verfasser sehr, daß er sich bloß gegeben, so etwas auch nur vermuten zu können.« Dieses er war nicht umsonst in dem Manuskripte unterstrichen, ward nicht umsonst mit Schwabacher gedruckt. Dieses er war Herr Klopstock. Denn Herr Basedow wird doch wohl wissen, wofür die Gottschede und Hudemanns den Herrn Klopstock halten. Dieser Leute wegen tat es mir im Ernste leid, daß er eine Theorie verraten habe, die ihren kahlen Beschuldigungen auf gewisse Weise zu statten komme.
Und so wenig ich aus des Herrn Klopstocks Philosophie mache, eben so wenig mache ich aus seinen Liedern. Ich habe davon gesagt: »sie wären so voller Empfindung, daß man oft gar nichts dabei empfinde.« Herr Basedow hingegen sagt von dem Liede, von welchem damals vornehmlich die Rede war: »Es ist, wie mich dünkt, ganz so gedankenreich und schön, wie die folgende Strophe.«
Jesus, Gott wird wiederkommen.
Ach laß uns dann mit allen Frommen
Erlöst zu deiner Rechten stehn!
Ach du müssest, wenn in Flammen
Die Welt zerschmilzt, uns nicht verdammen!
Laß alle kämpfen dich zu sehn!
Dann setz auf deinen Thron
Die Sieger, Gottes Sohn,
Hosianna!
Zur Seligkeit
Mach uns bereit,
Durch Glauben, durch Gerechtigkeit.
Das nennt Herr Basedow gedankenreich? Wenn das gedankenreich ist; so wundere ich mich sehr, daß dieser gedankenreiche Dichter nicht längst der Lieblingsdichter aller alten Weiber geworden ist. Ist das der Dichter, der jenen Traum vom Sokrates gemacht hat? Damit aber Herr Basedow und seines gleichen, nicht etwa meinen mögen, daß mein Urteil über die Klopstockischen Lieder ein bloßer witziger Einfall sei, so will ich ihnen sagen, was ich dabei gedacht habe. Es kann wahr sein, dachte ich, daß Herr Klopstock, als er seine Lieder machte, in dem Stande sehr lebhafter Empfindungen gewesen ist. Weil er aber bloß diese seine Empfindungen auszudrücken suchte, und den Reichtum von deutlichen Gedanken und Vorstellungen, der die Empfindungen bei ihm veranlaßt hatte, durch den er sich in das andächtige Feuer gesetzt hatte, verschwieg und uns nicht mitteilen wollte: so ist es unmöglich, daß sich seine Leser zu eben den Empfindungen, die er dabei gehabt hat, erheben können. Er hat also, wie man im Sprüchworte zu sagen pflegt, die Leiter nach sich gezogen, und uns dadurch Lieder geliefert, die von Seiten seiner, so voller Empfindung sind, daß ein unvorbereiteter Leser oft gar nichts dabei empfindet. Der »Hamburgische Anzeiger« sagt, es sei ihm dieses mein Urteil eben so vorgekommen, »als ob jemand von Lessings schönen Fabeln urteilen wollte, sie wären so witzig, daß sie oft ganz aberwitzig darüber würden.« Der Herr versuche nunmehr, ob er in seine Instanz eben den richtigen Sinn legen kann, der in meinem Urteile liegt. Desto schlimmer aber für Lessingen, wenn seine Fabeln nichts witzig sind!
G.
Hundert und zwölfter Brief
Herr Basedow – und nun werde ich seiner zum letztenmale gedenken, – wirft auf allen Seiten mit Lieblosigkeiten, mit Verleumdungen um sich; und der »Hamburgische Anzeiger« sagt, daß ein sehr niedriger Bewegungsgrund mich aufgebracht habe, den Aufseher als ein höchst schlechtes Werk herunter zu setzen. Beide Herren muß ein verborgenes Geschwür jucken, das sie mit aller Gewalt aufgestochen wissen wollen. Ihr Wille geschehe also. Ich wünsche, daß die Operation wohl bekommen möge.
Erinnern Sie sich wohl des erdichteten Briefes, den der nordische Aufseher in seinem sieben und dreißigsten Stücke mitteilet? Vielleicht haben Sie ihn überschlagen. Ich meine folgenden.
»Mein Herr!
Hoffentlich werden Sie sich doch, bei dem Schlusse des ersten Teils Ihrer Blätter, in Kupfer stechen lassen. Ich habe Sie zwar noch nicht gesehen, so oft ich Sie auch auf unsern Spaziergängen aufgesucht habe, und ich habe ein scharfes Gesicht. Gewiß Sie entziehen sich dem Publico allzusehr. Dennoch getraue ich mir, Sie vollkommen zu treffen. Das verspreche ich: Ihr Portrait soll keinem in der Bibliothek der schönen Wissenschaften etwas nachgeben. Ein altes saures Gesicht mit Runzeln, wie Gellert und ein anderer Dichter; tiefsinnig; schief; auch ein wenig mürrisch, denn im Schatten bin ich stark. Nicht wahr? Ich warte nur auf Ihre Erlaubnis, mein Herr, um den Grabstichel in die Hand zu nehmen; die Platte ist schon fertig. Ich mache auch Inscriptionen in Prosa und Versen, wenn Sie sie haben wollen. Ihr Verleger ist, wie ich höre, so eigen, daß er Ihr Bild dem Werke, ohne Ihr Wissen nicht vorsetzen will. Aber der wunderliche Mann! Er soll nicht dabei zu kurz kommen; das such wird gewiß desto bessern Abgang haben. Nur muß er meine Mühe nicht umsonst verlangen.
Das will ich Ihnen noch im Vertrauen stecken: Ich kenne eine etwas betagte reiche Witwe, welche alle Augenblicke bereit ist, sich in Sie zu verlieben, wenn Sie so aussehen, wie ich Sie zeichnen will. Die Frau sieht nicht übel aus. Sie sind doch noch Witwer? Ich bin
Mein Herr
Ihr untertänigster Diener
Philipp Kauk.
