Zweiter Band
Drei und funfzigstes Stück
Den 3ten November, 1767
Den ein und vierzigsten Abend (Freitags, den 10ten Julius,) wurden Cenie und der Mann nach der Uhr, wiederholt.(52)
»Cenie, sagt Chevrier gerade heraus,(53) führet den Namen der Frau von Graffigni, ist aber ein Werk des Abts von Voisenon. Es war Anfangs in Versen; weil aber die Frau von Graffigni, der es erst in ihrem vier und funfzigsten Jahre einfiel, die Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so ward Cenie in Prosa gebracht. Mais l’Auteur, fügt er hinzu, y a laissé 81 vers qui y existent dans leur entier.« Das ist, ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim verloren, aber die Sylbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hatte, daß das Stück in Versen gewesen: so ist es sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die französischen Verse kommen überhaupt der Prosa so nahe, daß es Mühe kosten soll, nur in einem etwas gesuchteren Stile zu schreiben, ohne daß sich nicht von selbst ganze Verse zusammen finden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade denjenigen, die gar keine Verse machen, können dergleichen Verse am ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr für das Metrum haben, und es also eben so wenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen.
Was hat Cenie sonst für Merkmale, daß sie nicht aus der Feder eines Frauenzimmers könne geflossen sein? »Das Frauenzimmer überhaupt, sagt Rousseau,(54) liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf eine einzige, und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken glücklich sein, die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack, nichts als Anmut, höchstens Gründlichkeit und Philosophie verlangen. Es kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich durch Mühe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer, welches die Seele erhitzet und entflammet, jenes um sich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwünge, die ihr Entzückendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen.«
Also fehlen sie wohl auch der Cenie? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen, so muß Cenie notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst würde so nicht schließen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt absprechen zu müssen glaube, wolle er darum keiner Frau insbesondere streitig machen. (Ce n’est pas à une femme, mais aux femmes que je refuse les talens des hommes(55).) Und dieses sagt er eben auf Veranlassung der Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die Verfasserin derselben anführt. Dabei merke man wohl, daß Graffigni seine Freundin nicht war, daß sie übels von ihm gesprochen hatte, daß er sich an eben der Stelle über sie beklagt. Dem ohngeachtet erklärt er sie lieber für eine Ausnahme seines Satzes, als daß er im geringsten auf das Vorgeben des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel, Freimütigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegenteile überzeugt gewesen wäre.
Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser Abt, wie Chevrier wissen will, hat für die Favart gearbeitet. Er hat die komische Oper, Annette und Lubin, gemacht; und nicht sie, die Aktrice, von der er sagt, daß sie kaum lesen könne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer, der in Paris darüber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, daß die Gassenhauer in der französischen Geschichte überhaupt unter die glaubwürdigsten Dokumente gehören.
Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen in die Welt schicke, ließe sich endlich noch begreifen. Aber warum er sich zu einer Cenie nicht bekennen wolle, der ich nicht viele Predigten vorziehen möchte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr als ein Stück aufführen und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als den Verfasser kennet, und die der Cenie bei weiten nicht gleich kommen. Wenn er einer Frau von vier und funfzig Jahren eine Galanterie machen wollte, ist es wahrscheinlich, daß er es gerade mit seinem besten Werke würde getan haben? –
Den zwei und vierzigsten Abend (Montags, den 13ten Julius,) ward die Frauenschule von Moliere aufgeführt.
Moliere hatte bereits seine Männerschule gemacht, als er im Jahre 1662 diese Frauenschule darauf folgen ließ. Wer beide Stücke nicht kennet, würde sich sehr irren, wenn er glaubte, daß hier den Frauen, wie dort den Männern, ihre Schuldigkeit geprediget würde Es sind beides witzige Possenspiele, in welchen ein Paar junge Mädchen, wovon das eine in aller Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und die beide die Männerschule heißen müßten, wenn Moliere weiter nichts darin hätte lehren wollen, als daß das dümmste Mädchen noch immer Verstand genug habe zu betrügen, und daß Zwang und Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit. Wirklich ist für das weibliche Geschlecht in der Frauenschule nicht viel zu lernen; es wäre denn, daß Moliere mit diesem Titel auf die Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen hätte, mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher lächerlich gemacht werden.
»Die zwei glücklichsten Stoffe zur Tragödie und Komödie, sagt Trublet,(56) sind der Cid und die Frauenschule. Aber beide sind vom Corneille und Moliere bearbeitet worden, als diese Dichter ihre völlige Stärke noch nicht hätten. Diese Anmerkung, fügt er hinzu, habe ich von dem Hrn. von Fontenelle.«
Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt hätte, wie er dieses meine. Oder Falls es ihm so schon verständlich genug war, wenn er es doch auch seinen Lesern mit ein Paar Worten hätte verständlich machen wollen. Ich wenigstens bekenne, daß ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit diesem Rätsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder Trublet hat sich verhört.
Wenn indes, nach der Meinung dieser Männer, der Stoff der Frauenschule so besonders glücklich ist, und Moliere in der Ausführung desselben nur zu kurz gefallen: so hätte sich dieser auf das ganze Stück eben nicht viel einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern Teils aus einer Spanischen Erzählung, die man bei dem Scarron, unter dem Titel, die vergebliche Vorsicht, findet, Teils aus den spaßhaften Nächten des Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, daß dieser Freund sein Nebenbuhler ist.