Kupferstecher«
Ich frage einen jeden, dem es bekannt ist, daß der Kupferstecher, der ein Paar Portraits vor der »Bibliothek der schönen Wissenschaften« gemacht hat, wirklich Kauke heißt, ob diesem Briefe das geringste zu einem förmlichen Pasquille fehlt? Ich wußte nicht, ob ich meinen Augen trauen sollte, als ich sahe, daß sich ein Mann, wie der Nordische Aufseher, der von nichts als Religion und Redlichkeit schwatzt, der es seiner Würde für unanständig erklärt hatte, sich mit der Satyre abzugeben, daß sich so ein Mann so schändlich vergangen hatte. Gesetzt der Künstler spräche zu ihm: »Mein Herr, der Sie so eigenmächtig nicht Tadel, sondern Schande austeilen, darf ich wohl wissen, wie ich zu diesem Brandmale komme? Es ist wahr, ich habe eines von den bewußten Portraits gestochen; aber nicht aus freiem Willen, sondern weil es mir aufgetragen ward, weil mir die Arbeit bezahlt ward, und ich von dieser Beschäftigung lebe. Ich habe mein Bestes getan. Allein man hat mir ein so schlechtes Gemälde geliefert, daß ich nichts besseres daraus habe machen können. Ich sage Ihnen, daß alle die Fehler, die Sie in meinem Stiche tadeln, in dem Gemälde gewesen sind; und daß ein Kupferstecher keinen Fehler des Gemäldes nach Gutdünken verbessern kann, ohne in Gefahr zu sein, die Ähnlichkeit auf einmal zu vernichten. Was weiß ich, ob Herr Gellert ein Adonis ist, oder ein saures Gesicht mit Runzeln hat? Was weiß ich, ob der andere Dichter (den ich nicht einmal gestochen habe) schief und mürrisch aussieht? Wir Kupferstecher stechen die Leute, wie wir sie gemalt finden. Und als Kupferstecher, sollte ich meinen, hätte ich doch immer noch einen Stichel gezeigt, der fester und kühner ist, und mehr verspricht? als daß er eine so öffentliche Beschimpfung verdient hätte. Doch dem sei wie ihm wolle. Wenn ich auch schon der allerelendeste Kupferstecher wäre, warum gehen Sie aus den Schranken des kritischen Tadels? Warum muß ich noch etwas schlimmeres als der elendeste Kupferstecher, warum muß ich Ihr Kuppler sein? Muß ich Ihr Kuppler sein, weil Ihre Freunde das Unglück durch mich gehabt haben, nicht so schön und artig in der Welt zu erscheinen, als sie sich in ihren Spiegeln erblicken? Dieses einzige frage ich Sie: muß ich darum Ihr Kuppler sein?« – Wenn, sage ich, der Künstler zu dem Aufseher so spräche; was könnte der fromme, redliche, großmütige Mann antworten?
Herr Basedow möchte gar zu gern meinen Namen wissen. Gut; er soll ihn erfahren, sobald einer von ihnen, entweder Herr Cramer, oder Herr Klopstock, oder er selbst, das Herz hat, sich zu diesem Pasquille zu bekennen.
G.
Siebenter Teil
1760
XII. Den 18. September
1760
Hundert und sieben und zwanzigster Brief
Sie kennen doch den Äsopischen Zahnschreier, Hermann Axel, den die Schweizerischen Kunstrichter vor einigen Jahren mit so vieler zujauchzenden Bewunderung austrommelten? Er unterschied sich von andern Zahnschreiern besonders dadurch, daß er sehr wenig redte. Wenn er aber seinen Mund auftat, so geschah es allezeit mit einer Fabel. Der schnakische Mann war in der Schweiz überall willkommen; er durfte ungebeten bei den Tafeln und Gastmählern vornehmer und geringer Personen erscheinen; man hielt dafür, daß seine Zeche durch die Fabeln, die er unter die Gespräche mischte, überflüssig bezahlt sei. Unter andern wußte er sehr viel von Gauchlingen zu erzählen; wie die Gauchlinger über ihre böse Bach ratschlagen; wie die Gauchlinger nicht Spitzhosen anstatt Pluderhosen tragen wollen; wie die Gauchlinger etc. Alle diese Gauchlingiana haben seine Freunde zu Papiere gebracht, und sie in den »Freimütigen Nachrichten«, in den »Kritischen Briefen«, in der Vorrede zu M. v. K. »Neuen Fabeln«, zum ersten, zweiten, dritten, und der Himmel gebe, letzten male drucken lassen.
Das alles wissen Sie. Aber wissen Sie auch, daß Hermann Axel noch lebt? Daß er nunmehr auf seine eigene Hand ein Autor geworden ist? Daß er einen kläglichen Beweis gegeben, wie wirksam das Gift seiner Schmeichler auf seinen gesunden Verstand gewesen sein müsse? Diese bösen Leute hatten ihn und den Aesopus so oft zusammen genennt, bis er sich wirklich für einen zweiten Patäcus (ός εφασκε την Αισωπου ψυχην εχειν(142)) gehalten. Nun fiel Lessingen vor kurzem ein, an dieser Seelenwanderung zu zweifeln, und verschiedenes wider die Axelische Fabeltheorie einzuwenden. Wer hieß ihm das? Er hätte die Schweizer besser kennen sollen. Er hätte wissen sollen, daß sie den geringsten Widerspruch mit der plumpsten Schmähschrift zu rächen gewohnt sind. Hermann Axel spricht zwar wenig; aber er kann desto mehr schreiben. Er wird eine Sündflut von Fabeln wider ihn ausschütten. Er wird mit Stoppen und Kräuterbündeln um sich werfen. Er wird – – alles tun, was er wirklich in folgendem Buche getan hat. Lessingische unäsopische Fabeln: enthaltend die sinnreichen Einfälle und weisen Sprüche der Tiere. Nebst damit einschlagender Untersuchung der Abhandlung Herrn Lessings von der Kunst Fabeln zu verfertigen.(143)
Dieses Buch, welches um die Hälfte stärker ist als die Lessingischen Fabeln selbst, hat so viel sonderbare Seiten, daß ich kaum weiß, von welcher ich es Ihnen am ersten bekannt machen soll. So viel läßt sich gleich aus dem Titel abnehmen, daß es aus Fabeln und Abhandlungen bestehet. Jene sollen spöttische Parodien auf Lessings Fabeln sein; und in diesen soll die Lessingische Theorie von der Fabel mit Gründen bestritten werden. Hermann Axel dünkt sich in Schimpf und Ernst maitre passé; er will nicht bloß die Lacher auf seiner Seite haben, sondern auch die denkenden Köpfe; er fängt mit Fratzengesichtern an, und höret mit Runzeln auf. Aber woher weiß ich es, werden Sie fragen, daß Hermann Axel der Verfasser von diesen Lessingischen unäsopischen Fabeln ist? Woher? Er hat sich selbst dazu bekannt, indem er verschiedene von den Fabeln, die ihm in den Kritischen Briefen beigelegt werden, hier wieder aufwärmt? hier zum viertenmale drucken läßt. Mit was für Recht könnte er das tun, wenn nicht diese sowohl als jene seine wären; wenn er nicht beide für Geburten von ihm erkannt wissen wollte?
Lesen Sie nur gleich die erste Fabel, um alle die Beschuldigungen auf einmal zu übersehen, die er seinem witzigen Antagonisten macht. Witzig ist hier ein Schimpfwort, muß ich Ihnen sagen. Denn mit allem würde Lessing vor ihm noch eher Gnade finden, als mit seinem Witze. Den kann er durchaus nicht leiden.