»Die Frauenschule, sagt der Herr von Voltaire, war ein Stück von einer ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzählung, aber doch so künstliche Erzählung ist, daß alles Handlung zu sein scheinet.«
Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, daß man die neue Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger künstlich, Erzählung bleibt immer Erzählung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen. – Aber ist es denn auch wahr, daß alles darin erzählt wird? daß alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire hätte diesen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigstens die Antwort beifügen sollen, die Moliere selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzählungen nämlich sind in diesem Stücke, vermöge der innern Verfassung desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung erforderlich ist; und es ist bloße Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier streitig zu machen.(57) Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzählt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfälle auf den betrognen Alten machen, wenn er sie erfährt. Das Lächerliche dieses Alten wollte Moliere vornehmlich schildern; ihn müssen wir also vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebärdet; und dieses hätten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er erzählen läßt, vor unsern Augen hätte vorgehen lassen, und das, was er vorgehen läßt, dafür hätte erzählen lassen. Der Verdruß, den Arnolph empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruß zu verbergen; der höhnische Ton, den er annimmt, wenn er den weitern Progressen des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der wir ihn sehen, wenn er vernimmt, daß Horaz dem ohngeachtet sein Ziel glücklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen, als alles, was außer der Szene vorgeht. Selbst in der Erzählung der Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr Handlung, als wir finden würden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der Bühne wirklich machen sähen.
Also, anstatt von der Frauenschule zu sagen, daß alles darin Handlung scheine, obgleich alles nur Erzählung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte sagen zu können, daß alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzählung zu sein scheine.
Vier und funfzigstes Stück
Den 6ten November, 1767
Den drei und vierzigsten Abend (Dienstags, den 14ten Julius,) ward die Mütterschule des La Chaussee, und den vier und vierzigsten Abend (als den 15ten,) der Graf von Essex wiederholt.(58)
Da die Engländer von je her so gern domestica facta auf ihre Bühne gebracht haben, so kann man leicht vermuten, daß es ihnen auch an Trauerspielen über diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das älteste ist das von Joh. Banks, unter dem Titel, der unglückliche Liebling, oder Graf von Essex. Es kam 1682 aufs Theater, und erhielt allgemeinen Beifall. Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calpronede von 1638; des Beyer von 1678, und des jüngern Corneille, von eben diesem Jahre. Wollten indes die Engländer, daß ihnen die Franzosen auch hierin nicht möchten zuvorgekommen sein, so würden sie sich vielleicht auf Daniels Philotas beziehen können; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden glaubte.(59)
Banks scheinet keinen von seinen französischen Vorgängern gekannt zu haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel, Geheime Geschichte der Königin Elisabeth und des Grafen von Essex, führet,(60) wo er den ganzen Stoff sich so in die Hände gearbeitet fand, daß er ihn bloß zu dialogieren, ihm bloß die äußere dramatische Form zu erteilen brauchte. Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angeführten Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, daß es meinen Lesern nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stück des Corneille halten zu können.
»Um unser Mitleid gegen den unglücklichen Grafen desto lebhafter zu machen, und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Königin für ihn äußert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter nichts, als daß er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt hat. Burleigh, der erste Minister der Königin, der auf ihre Ehre sehr eifersüchtig ist, und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit welchen sie ihn überhäuft, bemüht sich unablässig, ihn verdächtig zu machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Gräfin von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte, nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten können, was sie nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestüme Gemütsart des Grafen macht ihnen nur allzugutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf folgende Weise.
Die Königin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen gefährlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden Scharmützeln sahe sich der Graf genötiget, mit dem Feinde in Unterhandlung zu treten, weil seine Truppen durch Strabazen und Krankheiten sehr abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anführern mündlich betrieben ward, und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Königin als ihrer Ehre höchst nachteilig, und als ein gar nicht zweideutiger Beweis vorgestellet, daß Essex mit den Rebellen in einem heimlichen Verständnisse stehen müsse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats anklagen zu dürfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist, daß sie sich vielmehr über ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation erwiesen, und erklärt, daß sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid seiner Ankläger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er erhebt die Gerechtigkeit der Königin, einen solchen Mann nicht unterdrücken zu lassen; und seine Feinde müssen vor diesesmal schweigen. (Erster Akt.)
Indes ist die Königin mit der Aufführung des Grafen nichts weniger, als zufrieden, sondern läßt ihm befehlen, seine Fehler wieder gut zu machen, und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen völlig zu Paaren getrieben, und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde bei ihr anzuschwärzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu rechtfertigen, und kömmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der Waffen vermocht, des ausdrücklichen Verbots der Königin ungeachtet, nach England über. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden eben so viel Vergnügen, als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die Gräfin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den Folgen. Am meisten aber betrübt sich die Königin, da sie sieht, daß ihr durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten, wenn sie nicht eine Zärtlichkeit verraten will, die sie gern vor der ganzen Welt verbergen möchte. Die Erwägung ihrer Würde, zu welcher ihr natürlicher Stolz kömmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm trägt, erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken, oder den geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschließt sie sich zu dem letztern, doch nicht ohne alle Einschränkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn auf eine Art empfangen, daß er die Hoffnung wohl verlieren soll, für seine Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham sind bei dieser Zusammenkunft gegenwärtig. Die Königin ist auf die letztere gelehnet, und scheinet tief im Gespräche zu sein, ohne den Grafen nur ein einzigesmal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen, verläßt sie auf einmal das Zimmer, und gebietet allen, die es redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen, und den Verräter allein zu lassen. Niemand darf es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab, kömmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Königin den Burleigh und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich aber, ihn in andere, als in der Königin eigene Hände, zurück zu liefern, und beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr verächtlich begegnet. (Zweiter Akt.)
Die Königin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist äußerst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkühnt, noch die Lobsprüche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der Fülle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider als jene, weil sie daraus entdeckt, daß die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt sie, dem ohngeachtet, daß er vor sie gebracht werden soll. Er kömmt, und versucht es, seine Aufführung zu verteidigen. Doch die Gründe, die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als daß sie ihren Verstand von seiner Unschuld überzeugen sollten. Sie verzeihet ihm, um der geheimen Neigung, die sie für ihn hegt, eine Genüge zu tun; aber zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung dessen, was sie sich selbst, als Königin, schuldig zu sein glaubt. Und nun ist der Graf nicht länger vermögend, sich zu mäßigen; seine Ungestümheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Füßen, und bedient sich verschiedner Ausdrücke, die zu sehr wie Vorwürfe klingen, als daß sie den Zorn der Königin nicht aufs höchste treiben sollten. Auch antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natürlich ist; ohne sich um Anstand und Würde, ohne sich um die Folgen zu bekümmern: nämlich, anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke, daß es seine Königin, daß es nicht sein König ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, daß es eine Frau ist, von der er die Ohrfeige hat, hält ihn zurück, sich tätlich an ihr zu vergehen. Southampton beschwört ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals, und wirft dem Burleigh und Raleigh ihren niederträchtigen Neid, so wie der Königin ihre Ungerechtigkeit vor. Sie verläßt ihn in der äußersten Wut; und niemand als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.)