Die neue Fabel-Theorie
»Ich saß an einem murmelnden Bache auf einem glatten Steine, und rief die Muse an, die den Aesopus seine Fabeln gelehrt hatte. Indem kam mit seltsamen Bocksprüngen eine Gestalt wie eines Faunus aus dem nahen Walde hervor; er kam gerade auf mich zu, und sagte: Die Muse hört dich nicht, sie ist itzo beschäftiget einem Poeten beizustehen, der den Tod Sauls und Jonathans singt: ich will statt ihrer dir bei deiner Geburt helfen. Ich bin von dem Gefolge der Musen, und diene den Poeten und Malern nicht selten bei ihrer Arbeit; sie nennen mich Capriccio, ich bin jener Geist
– ille ciens animos et pectora versans,
Spiritus a capreis montanis nomen adeptus.
Die Deutschen haben mir noch keinen Namen gegeben, und nur wenige von ihnen kennen mich. Ich machte eine tiefe Verneigung, und sagte, daß ich bereit wäre, mit ihm auf die Fabeljagd zu gehen. Diese Mühe, sagte er, können wir uns sparen; dafür wollen wir im Aelian und Suidas und Antonius Liberalis jagen. Wenn wir ihre Geschichten bald eher abbrechen, bald weiter fortführen, bald einzelne Umstände herausnehmen, und eine neue Fabel darauf bauen oder eine neue Moral in eine alte Fabel legen, werden wir an Fabelwildbret niemals Mangel haben. Jede Folge von Gedanken, jeder Kampf der Leidenschaften soll uns eine Handlung sein. Warum nicht? Wer denkt und fühlt so mechanisch, daß er sich dabei keiner Tätigkeit bewußt sei? Zu derselben brauchen wir auch die innere Absicht der aufgeführten Personen nicht, es ist genug an unserer Absicht. Nur laßt uns nicht vergessen, unserer Fabel die Wirklichkeit zu geben mit dem Es war einmal – Ich erlasse dir auch die kleinen sonderbaren Züge in den Sitten der Tiere. Du hast genug an den allgemein bekannten, und diese magst du erhöhen, so weit du willst, und sie so nahe zur menschlichen Natur bringen, als du willst. Der müßte ein Dummkopf sein, der deine Fabeln lesen wollte, um die Naturgeschichte darin zu studieren.
Gewiß, sagte ich, werden wir so Fabeln bekommen, aber es werden wohl Stoppische sein? Um Vergebung, versetzte er, nicht Stoppische, sondern Lessingische: In diesen letzten Tagen ist Lessing den Menschen geschenkt worden, Stoppens unverdaute Fabeltheorie zu verdauen, zu verbessern, und unter die szientifische Demonstration zu bringen. Wir können ihm die Verantwortung überlassen. Er kann sich mit Witz aushelfen, wenn es ihm an Natur fehlt, und er hat Unverschämtheit übrig, den Mangel an Gründlichkeit zu ersetzen.
Lasset uns, sagte ich, das Werk ohne Verzug angreifen. Hilf mir, muntrer Capriccio, zu Reimen oder Hexametern, zu Gemälden, zu Zeichnungen der Orter, der Personen, der Stellungen, zu Gedanken die hervorstechen, zu Anspielungen. Fort mit dem Plunder versetzte er, den können wir gänzlich entbehren. Wozu braucht die Fabel Anmut? Willst du das Gewürze würzen? Kurz und trucken; mehr verlangt unser Lehrer nicht; gute Prose -
Entschuldige dich dann mit deinem Unvermögen, gib deine Grillen für Orakel, du wirst weder der Erste noch der Letzte sein, der das tut – – –
Alles, was er mir sagte, dünkte mich seiner satyrischen Gestalt und seinem bocksmäßigen Namen zu entsprechen. Indessen folgte ich ihm, und verfertigte auf einem Stein folgende Fabeln.«
Wie gefällt Ihnen das? Die Schnake ist schnurrig genug; aber lassen Sie uns doch sehen, auf wie viel Wahrheit sie sich gründet. Erst eine kleine Anmerkung über den Capriccio. Der arme Capriccio! Hat der es nun auch mit den Schweizern verdorben? Noch im Jahr 1749, als sie uns die Gedichte des Pater Ceva bekannt machen wollten, stand Capriccio bei ihnen in sehr großem Ansehen. Da war er der poetische Taumel; da war er der muntere Spürhund, der in einer schallenden Jagd, die das Hüfthorn bis in die abgelegensten dunkelnsten Winkel der menschlichen Kenntnisse ertönen läßt, das seltsamste Wild aufjagt; da war er Musis gratissimus hospes; da hatte er dem Pater sein Gedicht auf den Knaben Jesus machen helfen; da hatte er auch deutschen Dichtern die trefflichsten Dienste getan; den einen hatte er in einer zärtlichen Elegie seine Liebe derjenigen erklären lassen, »die ihm das Schicksal zu lieben auferlegt und ihm ihre Gegenliebe geordnet, die er aber noch nicht kannte, noch niemals gesehen hatte; der andere war durch ihn in einer choriambischen Ode bis in die Tiefen jener Philosophie gelangt, in welchen er sich mit seinen Freunden noch als Atomos, die allererst aus der Hand der Natur kamen, erblickte, bevor sie noch geboren waren, doch sich nicht ganz unbewußt.«
Klein wie Teilchen des Lichts ungesehn schwärmeten,
– wie sie – auf einem Orangeblatt
Sich zum Scherzen versammelten,
Im wollüstigen Schoß junger Aurikelchen
Oft die zaudernde Zeit schwatzend beflügelten.