Der Graf gerät über sein Unglück in Verzweiflung; er läuft wie unsinnig in der Stadt herum, schreiet über das ihm angetane Unrecht, und schmähet auf die Regierung. Alles das wird der Königin, mit vielen Übertreibungen, wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern. Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangen genommen, und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis daß ihnen der Prozeß kann gemacht werden. Doch indes hat sich der Zorn der Königin gelegt, und günstigern Gedanken für den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn also, ehe er zum Verhöre geht, allem, was man ihr darwider sagt, ungeachtet, nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen möchten zu strafbar befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen würde, zu gewähren. Fast aber bereuet sie es wieder, daß sie so gütig gegen ihn gewesen, als sie gleich darauf erfährt, daß er mit der Rutland vermählt ist; und es von der Rutland selbst erfährt, die für ihn um Gnade zu bitten kömmt. (Vierter Akt.)
Fünf und funfzigstes Stück
Den 10ten November, 1767
Was die Königin gefürchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund Southampton desgleichen. Nun weiß zwar Elisabeth, daß sie, als Königin, den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, daß eine solche freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwäche verraten würde, die keiner Königin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den Ring senden, und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes, daß es je eher je lieber geschehen möge, schickt sie die Nottingham zu ihm, und läßt ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt sich, das zärtlichste Mitleid für ihn zu fühlen; und er vertrauet ihr das kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demütigsten Bitte an die Königin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wünschet; nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu rächen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet sie ihn auf das boshafteste, und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Äußerste ankommen zu lassen, daß die Königin dem Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen, nicht weil ihr das Unglück desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie sich einbildet, daß Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so vielmehr empfinden werde, wenn er sieht, daß die Gnade, die man ihm verweigert, seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht rät sie der Königin auch, seiner Gemahlin, der Gräfin von Rutland, zu erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Königin williget in beides, aber zum Unglücke für die grausame Ratgeberin; denn der Graf gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Königin, die sich eben in dem Tower befindet, und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgeführet, erhält. Aus diesem Briefe ersieht sie, daß der Graf der Nottingham den Ring gegeben, und sie durch diese Verräterin um sein Leben bitten lassen. Sogleich schickt sie, und läßt die Vollstreckung des Urteils untersagen; doch Burleigh und Raleigh, dem sie aufgetragen war, hatten so sehr damit geeilet, daß die Botschaft zu spät kömmt. Der Graf ist bereits tot. Die Königin gerät vor Schmerz außer sich, verbannt die abscheuliche Nottingham auf ewig aus ihren Augen, und gibt allen, die sich als Feinde des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen.«
Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, daß der Essex des Banks ein Stück von weit mehr Natur, Wahrheit und Übereinstimmung ist, als sich in dem Essex des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die Geschichte gehalten, nur daß er verschiedne Begebenheiten näher zusammen gerückt, und ihnen einen unmittelbarern Einfluß auf das endliche Schicksal seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist eben so wenig erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon angemerkt, in der Histoire, nur jener weit früher und bei einer ganz andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist begreiflicher, daß die Königin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben, da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als daß sie ihm dieses Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer eben am meisten verlustig gemacht hatte, und der Fall, sich dessen zu gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er unglücklicher Weise in ihren Augen etwa könnte verloren haben. Aber was braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen? Glaubt sie ihrer günstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht mächtig zu sein, daß sie sich mit Fleiß auf eine solche Art fesseln will? Wenn sie ihm in Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den mündlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloß um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten, er mag wieder in ihre Hände kommen, oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache seiner tödlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen?
So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung. Mich dünkt, er würde eine weit bessere tun, wenn ihn die Königin ganz vergessen hätte, und er ihr plötzlich, aber auch zu spät, eingehändiget würde, indem sie eben von der Unschuld, oder wenigstens geringern Schuld des Grafen, noch aus andern Gründen überzeugt würde. Die Schenkung des Ringes hätte vor der Handlung des Stücks lange müssen vorhergegangen sein, und bloß der Graf hätte darauf rechnen müssen, aber aus Edelmut nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, daß man auf seine Rechtfertigung nicht achte, daß die Königin zu sehr wider ihn eingenommen sei, als daß er sie zu überzeugen hoffen könne, daß er sie also zu bewegen suchen müsse. Und indem sie so bewegt würde, müßte die Überzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, für unschuldig gelten zu lassen, müßten sie auf einmal überraschen, aber nicht eher überraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermögen stehet, gerecht und erkenntlich zu sein.
Viel glücklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stück eingeflochten. – Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanständig! – Ehe meine feinern Leser zu sehr darüber spotten, bitte ich sie, sich der Ohrfeige im Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darüber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwürdig. »Heut zu Tage, sagt er, dürfte man es nicht wagen, einem Helden eine Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gäben. Nicht einmal in der Komödie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das einzige Exempel, welches man auf der tragischen Bühne davon hat. Es ist glaublich, daß man unter andern mit deswegen den Cid eine Tragikomödie betitelte; und damals waren fast alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert Tragikomödien. Man war in Frankreich lange der Meinung gewesen, daß sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit gemeinen Zügen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomödie selbst, ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen Amphitruo damit zu bezeichnen, weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in allem Ernste betrübt ist.« – Was der Herr von Voltaire nicht alles schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie sehr er meistenteils damit verunglückt!