Das alles war und tat Capriccio bei den Schweizern 1749. Und was lassen sie ihm 1760 tun? Schlechte Lessingische Fabeln machen. Welche Veränderung ist mit ihm vorgegangen? Mit ihm keine, aber desto größere mit den Schweizern. Capriccio ist der Gefährte der Fröhlichkeit:
Laetitia in terras stellato ex aethere venit,
Cui comes ille ciens animos et pectora versans,
Spiritus a capreis montanis nomen adeptus;
und seit 1749 fanden die Schweizer für gut, mit der Fröhlichkeit, und zugleich mit ihrem ganzen Gefolge, zu brechen. Sie waren fromme Dichter geworden, und ihr poetisches Interesse schien ein ernstes, schwermütiges System zu fordern. Sie hatten sich andächtige Patriarchen zu ihren Helden gewählt; sie glaubten sich in den Charakter ihrer Helden setzen zu müssen; sie wollten es die Welt wenigstens gern überreden, daß sie selbst in einer patriarchalischen Unschuld lebten; sie sagten also zu der Fröhlichkeit: was machst du? und zu dem Capriccio: du bist toll! Vielleicht zwar lief auch ein kleiner Groll gegen diesen mit unter. Er war ihnen in dem »Noah« nicht munter genug gewesen: er hatte ihnen da nicht genug seltsames poetisches Wild aufgejagt. Denn wer weiß, ob nicht Capriccio einer von den Spürhunden ist, die nicht gern ins Wasser gehen; und besonders nicht gern in so gefährliches Wasser, als die Sündflut. Da dachten die Schweizer: willst du uns nicht, so wollen wir dich auch nicht; lauf! Man höret es zum Teil aus ihrem eigenen Geständnisse. Einer von ihren Poeten singt itzt den Tod Sauls und Jonathans: ist Capriccio bei ihm? Nein. Die Muse nur ist bei ihm; und Capriccio schwärmt indessen, ich weiß nicht wo herum, ob es gleich von ihm weiter heißt:
– pictoribus ille
Interdum assistens operi, nec segnius instans
Vatibus ante alios, Musis gratissimus hospes.
Ich sorge, ich sorge, die Muse folgt ihrem Capriccio nach. Noch eine Messe Geduld, und wir werden es sehen. Wenn sie sich doch ja mit ihm wieder aussöhnten! Da war es mit den Schweizern noch auszuhalten, als Capriccio ihr Freund war. Da durfte Lemene ungescheut vor ihnen singen:
Vorrei esser ne l’Inferno
Ma con Tantalo nel rio,
Ma che’l rio fosse Falerno
Ma non fuggisse mai dal labro mio.
Es war ein allerliebster Einfall! Denn der Einfall kam vom Capriccio. Seit dem kam der Einfall
Es donnert! Trink und sieh auf mich!
– – –
Zeus ist gerecht; er straft das Meer:
Sollt er in seinen Nektar schlagen?
allem Ansehen nach, zwar auch vom Capriccio: allein Capriccio steht nicht mehr bei ihnen in Gnaden, und Lessing ist ein profaner Bösewicht.
Aber zur Sache. »Laß uns, muß Capriccio sagen, im Aelian und Suidas und Antonius Liberalis jagen.« Was will Hermann Axel damit zu verstehen geben? Offenbar, daß Lessing seine Fabeln nicht erfunden, sondern aus diesen alten Schriftstellern zusammen gestoppelt habe. Es ist wahr, er führet sie in seinem Verzeichnisse an: allein wer diese Anführungen untersuchen will, wird finden, daß nichts weniger als seine Fabeln darin enthalten sind. Kaum daß sie einen kleinen Umstand enthalten, auf welchen sich dieser oder jener Zug in der Fabel beziehet, und den er dadurch nicht ohne Autorität angenommen zu haben erweisen will. Die Wahrheit zu sagen, hätte ich es selbst lieber gesehen, wenn uns Lessing diese kleine gelehrte Brocken erspart hätte. Wem ist daran gelegen, ob er es aus dem Aelian oder aus der Acerra philologica hat, daß z. E. das Pferd sich vor dem Kamele scheuet? Wir wollen nicht die Genealogie seiner Kenntnis von dergleichen bekannten Umständen, sondern seine Geschicklichkeit sie zu brauchen, sehen. Zudem sollte er gewußt haben, daß der, welcher von seinen Erfindungen, sie mögen so groß oder so klein sein als sie wollen, einige Ehre haben will, die Wege sorgfältig verbergen muß, auf welchen er dazu gelangt ist. Nicht den geringsten Anlaß wird er verraten, wenn er seinen Vorteil verstehet: denn sehr oft ist die Bereitschaft diesen Anlaß ergriffen zu haben, das ganze Verdienst des Erfinders; und es würden tausend andere, wenn sie den nämlichen Anlaß gehabt hätten, wenn sie in der nämlichen Disposition ihn zu bemerken, gewesen wären, das nämliche erfunden haben. Unterdessen kömmt es freilich noch darauf an, ob die Stellen, welche L. anführt, dergleichen Anlasse sind. Z. E. Sie erinnern sich seiner Fabel
Die Furien
Diese Fabel ist die einzige, bei welcher L. den Suidas anführet. Und was stehet im Suidas davon? Dieses: daß aeiparthenos (immerjungfer) ein Beiname der Furien gewesen sei. Weiter nichts? Und doch soll dem Suidas mehr als Lessingen diese Fabel gehören? So jagte er in dem Suidas um diese Fabel zu finden? Ich kenne den Suidas auch; aber wer im Suidas nach Einfällen jagt, der dünkt mich in England nach Wölfen zu jagen! Ohne Zweifel hatte er also einen ganz andern Anlaß diese Fabel zu machen; und sein Capriccio war nur munter genug, das aeiparthenos auszustöbern, und es in diesem gelegenen Augenblicke bei ihm vorbei zu jagen.
Die Fortsetzung folgt
XIII Den 25. Septembr.
1760
Beschluß des hundert und sieben und zwanzigsten Briefs
Ich wüßte auch kaum zwei bis drei Exempel anzuführen, wo L. seinen alten Währmännern mehr schuldig zu sein schiene, als er dem Suidas in dieser Fabel von den Furien schuldig ist Hingegen könnte ich sehr viele nennen, wo er sie ganz vor langer Weile zitiert, und man es ihm zu einem Verdienste anrechnen müßte, wenn er seine Erdichtungen wirklich aus den angeführten Stellen herausgewickelt hätte. Hermann Axel muß es nach der Hand auch wohl selbst gemerkt haben, daß es so leicht nicht ist, in den alten Classicis zu jagen, ohne ein gelehrter Wilddieb zu werden. Denn sein Capriccio verspricht es zwar zu tun; am Ende aber sieht man, daß er weder im Suidas, noch im Aelian, sondern in den Schriften des Genfer Rousseau, in Browns Estimate, in Popens Briefen gejagt hat. Nun habe ich zwar alle Hochachtung gegen diese Männer, und sie sind unstreitig größer, als jene staubigte Compilatores: allein demohngeachtet ist es weniger erlaubt sich aus solchen Männern, als aus jenen Alten zu bereichern. Denn dieses nennt das Publikum, welches sich nicht gern ein Vergnügen zweimal in Rechnung bringen läßt, verborgene Schätze graben; und jenes mit fremden Federn stolzieren.
Doch damit ich Axeln nicht verleumde: eine einzige Fabel (weil er es doch einmal Fabel nennt) finde ich, die er einem Alten zu danken hat; und zwar dem bekannten Schulbüchelchen des Plutarchs, »Wie man mit jungen Leuten die Dichter lesen soll«. Ich sage zu danken hat; denn jagen hat er sie nicht dürfen: das Tier war zahm genug, sich mit der Hand greifen zu lassen. Es heißt bei dem Plutarch: ότι μεν, ώς Φιλοξενος ό ποιητης ελεγεν, των κρεων, τα μη κρεα, ήδισα εσι, και των ιχϑυων, όι μη ιχϑυες, εκεινοις αποφαινεσϑαι παρωμεν, όις ό Κατων εφη, της καρδιας την ύπερωαν ευαισϑητοτεραν ύπαρχειν. Οτι δε των εν φιλοσοφια λεγομενων, όι σφοδρα νεοι τοις μη δοκουσι φιλοσοφως, μηδε απο σπουδης λεγεσϑαι, χαιρουσι μαλλον, και παρεχουσιν ύπηκοους έαυτους και χαιροηϑεις, δηλον εσιν ήμιν.
»Ob es wahr ist, was der Dichter Philoxen sagt, daß das angenehmste Fleisch das ist, was nicht Fleisch ist, und die angenehmsten Fische die, die nicht Fische sind: das wollen wir denen zu entscheiden überlassen, die mit dem Cato zu reden, allen ihren Verstand im Gaumen haben. Das aber ist unstreitig, daß junge Leute diejenigen philosophischen Lehren am liebsten anhören, am willigsten befolgen, die in keinem ernsthaften, philosophischen Tone vorgetragen werden.« – Nun, was meinen Sie, daß hieraus für eine Fabel geworden? Folgende:
Der Reiz der Zubereitung
»Cinna der Poet bat Cleander den leckerhaften Esser auf ein wirtschaftliches Mittagsmahl. Eine Schüssel mit Speisen ward aufgetragen, Cleander aß mit bedachtsamer Miene und sagte: das angenehmste Fleisch ist, was nicht Fleisch ist. Hernach kam eine Schüssel mit Fischen; dann sagte er: der angenehmste Fisch ist, der kein Fisch ist. Cinna gab ihm zu erkennen, daß er diese rätselhafte Sprache nicht verstünde. Cleander versetzte: Soll ein Mann, der den Geschmack nur in der Kehle hat, den hierüber belehren, der ihn in dem Verstande hat? Der Gedanke kann dir nicht fremd sein daß die Menschen diejenige philosophische Schrift am liebsten haben, und mit dem meisten Vergnügen lesen, die nicht philosophisch noch im Ernst geschrieben scheinet. Sie wollen in dem Vortrage und den Vorstellungen eine schmackhafte und niedliche Zubereitung haben. Ich dächte, daß wir dieser Betrachtung deinen Phaeton, deine Verwandlungen, und deine Katze in Elysium schuldig wären.«
Und das nennt Axel eine Lessingische Fabel? Wenn er uns doch nur eine einzige anführte, wo dieser Verfasser ein so kahler Ausschreiber ist, und eine schöne Stelle eines Alten so jämmerlich zu seinem Nutzen verarbeitet. Was hat Axel hier hinzuerfunden? Was hat er anderes, was hat er mehr hinein gelegt, als nicht schon darin liegt? Wenn er, als ein Schweizer, wenigstens nur noch einen Schritt weiter gegangen wäre, und den leckerhaften Esser zum dritten hätte sagen lassen, »der angenehmste Käse ist der, der kein Käse ist:« so wäre es doch noch etwas gewesen. Aber auch das hat er nicht getan; und er scheinet mir ganz der Poet Cinna selbst gewesen zu sein, der hier die Ehre hat, gegen den Fresser eine sehr alberne Person zu spielen.
Nicht L. sondern Axel selbst ist seit langer Zeit als ein Zusammenschreiber bekannt, der seine Belesenheit für Erfindungskraft zu verkaufen weiß. Z. E. Als ihn der Verfasser der »Neuen kritischen Briefe« sein Probestück machen ließ, und ihm verschiedene Aufgaben zu Fabeln vorlegte, befand sich auch diese darunter: »Auf einen der sich rühmte, er kenne das Gedicht, der Messias, sehr wohl, es wäre in Hexametern verfasset, und er hätte den Vers aus demselben behalten:«
Also versammelten sich die Fürsten der Hölle zu Satan. Geschwind besann sich Axel auf ein anderes Schulbüchelchen, und erzählte folgendes:
Der Palast des Prinzen Eugens
»Man redete in einer Gesellschaft von dem Palaste des Prinzen Eugens, der in dem Preußischen Überfall sollte niedergerissen werden. Man war sehr bemüht sein Ebenmaß, seine Abteilungen und ganze Form zu untersuchen. Ein Mensch, der große Reisen getan hatte, schwieg lange stille, endlich fing er an Dieser Palast ist mir so gut bekannt, als irgend jemanden. Ich war in Wien, als er gebauet ward, und ich habe das Glück ein Stückchen von dem Marmor zu besitzen, woraus er gebauet ist. Zugleich zog er das Stückchen aus der Tasche, und beteuerte, daß ers von dem Marmor herunter geschlagen hätte, von welchem der Palast erbauet worden.«
Was ist das anders, als das Märchen des Hierokles von dem Scholastiker, welcher sein Haus verkaufen wollen? Σχολασικος οικιαν πωλων, λιϑον απ’ αυτης εις δειγμα περιεφερε.
Ich habe oben die Lessingische Fabel von den Furien angeführt. Um keine andere abschreiben zu dürfen, erlauben Sie mir, Ihnen an dieser zu zeigen, wie glücklich Axel parodieret, wann er seinen Gegner von der Seite der Moral verdächtig machen will. Erst frage ich Sie: was hat L. wohl mit seinen Furien haben wollen? Was anders, als daß es eine Art von wilden Spröden gibt, die nichts weniger als liebenswürdige Muster der weiblichen Zucht genennt zu werden verdienen? So offenbar dieses ist, so wenig will es ihm doch Axel zugestehen, sondern glaubt diese Moral erst durch nachstehende Fortsetzung hinein zu legen.
Unempfindlichkeit ist nicht strenge Zucht
»Hast du die drei strengen züchtigen Mädchen noch nicht gefunden, Iris, die ich dir befahl zu suchen, damit ich der Venus Hohn sprechen könnte? Also fragte Juno die Botschafterin des Himmels. Ich fand sie, antwortete Iris, aber sie waren schon vergeben, Merkurius hatte sie zum Pluto geführt, der sie für Furien brauchen will. Für Furien, diese Tugendhaften? sprach Juno. O, versetzte Iris, vollkommen strenge; alle dreie hatten den geringsten Funken Liebe in ihrem Herzen ersticket, alle dreie haben niemals einer Mannsperson gelächelt. Die Göttin machte große Augen und versetzte: du hast mir diesmal einen schlechten Begriff von deinem Verstande gemacht, und deine Moral ist mir verdächtig, indem du Tugend, Keuschheit und Zucht mit Menschenhaß und Unempfindlichkeit vermischest. Gellert soll mir die suchen, die ich verlange.«
Der seltsame Axel! Also muß man dem Leser nichts zu denken lassen? Und das Kompliment, daß Gellert hier bekömmt! Er, den die Schweizer ehedem, wie Lessingen, mit Stoppen in eine Klasse setzten!