Es ist nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid die einzige auf der tragischen Bühne ist. Voltaire hat den Essex des Banks entweder nicht gekannt, oder vorausgesetzt, daß die tragische Bühne seiner Nation allein diesen Namen verdiene. Unwissenheit verrät beides; und nur das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der Tragikomödie hinzufügt, ist eben so unrichtig. Tragikomödie hieß die Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen vergnügten Ausgang hat; das ist der Cid, und die Ohrfeige kam dabei gar nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille hernach sein Stück eine Tragödie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte, daß eine Tragödie notwendig eine unglückliche Katastrophe haben müsse. Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloß im Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch angeborgt, bis es in dem sechzehnten Jahrhunderte den Spanischen und Italienischen Dichtern einfiel, gewisse von ihren dramatischen Mißgeburten so zu nennen.(61) Wenn aber auch Plautus seinen Amphitruo im Ernste so genannt hätte, so wäre es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum hätte Plautus sein Stück lieber eine Tragikomödie nennen wollen. Denn sein Stück ist ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo eben so sehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische Handlung größtenteils unter höhern Personen vorgehet, als man in der Komödie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklärt sich darüber deutlich genug:
Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia:
Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia
Reges quo veniant et di, non par arbitror.
Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet,
Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam.
Sechs und funfzigstes Stück
Den 13ten November, 1767
Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen. – Einmal ist es doch nun so, daß eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seines Gleichen oder von einem Höhern bekömmt, für eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, daß alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafür verschaffen können, vergebens ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem Beleidigten selbst gerächet, und auf eine eben so eigenmächtige Art gerächet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt, es ist nun einmal so.
Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange sind: warum nicht auch hier?
»Die Schauspieler, sagt der Herr von Voltaire, wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen.« Sie wüßten es wohl; aber man will eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt sie in Feuer; die Person erhält ihn, aber sie fühlen ihn; das Gefühl hebt die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung äußert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen, und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen.
Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der Masken betauern möchte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske mehr Contenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch weniger gewahr.
Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie er will: der dramatische Dichter arbeitet zwar für den Schauspieler, aber er muß sich darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist. Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen, daß er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn verächtlich; es verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so weit noch nicht gebracht hat, daß ihn so etwas nicht verwirret; wenn er seine Kunst so sehr nicht liebet, daß er sich, ihr zum Besten, eine kleine Kränkung will gefallen lassen: so suche er über die Stelle so gut wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand vor; nur verlange er nicht, daß sich der Dichter seinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die er ihn vorstellen läßt. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine Ohrfeige hinnehmen muß: was wollen ihre Repräsentanten dawider einzuwenden haben?
Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder höchstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, für den sie eine seinem Stande angemessene Züchtigung ist? Einem Helden hingegen, einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanständig! – Und wenn sie das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanständigkeit die Quelle der gewaltsamsten Entschließungen, der blutigsten Rache werden soll, und wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht hätte haben können? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muß, soll dennoch aus der Tragödie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komödie, weil es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worüber wir einmal lachen, sollen wir ein andermal nicht erschrecken können?
Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen möchte, so wäre es aus der Komödie. Denn was für Folgen kann sie da haben? Traurige? die sind über ihrer Sphäre. Lächerliche? die sind unter ihr, und gehören dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Mühe, sie geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als pöbelhafte Hitze, und wer sie bekömmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also den beiden Extremis, der Tragödie und dem Possenspiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, über die wir entweder spotten oder zittern wollen.
Und ich frage jeden, der den Cid vorstellen sehen, oder ihn mit einiger Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder überlaufen, wenn der großsprecherische Gormas den alten würdigen Diego zu schlagen sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid für diesen, und den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung nach sich ziehen müsse, in die Gedanken geschossen, und ihn mit Erwartung und Furcht erfüllet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung auf ihn hat, nicht tragisch sein?
Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war, und eben itzt eine von seinem Nachbar verdient hätte. Wen aber die ungeschickte Art, mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu lächeln machte, der biß sich geschwind in die Lippe, und eilte, sich wieder in die Täuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt.
Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten könnte? Für jede andere würde es in der Macht des Königs stehen, dem Beleidigten Genugtuung zu schaffen; für jede andere würde sich der Sohn weigern dürfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten aufzuopfern. Für diese einzige läßt das Pundonor weder Entschuldigung noch Abbitte gelten; und alle gütliche Wege, die selbst der Monarch dabei einleiten will, sind fruchtlos. Corneille ließ nach dieser Denkungsart den Gormas, wenn ihn der König andeuten läßt, den Diego zufrieden zu stellen, sehr wohl antworten:
Ces satisfactions n’appaisent point une ame:
Qui les reçoit n’a rien, qui les fait se diffame.
Et de tous ces accords l’effet le plus commun,
C’est de deshonorer deux hommes au lieu d’un.
Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwider liefen. Corneille erhielt also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergänzte sie aus dem Gedächtnisse, und aus seiner Empfindung.
In dem Essex wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, daß sie eine Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau und Königin: was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Über die handfertige wehrhafte Frau würde er spotten; denn eine Frau kann weder schimpfen, noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souverain, dessen Beschimpfungen unauslöschlich sind, da sie von seiner Würde eine Art von Gesetzmäßigkeit erhalten. Was kann also natürlicher scheinen, als daß Essex sich wider diese Würde selbst auflehnet, und gegen die Höhe tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wüßte wenigstens nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich hätte machen können. Die bloße Ungnade, die bloße Entsetzung seiner Ehrenstellen konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so knechtische Behandlung außer sich gebracht, sehen wir ihn alles, was ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit Entschuldigung unternehmen. Die Königin selbst muß ihn aus diesem Gesichtspunkte ihrer Verzeihung würdig erkennen; und wir haben so ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekränkten Ehre tut, aus Eigennutz und andern niedrigen Absichten geschieht.
Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt, war über die Wahl eines Königs von Irland. Als er sahe, daß die Königin auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr verächtlichen Gebärde den Rücken. In dem Augenblicke fühlte er ihre Hand, und seine fuhr nach dem Degen. Er schwur, daß er diesen Schimpf weder leiden könne noch wolle; daß er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht würde erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Der Brief, den er an den Kanzler Egerton über diesen Vorfall schrieb, ist mit dem würdigsten Stolze abgefaßt; und er schien fest entschlossen, sich der Königin nie wieder zu nähern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer völligen Gnade, und in der völligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings. Diese Versöhnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war. In diesem Falle war er wirklich ein Verräter, der sich alles gefallen ließ, bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht, den ihm die Königin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der Zorn über diese Verschmälerung seiner Einkünfte, verblendete ihn so, daß er ohne alle Überlegung losbrach. So finden wir ihn in der Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht, und ihm weiter keine treulosen Absichten gegen seine Königin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloß durch die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war.
Sieben und funfzigstes Stück
Den 17ten November, 1767
Banks hat die nämlichen Worte beibehalten, die Essex über die Ohrfeige ausstieß. Nur daß er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der Welt, mit samt Alexandern, beifügen läßt.(62) Sein Essex ist überhaupt zu viel Prahler; und es fehlet wenig, daß er nicht ein eben so großer Gasconier ist, als der Essex des Gasconiers Calprenede. Dabei erträgt er sein Unglück viel zu kleinmütig, und ist bald gegen die Königin eben so kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergißt, ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwürdig. In der Geschichte kann man dergleichen Widersprüche mit sich selbst, für Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste des Herzens kennen lernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet hätten, übereinstimmen, oder nicht. Ja, sie mögen es, oder sie mögen es nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht recht nutzen. Ohne Verstellung fällt der Charakter weg: bei der Verstellung die Würde desselben.
Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen können. Diese Frau bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem Essex, hat er mit vieler Anständigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm gewissermaßen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille, über Kälte und Verachtung, über Glut und Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert nicht, daß ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er um sie allein seufzen solle, u.s.w. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen. Sie spricht nie, als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hört es nie, aber man sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken Eifersucht verraten sie; sonst würde man sie schlechterdings für nichts, als für seine Freundin halten können.
Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion zu setzen gewußt, das können folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen. – Die Königin glaubt sich allein, und überlegt den unglücklichen Zwang ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr nachgekommen. –
Die Königin. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein.
Nottingham. Verzeihe, Königin, daß ich so kühn bin. Und doch befiehlt mir meine Pflicht, noch kühner zu sein. – Dich bekümmert etwas. Ich muß fragen, – aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung bitten, daß ich es frage – Was ists, das Dich bekümmert? Was ist es, das diese erhabene Seele so tief herab beuget? – Oder ist Dir nicht wohl?
Die Königin. Steh auf; ich bitte dich. – Mir ist ganz wohl. – Ich danke dir für deine Liebe. – Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich, – meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fürchte, ihm nur zu lange. Es fängt an, meiner überdrüssig zu werden. – Neue Kronen sind wie neue Kränze; die frischesten, sind die lieblichsten. Meine Sonne neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewärmet; man fühlet sich zu heiß; man wünscht, sie wäre schon untergegangen. – Erzähle mir doch, was sagt man von der Überkunft des Essex?
Nottingham. – Von seiner Überkunft – sagt man – nicht das Beste. Aber von ihm – er ist für einen so tapfern Mann bekannt –
Die Königin. Wie? tapfer? da er mir so dienet? – Der Verräter!
Nottingham. Gewiß, es war nicht gut –
Die Königin. Nicht gut! nicht gut? – Weiter nichts?
Nottingham. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat.
Die Königin. Nicht wahr, Nottingham? – Meinen Befehl so gering zu schätzen! Er hätte den Tod dafür verdient. – Weit geringere Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet. –
Nottingham. Ja wohl. – Und doch sollte Essex, bei so viel größerer Schuld, mit geringerer Strafe davon kommen? Er sollte nicht sterben?
Die Königin. Er soll! – Er soll sterben, und in den empfindlichsten Martern soll er sterben! – Seine Pein sei, wie seine Verräterei, die größte von allen! – Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder, nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Brücken, auf den höchsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der vorübergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner Königin trotzte! – Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente! – Was sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch? – Du schweigst? Warum schweigst du? Willst du ihn noch vertreten?
Nottingham. Weil Du es denn befiehlst, Königin, so will ich Dir alles sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht. –
Die Königin. Tu das! – Laß hören: was sagt die Welt von ihm und mir?
Nottingham. Von Dir, Königin? – Wer ist es, der von Dir nicht mit Entzücken und Bewunderung spräche? Der Nachruhm eines verstorbenen Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen ertönen. Nur dieses einzige wünschet man, und wünschet es mit den heißesten Tränen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen, – dieses einzige, daß Du geruhen möchtest, ihren Beschwerden gegen diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verräter nicht länger zu schützen, ihn nicht länger der Gerechtigkeit und der Schande vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu überliefern –
Die Königin. Wer hat mir vorzuschreiben?
Nottingham. Dir vorzuschreiben! – Schreibet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet? – Und so flehet Dich alles wider den Mann an, dessen Gemütsart so schlecht, so boshaft ist, daß er es auch nicht der Mühe wert achtet, den Heuchler zu spielen. – Wie stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, pöbelhaft stolz; nicht anders als ein elender Lakei auf seinen bunten verbrämten Rock! – Daß er tapfer ist, räumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der Bär ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle Seele über Glück und Unglück erhebt, ist fern von ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset über ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; überall will er allein glänzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und herrschsüchtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stürzte – –
Die Königin. Gemach, Nottingham, gemach! – Du eiferst dich ja ganz aus dem Aten. – Ich will nichts mehr hören – Bei Seite. Gift und Blattern auf ihre Zunge! – Gewiß, Nottingham, du solltest dich schämen, so etwas auch nur nachzusagen; dergleichen Niederträchtigkeiten des boshaften Pöbels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, daß der Pöbel das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wünscht, daß er es sagen möchte.
Nottingham. Ich erstaune, Königin –
Die Königin. Worüber?
Nottingham. Du gebotest mir selbst, zu reden –
Die Königin. Ja, wenn ich es nicht bemerkt hätte, wie gewünscht dir dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal glühte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich, überzufließen, und jedes Wort, jede Gebärde hatte seinen längst abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft.
Nottingham. Verzeihe, Königin, wenn ich in dem Ausdrucke meine Schuldigkeit gefehlet habe. Ich maß ihn nach Deinem ab.
Die Königin. Nach meinem? – Ich bin seine Königin. Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will. – Auch hat er sich der gräßlichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig gemacht. Mich hat er beleidiget; aber nicht dich. – Womit könnte dich der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er übertreten, keine Untertanen, die er bedrücken, keine Krone, nach der er streben könnte. Was findest du denn also für ein grausames Vergnügen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen?
Nottingham. Ich bin zu tadeln –
Die Königin. Genug davon! – Seine Königin, die Welt, das Schicksal selbst erklärt sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen? –
Nottingham. Ich bekenne es, Königin, –
Die Königin. Geh, es sei dir vergeben! – Rufe mir gleich die Rutland her. –
Acht und funfzigstes Stück
Den 20sten November, 1767
Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich, daß Rutland, ohne Wissen der Königin, mit dem Essex vermählt ist.
Die Königin. Kömmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt. – Wie ists? Ich finde dich, seit einiger Zeit, so traurig. Woher diese trübe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.
Rutland. Großmütige Frau! – Ich verdiene es nicht, daß meine Königin so gnädig auf mich herabsiehet.
Die Königin. Wie kannst du so reden? – Ich liebe dich; ja wohl liebe ich dich. – Du sollst es daraus schon sehen! – Eben habe ich mit der Nottingham, der widerwärtigen! – einen Streit gehabt; und zwar – über Mylord Essex.
Rutland. Ha!
Die Königin. Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen.
Rutland bei Seite. Wie fahre ich bei diesem teuern Namen zusammen! Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fühl es; ich werde blaß – und wieder rot. –
Die Königin. Was ich dir sage, macht dich erröten? –
Rutland. Dein so überraschendes, gütiges Vertrauen, Königin, –
Die Königin. Ich weiß, daß du mein Vertrauen verdienest. – Komm, Rutland, ich will dir alles sagen. Du sollst mir raten. – Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirst du es auch gehört haben, wie sehr das Volk wider den armen, unglücklichen Mann schreiet; was für Verbrechen es ihm zu Last leget. Aber das Schlimmste weißt du vielleicht noch nicht? Er ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdrücklichen Befehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der größten Verwirrung gelassen.
Rutland. Darf ich Dir, Königin, wohl sagen, was ich denke? – Das Geschrei des Volkes, ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Haß ist öfters so ungegründet –
Die Königin. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele. – Aber, liebe Rutland, er ist dem ohngeachtet zu tadeln. – Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen. – O gewiß, man legt mir es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen. Sie vergessen, daß ich ihre Königin bin. – Ah, Liebe; so ein Freund hat mir längst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschütten kann! –
Rutland. Siehe meine Tränen, Königin – Dich so leiden zu sehen, die ich so bewundere! – O, daß mein guter Engel Gedanken in meine Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu beschwören, und Balsam in Deine Wunden zu gießen!
Die Königin. O, so wärest du mein guter Engel, mitleidige, beste Rutland! – Sage, ist es nicht Schade, daß so ein braver Mann ein Verräter sein soll? daß so ein Held, der wie ein Gott verehret ward, sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu wollen?
Rutland. Das hätte er gewollt? das könnte er wollen? Nein, Königin, gewiß nicht, gewiß nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir sprechen hören! mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem Entzücken habe ich ihn von Dir sprechen hören!
Die Königin. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hören?
Rutland. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte Überlegung, aus dem ein inneres Gefühl spricht, dessen er nicht mächtig ist. Sie ist, sagte er, die Göttin ihres Geschlechts, so weit über alle andere Frauen erhaben, daß das, was wir in diesen am meisten bewundern, Schönheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein größeres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem alles überströmenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts übersteigt ihre Güte; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glückliche Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels gezogen, und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet. – O, unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues Herz ausdrückte, o, daß sie nicht unsterblich sein kann! Ich wünsche ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit diesen Abglanz von sich zurückruft, und mit eins sich Nacht und Verwirrung über Britannien verbreiten.
Die Königin. Sagte er das, Rutland?
Rutland. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe, dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich überströmte –
Die Königin. O, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du ihm gibst!
Rutland. Und kannst ihn noch für einen Verräter halten?
Die Königin. Nein; – aber doch hat er die Gesetze übertreten. – Ich muß mich schämen, ihn länger zu schützen. – Ich darf es nicht einmal wagen, ihn zu sehen.
Rutland. Ihn nicht zu sehen, Königin? nicht zu sehen? – Bei dem Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwöre ich Dich, – Du mußt ihn sehen! Schämen? wessen? daß Du mit einem Unglücklichen Erbarmen hast? – Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte Könige schimpfen? – Nein, Königin; sei auch hier Dir selbst gleich. Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen –
Die Königin. Ihn, der meinen ausdrücklichen Befehl so geringschätzen können? Ihn, der sich so eigenmächtig vor meine Augen drängen darf? Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl?
Rutland. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der Gefahr, in der er sich sahe. Er hörte, was hier vorging; wie sehr man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdächtig zu machen suche. Er kam also, zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich zu rechtfertigen, und Dich nicht hintergehen zu lassen.
Die Königin. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich sehen. – O, meine Rutland, wie sehr wünsche ich es, ihn noch immer eben so rechtschaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne!
Rutland. O, nähre diese günstige Gedanke! Deine königliche Seele kann keine gerechtere hegen. – Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiß finden. Ich wollte für ihn schwören; bei aller Deiner Herrlichkeit für ihn schwören, daß er es nie aufgehöret zu sein. Seine Seele ist reiner als die Sonne, die Flecken hat, und irdische Dünste an sich ziehet, und Geschmeiß ausbrütet. – Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niederträchtigkeit fähig. Bedenke, wie er die Rebellen gezüchtiget; wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der vergebens die Schätze seiner Indien wider Dich verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Völkern vorher, und ehe diese noch eintrafen, hatte öfters schon sein Name gesiegt.