So sehr unterdessen Herr L. von Axeln gemißhandelt worden, so weiß ich doch nicht, ob es ihn eben sehr verdrießen darf, seine Fabeln so geflissentlich parodieret zu sehen. Er mag sich erinnern, was der Abt Sallier zu dem ersten Requisito einer Parodie macht. Le sujet qu’on entreprend de parodier, doit toûjours estre un ouvrage connu, célébre et estimé. La critique d’une piéce mediocre, ne peut jamais devenir interessante, ni picquer la curiosité. Quel besoin de prendre la peine de relever des defauts, qu’on n’apperçoit que trop sans le secours de la critique? Le jugement du public previent celui du censeur: ce seroit vouloir apprendre aux autres ce qu’ils sçavent aussi bien que nous, et tirer un ouvrage de l’obscurité ou il merite d’etre enseveli. Une pareille parodie ne sçauroit ni plaire ni instruire; et l’on ne peut parvenir à ce but, que par le choix d’un sujet qui soit en quelque façon consacré par les eloges du public. Und wenn es gar wahr wäre, was man uns mehr als einmal zu verstehen gegeben hat, daß Hermann Axel niemand anders als unser berühmter Bodmer sei: wie eitel kann er darauf sein, diesen kritischen Vejanius,
Spectatum satis et donatum jam rude,
noch eins bewogen zu haben
– antiquo se includere Iudo.
G.
Vierzehnter Teil
1762
VI. Den 13. Mai
1762
Zweihundert und drei und dreißigster Brief
Wie kömmt es, fragen Sie in einem Ihrer Briefe, daß man mir nichts von der merkwürdigen Ausgabe der Lichtwerschen Fabeln sagt, die ein Ungenannter, ohne Vorwissen des Verf.(144) herausgegeben, und davon in öffentlichen Blättern so verschiedentlich geurteilt wird? – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – In der Tat eine seltene Begebenheit! Von Seiten des ungenannten Herausgebers war der Schritt, meines Erachtens, eben so unbillig, als unerhöret. Er war unbillig, denn Hr. L. kann allezeit die Erfindungen seines Geistes als sein wahres Eigentum betrachten, in welchem sich niemand, ohne des Eigentumsherrn Vorwissen, unterstehen darf, Veränderungen vorzunehmen, und sollten es auch die allerglücklichsten Verbesserungen sein. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Wollte der Ungenannte seine Kritik üben, oder der Welt seinen feinen Geschmack zeigen; so war ein andrer weit billigerer Weg für ihn übrig. – – – – – – – Aber so wie er es anfing, mußte sich Herr L. notwendig beleidiget finden, denn alle Schmeicheleien, die er ihm in dem Vorbericht vorsagt, konnten die gekränkte Vaterliebe eines Autors unmöglich besänftigen, der das Unglück hat, die Geburten seines Geistes, wie von einer Fee unter der Hand in ganz andere Gestalten verwandelt zu sehen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Man kann also, wie mich deucht, nicht in Abrede sein, daß das Verfahren des ungenannten Verbesserers unbillig sei, und daß Hr. L. sich mit Recht über ihn beschwere.
»Nein! sagt unser Freund Hr. G. Man kann die Sache zur Entschuldigung des Ungenannten aus einem ganz andern Augenpunkte betrachten. Es ist noch nicht ausgemacht, daß sich das Eigentumsrecht über die Werke des Geistes so weit erstrecket. Wer seine Schriften öffentlich herausgibt, macht sie durch diese Handlung publici juris, und so denn stehet es einem jeden frei, dieselbe nach seiner Einsicht zum Gebrauch des Publikums bequemer einzurichten. Zumal da dem Autor durch diese Handlung nichts von seinem Rechte benommen wird, indem das erste Geschenk, das er dem Publico gemacht hat, deswegen nicht vernichtet wird, und er selbst noch immer die Freiheit hat, die ihm angebotene Veränderungen nach Belieben anzunehmen, oder zu verwerfen. Mit dem Eigentum der Güter dieser Welt hat es eine ganz andere Beschaffenheit. Diese nehmen nicht mehr als eine einzige Form an, und niemand als der Besitzer hat das Recht diejenige Form zu wählen, die er für die bequemste hält. Hingegen bleibet die erste Ausgabe einer Schrift unverändert, und eine von einem andern veranstaltete verbesserte Auflage, ist bloß als ein Vorschlag anzusehen, wie nach der Einsicht dieses Herausgebers das Werk vollkommener gemacht werden könnte. Gesetzt der Vorschlag werde angenommen; so kömmt, wie der Herausgeber in dem Vorberichte bemerkt, dennoch die größte Ehre dem ersten Verfasser zu, der seine meisten Gemälde so weit gebracht hat, daß nur wenige Pinselzüge für eine fremde Hand übrig gelassen waren. Wird der Vorschlag gemißbilliget, so kann ihn der noch lebende Verfasser öffentlich verwerfen, und das Publikum hat das Vergnügen, den Ausspruch zu tun. Wenn ja in dergleichen Verfahren eine Ungerechtigkeit Statt findet; so müßte es vielmehr gegen einen tuten Verfasser sein, der nicht mehr vermögend ist, sich über die vorgeschlagenen Verbesserungen zu erklären. Hat man es aber einem Rammler und einem Lessing nicht übel genommen, vielmehr Dank gewußt, daß sie einen Logau nach ihrer Weise verbessert heraus gegeben; warum will man es denn dem Ungenannten zu einem solchen Verbrechen anrechnen, daß er einem lebenden Verfasser seine Verbesserungen zur Beurteilung vorlegt, und sich gefallen läßt, ob er dieselben annehmen, oder ausschlagen will.« –
So weit Herr G.!
Drei und zwanzigster Teil
1765
V. Den 27. Junii
1765
Drei hundert und zwei und dreißigster Brief
Der Verfasser der »Versuche über den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter(145)«, ist ein Mann, der eine wahre Hochachtung für sich erwecket. So ein Werk hat uns gefehlt, und es mit so vielem Geschmacke ausgeführet zu sehen, konnten wir wünschen, aber kaum hoffen. Er ist der erste Übersetzer, wenn man den, der eine so genaue Bekanntschaft mit allen den besten Genies einer ganzen Nation zeiget, der ein so feines Gefühl mit einem so richtigen Ur teile verbindet, unter dessen Bearbeitung so verschiedne Schönheiten in einer Sprache, für die sie gar nicht bestimmt zu sein schienen, einen Glanz, ein Leben erhalten, das mit der Blüte, in welcher sie auf ihren natürlichen Boden prangen, wetteifert: wenn man, sage ich, so einen Schriftsteller anders einen Übersetzer nennen darf; wenn er nicht vielmehr selbst ein Original ist, dem auch die Erfindsamkeit nicht mangeln würde, hätte es sich ihrer, uns zum besten, nicht itzt entäußern wollen.
Man kann mit Wahrheit sagen, daß die italienische Literatur noch nie recht unter uns bekannt geworden. Zwar war einmal die Zeit, da unsere Dichter sich fast nichts als welsche Muster wählten. Aber was für welche? Den Marino mit seiner Schule. Der Adonis war unsern Posteln und Feinden das Gedicht aller Gedichte. Und als uns die Kritik über das Verdienst dieser Muster und dieser Nachahmer die Augen öffnete, so erwogen wir nicht, daß unser falscher Geschmack gerade auf das schlechteste gefallen war, sondern Dante und Petrarca mußte die Verführung ihrer schwülstigen und spitzfindigen Nachkommen entgelten. Concetti ward die Ehrenbenennung aller italienischen Gedichte, und wenn der einzige Tasso sich noch einigermaßen in Ansehen erhielt, so hatte man es fast einzig und allein den Sprachmeistern zu verdanken.
Der Inhalt dieser Versuche wird daher für die meisten Leser auch das Verdienst der Neuheit haben, und unsere guten Köpfe werden ganz unbekannte Gegenden und Küsten darin entdecken, wohin sie ihr poetisches Commercium mit vielem Vorteile erweitern können. Den Vorzug, der die italienische Dichtkunst insbesondere unterscheidet, setzet der Verfasser in die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft und den Reichtum an Bildern, die mit der Stärke und mit der Wahrheit ausgemalet sind, daß sie sich in die Gegenstände selbst zu verwandeln scheinen. Und dieses ist gleich die Seite, von welcher unsere Dichtkunst nur sehr zweideutig schimmert. Ich sage zweideutig; denn auch wir haben malerische Dichter die Menge; aber ich besorge sehr, daß sie sich zu den malerischen Dichtern der Italiener nicht viel anders verhalten, als die Niederländische Schule zu der Römischen. Wir haben uns zu sehr in die Gemälde der leblosen Natur verliebt; uns gelingen Szenen von Schäfern und Hirten; unsere komische Epopeen haben manche gute Bambocciade; aber wo sind unsere poetische Raphaels, unsere Maler der Seele?
Das Vortreffliche der italienischen Dichter hat indes unsern Verfasser nicht geblendet; er siehet ihre Schwäche und Fehler, wie ihre Schönheiten. Man muß bekennen, sagt er, daß sie bei weiten mit der Stärke nicht denken, mit der sie imaginieren. Daher kömmt die Unregelmäßigkeit des Plans, nach dem die meisten ihrer Gedichte angelegt sind; daher die häufigen Ungleichheiten, und der Mangel an starken und neuen Gedanken, die einen denkenden Geist so angenehm in den Schriften der Engländer beschäftigen; dieses ist endlich die Ursache, die zu weilen auch einige ihrer besten Dichter zu den leeren Spitzfindigkeiten verleitet hat, die den italienischen Geschmack in so übeln Ruf gebracht haben.
Die poetische Landkarte, die er bei dieser Gelegenheit entwirft, scheinet dem ersten Ansehen nach ein Spiel des Witzes zu sein, und ist im Grunde mit aller Genauigkeit einer gesunden Kritik aufgenommen. »Man kann bemerken, sagt er, daß jemehr sich die Völker dem Süden nähern, mit desto leichterer Nahrung sich ihre Seelen so wohl als ihre Körper befriedigen. Der Engländer braucht ohne Zweifel die schwereste und die solideste. Seinem Geschmack ist vielleicht der unsrige am ähnlichsten. Dem Franzosen ist diese Nahrung zu stark, er muß sie mit Esprit verdünnen, oder er ist im Notfall auch mit Esprit allein zufrieden. Die Italiener entsagen gern beiden, wenn man nur ihre Einbildungskraft durch Gemälde beschäftiget, und ihr Gehör durch einen musikalischen Klang vergnügt. Die Spanier sind endlich so mäßig, daß sie sich mit einem bloßen prächtigen und harmonischen Schalle, mit einer Reihe tönender Worte begnügen können. Man hat in der Tat Poesien von ihren berühmtesten Dichtern, die niemals ein Mensch, auch ihre Verfasser selbst nicht verstanden haben, die aber sehr gut klingen und voll von prächtigen Metaphern sind. So verschieden ist der Geschmack der Völker, so verschieden ihre Vorzüge.«
Der Verfasser bedienet sich bei den Werken, die er uns bekannt macht, der Ordnung der Zeit, und diese Ordnung hat den Vorteil einer Geschichte, die den Ursprung und das Wachstum der italienischen Dichtkunst zeiget, und uns die verschiedenen Veränderungen in dem Geschmacke der Nation vor Augen stellet. Den ersten Band nehmen also Dante und Petrarca ein, und wir lernen diese Väter der welschen Poesie in ihrer wahren Gestalt kennen. Der zweite Band enthält die Dichter des funfzehnten Jahrhunderts, und aus dem sechzehnten die vornehmsten Nachahmer des Petrarca? nebst demjenigen Dichter, den man eigentlich den Dichter der Nation nennen muß, dem Ariost.