Die Königin bei Seite. Wie beredt sie ist! – Ha! dieses Feuer, diese Innigkeit, – das bloße Mitleid gehet so weit nicht. – Ich will es gleich hören! – Zu ihr. Und dann, Rutland, seine Gestalt –
Rutland. Recht, Königin; seine Gestalt. – Nie hat eine Gestalt den innern Vollkommenheiten mehr entsprochen! – Bekenn es, Du, die Du selbst so schön bist, daß man nie einen schönern Mann gesehen! So würdig, so edel, so kühn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied, in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das Ganze von einem so sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus hundert Gegenständen zusammen suchen muß, was sie hier bei einander findet!
Die Königin bei Seite. Ich dacht es! – Das ist nicht länger auszuhalten. – Zu ihr. Wie ist dir, Rutland? Du gerätst außer dir. Ein Wort, ein Bild überjagt das andere. Was spielt so den Meister über dich? Ist es bloß deine Königin, ist es Essex selbst, was diese wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket? – Bei Seite. Sie schweigt; – ganz gewiß, sie liebt ihn. – Was habe ich getan? Welchen neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt? u.s.w.
Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Königin zu sagen, daß Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen. »Rutland, sagt die Königin, wir sprechen einander schon weiter; geh nur. – Nottingham, tritt du näher.« Dieser Zug der Eifersucht ist vortrefflich. Essex kömmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige. Ich wüßte nicht, wie sie verständiger und glücklicher vorbereitet sein könnte. Essex anfangs, scheinet sich völlig unterwerfen zu wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl hätte alles das die Königin so weit nicht aufbringen können, wenn ihr Herz nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen wäre. Es ist eigentlich die eifersüchtige Liebhaberin, welche schlägt, und die sich nur der Hand der Königin bedienet. Eifersucht überhaupt schlägt gern. –
Ich, meines Teils, möchte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den ganzen Essex des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch, so voller Leben und Wahrheit, daß das Beste des Franzosen eine sehr armselige Figur dagegen macht.
Neun und funfzigstes Stück
Den 24sten November, 1767
Nur den Stil des Banks muß man aus meiner Übersetzung nicht beurteilen. Von seinem Ausdrucke habe ich gänzlich abgehen müssen. Er ist zugleich so gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von Person zu Person, sondern ganz durchaus, daß er zum Muster dieser Art von Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut als möglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen lieber, als an der andern, scheitern wollen.
Ich habe mich mehr vor dem Schwülstigen gehütet, als vor dem Platten. Die mehresten hätten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwülstig und tragisch, halten viele so ziemlich für einerlei. Nicht nur viele, der Leser: auch viele, der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere Menschen sprechen? Was wären das für Helden? Ampullae et sesquipedalia verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragödie.
»Wir haben es an nichts fehlen lassen,« sagt Diderot,(63) (man merke, daß er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht,) »das Drama aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten die volle prächtige Versifikation beibehalten, die sich doch nur für Sprachen von sehr abgemessenen Quantitäten, und sehr merklichen Akzenten, nur für weitläufige Bühnen, nur für eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespräche, und die Wahrheit ihrer Gemälde haben wir fahren lassen.«
Diderot hätte noch einen Grund hinzufügen können, warum wir uns den Ausdruck der alten Tragödien nicht durchgängig zum Muster nehmen dürfen. Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien, öffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie müssen also fast immer mit Zurückhaltung, und Rücksicht auf ihre Würde, sprechen; sie können sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den ersten den besten Worten entladen; sie müssen sie abmessen und wählen. Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen größtenteils zwischen ihren vier Wänden lassen: was können wir für Ursache haben, sie dem ohngeachtet immer eine so geziemende, so ausgesuchte, so rhetorische Sprache führen zu lassen? Sie hört niemand, als dem sie es erlauben wollen, sie zu hören; mit ihnen spricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affekte sind, und weder Lust noch Muße haben, Ausdrücke zu kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er auch in das Stück eingeflochten war, dennoch niemals mit handelte, und stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den höhern Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdrücken gelernt, als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhörlich, sich besser auszudrücken, als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jeder seine eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut verstehet, als der Polierteste.
Bei einer gesuchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung sein. Sie zeigt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten.
Wie ich Banks Elisabeth sprechen lasse, weiß ich wohl, hat noch keine Königin auf dem französischen Theater gesprochen. Den niedrigen vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhält, würde man in Paris kaum einer guten adlichen Landfrau angemessen finden. »Ist dir nicht wohl? – Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich. – Nur unruhig; ein wenig unruhig bin ich. – Erzähle mir doch. – Nicht wahr, Nottingham? Tu das! Laß hören! – Gemach, gemach! – Du eiferst dich aus dem Atem. – Gift und Blattern auf ihre Zunge! – Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will. – Auf den Kopf schlagen. – Wie ists? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen. – Wie kannst du so reden? – Du sollst es schon sehen. – Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen. – Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen. – Ich dacht es! – Das ist nicht länger auszuhalten.« – Ja wohl ist es nicht auszuhalten! würden die feinen Kunstrichter sagen –
Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen. – Denn leider gibt es Deutsche, die noch weit französischer sind, als die Franzosen. Ihnen zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlässigkeiten, die ihr zärtliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu finden waren, die er mit so vieler Überlegung dahin und dorthin streuete, um den Dialog geschmeidig zu machen, und den Reden einen wahrern Anschein der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig zusammen auf einen Faden, und wollen sich krank darüber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achselzucken: »man hört wohl, daß der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe.«
Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer für die Königinnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen dürfen. Ich habe es lange schon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etiquette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Königinnen mögen so gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Königinnen müssen natürlich sprechen. Er höre der Hekuba des Euripides nur fleißig zu; und tröste sich immer, wenn er schon sonst keine Königinnen gesprochen hat.
Nichts ist züchtiger und anständiger als die simple Natur. Grobheit und Wust ist eben so weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast von dem Erhabnen. Das nämliche Gefühl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt, wird sie auch hier bemerken. Der schwülstigste Dichter ist daher unfehlbar auch der pöbelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine Gattung gibt mehrere Gelegenheit in beide zu verfallen, als die Tragödie.