Der Beschluß folgt künftig
Vl. Den 4. Julii
1765
Beschluß des dreihundert und zwei und dreißigsten Briefes
Die geringe Anzahl der guten Dichter des funfzehnten Jahrhunderts, des Zeitalters der Medices, dieser großmütigen Beschützer und Aufmunterer aller Künste und Wissenschaften, veranlaßt den Verfasser zu einer Anmerkung, die eben so scharfsinnig als wahr ist. Da sie auf den äußerlichen Zustand der deutschen Literatur gewissermaßen angewendet werden kann, so wünschte ich sehr, daß sie diejenigen endlich ein mal zum Stillschweigen bringen möchte, die über den Mangel an Unterstützung so häufige und bittere Klagen führen, und in dem Tone wahrer Schmeichler den Einfluß der Großen auf die Künste so übertreiben, daß man ihre eigennützige Absichten nur allzudeutlich merkt. »Man irret sehr, sagt er, wenn man den Mangel großer Genies zu gewissen Zeiten dem Mangel der Belohnungen und Aufmunterungen zu schreibt. Das wahre Genie arbeitet, gleich einem reißenden Strome, sich selbst seinen Weg durch die größte Hindernisse. Shakespeare, der zu einem Handwerke erzogen worden, ward ein großer Poet, ohne irgend eine Aufmunterung zu haben, ja so gar, ohne selbst es zu wissen. Einer der größten heutigen italienischen Dichter macht, als ein armer Bäcker junge, Verse, die einen großen Kunstrichter in Erstaunen setzen, und ihn bewegen, sich seiner anzunehmen. Überhaupt können Aufmunterungen niemals Genies erzeugen; und sie schaden gewiß allemal denen, die es schon sind, wenn der Gönner nicht selbst den wahren, den großen Geschmack der Künste besitzet. Einen Beweis davon findet man vielleicht selbst in den so gerühmten Freigebigkeiten Ludwigs des vierzehnten, die ihm so viel Ehre gemacht haben. Alle die großen Genies, die seiner Regierung den größten Glanz gaben, waren ohne seine Aufmunterung entstanden, und Racine, der so sehr den Geschmack der Natur hatte, dessen Genie mit dem Geiste der Alten genährt war, hätte vermutlich seine Tragödien nicht durch so viel Galanterie entnervet, wir würden mehr Athalien von ihm haben, wenn ihn nicht diese Aufmunterungen genötiget hätten, dem Geschmacke eines weibischen Hofes zu schmeicheln. Der wichtigste Nachteil aber, welchen der große Schutz vielleicht nach sich ziehet, den die schönen Wissenschaften bei Regenten finden, ist dieser, daß dadurch die Begierde zu schreiben, zu sehr ausgebreitet wird, daß so viele, bloß witzige Köpfe sich an Arbeiten wagen, die nur dem Genie zukommen. Diese, welche die großen Züge der Natur nicht erreichen können, (denn die trifft allein das Genie) suchen sich durch neue Manieren, durch Affektationen zu unterscheiden, oder führen das Publikum von der Natur zum Gekünstelten. Dieses ist vermutlich die Ursache, daß allemal auf die Zeiten der großen Beschützer der Künste, Zeiten des übeln Geschmacks und des falschen Witzes gefolgt sind.«
Eine andere kleine Ausschweifung unsers Verfassers wird Ihnen zeigen, daß er nicht allein Dichter zu schätzen fähig ist. Sie betrifft den Machiavell. »Machiavell,« sagt er, ein sehr großer Kopf, den wir aus seinem Fürsten zu wenig kennen, und zu unrichtig beurteilen, brachte nach der »Calandra« des Kardinals Bibiena, ein paar Komödien auf den Schauplatz, in denen das Salz des Moliere, mit dem Humor und der komischen Stärke der Engländer vereiniget ist. Dieser Machiavell ist es außerdem, der die Prose der Italiener zu ihrer wahren Vollkommenheit gebracht hat. Er vermied die aufgedrungenen, weitschweifigen Perioden des Boccaz. Sein Stil ist rein, kurz gedrängt, und voll Sachen, und beständig klar. Seine Geschichte von Florenz ist die erste unter den wenigen neuern Geschichten, die man den schönen historischen Werken der Alten an die Seite setzen kann. Sie vereiniget die Klarheit und Reinigkeit des Nepos in der Erzählung mit dem Tiefsinn und der Stärke des Tacitus in den Betrachtungen. Aber keines von seinen Werken macht ihm so viel Ehre, als die »Diskurse über den Livius«, ein ganz originales Werk, das voll von Entdeckungen in der Staatskunst ist, deren verschiedene man in den Werken des Präsidenten Montesquieu, als die seinigen, bewundert, weil man den Italiener nicht genug kennt, den Montesquieu sehr studieret hatte.
Mit eigentlichen Proben aus den gewählten Stücken will ich Ihnen nicht langweilig werden. Sie haben das meiste längst im Originale gelesen, und wenn ich Ihnen nochmals wiederhole, daß sich in der Übersetzung eine Meisterhand zeiget, welche die Schönheiten der Versifikation, die notwendig verloren gehen müssen, nicht bloß mit der reinsten, geschmeidigsten, wohlklingendsten Prose, sondern auch mit unzählig kleinen Verbesserungen und Berichtigungen desjenigen, was in der Urschrift oft ein wenig schielend, ein wenig affektiert ist, kompensieret hat: so werden Sie ohne Zweifel die Vergleichung selbst anstellen wollen.
Herr Meinhardt, so heißt unser Verfasser, hat sich selbst eine Zeitlang in Italien aufgehalten; ein Umstand, welcher allein ein gutes Vorurteil für ihn erwecken kann. Vor kurzen, wie ich höre, hat er eine zweite Reise dahin unternommen; es wäre sehr zu beklagen, wenn die Fortsetzung seines Werks darunter leiden sollte. Meinen Sie aber, daß dieser würdige Mann vielleicht eine Prädilektion für die Italiener habe? Sie irren sich; er muß mit der englischen Literatur eben so bekannt sein, als mit der welschen. Denn ihm haben wir auch die Übersetzung von Heinrich Homes »Grundsätzen der Kritik«(146) zu danken. Hier mußte sich der schöne Geist mit dem Philosophen in dem Übersetzer vereinigen. Es war ein Rätsel für mich, in welchem von unsern Übersetzern ich diese Vereinigung suchen sollte. Ein ganz unbekannter Name mußte dieses Rätsel lösen. Sie freuen sich; aber Sie wundern sich zugleich. Erinnern Sie sich, was Seneca sagt: Einige sind berühmt; andere sollten es sein.
N. S. Ich weiß nicht, ob gewisse Gedichte, die vor einiger Zeit unter dem Namen »Petrarchischer Gedichte«(147) ans Licht getreten, bereits eine Frucht der nähern Bekanntschaft sein sollen, in die Hr. Meinhardt unsere Dichter mit dem Petrarca gebracht hat. Das weiß ich aber, daß diesen Gedichten, welche für sich betrachtet, sehr artig sind, das Beiwort Petrarchischer ganz und gar nicht zukömmt. Ist es doch auch ein bloßer Zusatz des Herausgebers, der selbst zweifelt, ob der Verfasser damit zufrieden sein werde. Er kann unmöglich; denn sein Ton ist mehr der spielende Ton des Anakreons, als der feierlich seufzende des Petrarca. Der platonische Italiener guckt nicht so lüstern nach des Busens Lilgen, und wenn er Tod und Ewigkeit mit den Ausdrücken seiner Zärtlichkeit verwebt, so verwebt er sie damit; an statt daß in den deutschen Gedichten das Verliebte und das Fromme, das Weltliche und das Geistliche, wie in dem ruhigen Elementglase, in ihrer ganzen klaren abstechenden Verschiedenheit neben einander stehn, ohne durch ihre innere Vermischung jene wollüstige Melancholie hervorzubringen, welche den eigentlichen Charakter des Petrarca ausmacht.
G.