Gleichwohl scheinet die Engländer vornehmlich nur der eine, in ihrem Banks beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die pöbelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so glänzende Personen führen lasse; und wünschten lange, daß sein Stück von einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe, möchte umgearbeitet werden.(64) Dieses geschah endlich auch. Fast zu gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darüber. Heinrich Jones, von Geburt ein Irländer, war seiner Profession nach ein Maurer, und vertauschte, wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen Mann von großem Genie bekannt machten, brachte er seinen Essex 1753 aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook ließ seinen erst einige Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, daß er, wie man ihm Schuld gibt, eben sowohl den Essex des Jones, als den vom Banks, genutzt hat. Auch muß noch ein Essex von einem James Ralph vorhanden sein. Ich gestehe, daß ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten Tagebüchern kenne. Von dem Essex des Brook, sagt ein französischer Kunstrichter, daß er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der schönen Poesie des Jones zu verbinden gewußt habe. Was er über die Rolle der Rutland, und über derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres Gemahls, hinzufügt,(65) ist merkwürdig; man lernt auch daraus das Pariser Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht.
Aber einen spanischen Essex habe ich gelesen, der viel zu sonderbar ist, als daß ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte. –
Sechzigstes Stück
Den 27sten November, 1767
Er ist von einem Ungenannten, und führet den Titel: Für seine Gebieterin sterben.(66) Ich finde ihn in einer Sammlung von Komödien, die Joseph Padrino zu Sevillien gedruckt hat, und in der er das vier und siebzigste Stück ist. Wenn er verfertiget worden, weiß ich nicht; ich sehe auch nichts, woraus es sich ungefähr abnehmen ließe. Das ist klar, daß sein Verfasser weder die französischen und englischen Dichter, welche die nämliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner Leser nicht vorgreifen.
Essex kömmt von seiner Expedition wider die Spanier zurück, und will der Königin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hört er, daß sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, Namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche Zusammenkünfte mit ihr gehabt. Sogleich begibt er sich dahin, und bedient sich des Schlüssels, den er noch von der Gartentüre bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natürlich, daß er sich seiner Geliebten eher zeigen will, als der Königin. Als er durch den Garten nach ihren Zimmern schleichet, wird er, an dem schattichten Ufer eines durch denselben geleiteten Armes der Themse, ein Frauenzimmer gewahr, (es ist ein schwüler Sommerabend,) das mit den bloßen Füßen in dem Wasser sitzt, und sich abkühlet. Er bleibt voller Verwunderung über ihre Schönheit stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Diese Schönheit, wie billig, wird weitläuftig beschrieben, und besonders werden über die allerliebsten weißen Füße in dem klaren Wasser, sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, daß der entzückte Graf zwei kristallene Säulen in einem fließenden Kristalle stehen sieht; er weiß vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall ihrer Füße ist, welcher in Fluß geraten, oder ob ihre Füße der Kristall des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat.(67)) Noch verwirrter macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weißen Gesichte: er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so göttliches Monstrum gebildet, und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so glänzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr zur Verspottung?(68) Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb Tyrannin! ein Schuß auf sie geschieht, und gleich darauf zwei maskierte Männer mit bloßem Degen auf sie los gehen, weil der Schuß sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex besinnt sich nicht lange, ihr zu Hülfe zu eilen. Er greift die Mörder an, und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurück, und bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, daß er verwundet ist, knüpft ihre Schärpe los, und gibt sie ihm, sich die Wunde damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schärpe dienen, mich Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muß ich mich entfernen, ehe über den Schuß mehr Lärmen entsteht; ich möchte nicht gern, daß die Königin den Zufall erführe, und ich beschwöre Euch daher um Eure Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen über diese sonderbare Begebenheit, über die er mit seinem Bedienten, Namens Cosme, allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des Stücks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen, und hatte den Schuß zwar gehört, aber ihm doch nicht zu Hülfe kommen dürfen. Die Furcht hielt an der Türe Schildwache, und versperrte ihm den Eingang. Furchtsam ist Cosme für viere;(69) und das sind die spanischen Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, daß er sich unfehlbar in die schöne Unbekannte verliebt haben würde, wenn Blanca nicht schon so völlig Besitz von seinem Herzen genommen hätte, daß sie durchaus keiner andern Leidenschaft darin Raum lasse. Aber, sagt er, wer mag sie wohl gewesen sein? Was dünkt dich, Cosme? – Wer wirds gewesen sein, antwortet Cosme, als des Gärtners Frau, die sich die Beine gewaschen? –(70) Aus diesem Zuge, kann man leicht auf das Übrige schließen. Sie gehen endlich beide wieder fort; es ist zu spät geworden; das Haus könnte über den Schuß in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal.
Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermädchen. (Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der König von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem jüngsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist, unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese Verbindung zu Stande zu bringen. Es läßt sich alles, sowohl von Seiten des Parlaments als der Königin, sehr wohl dazu an; aber indes erblickt er die Blanca, und verliebt sich in sie. Itzt kömmt er, und bittet Floren, ihm in seiner Liebe behülflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit, in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloß, Blanca suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit einem Manne, dessen Stand so weit über den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung machen könne, so dürfte sie schwerlich seiner Liebe Gehör geben. – (Man erwartet, daß der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner Absichten beteuern werde; aber davon kein Wort! Die Spanier sind in diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora übergeben soll. Er wünscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief für Eindruck auf sie machen werde. Er schenkt Floren eine güldne Kette, und Flora versteckt ihn in eine anstoßende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt, welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet.
Essex kömmt. Nach den zärtlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich würdig zu zeigen wünsche, müssen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben, und ihn, unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentümer ihrer Ehre gemacht. (Te hice dueño de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist nichts in Abrede, und fügt hinzu, daß, nach dem Tode ihres Vaters und Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen gekommen sei. Nun aber habe er diese glücklich vollendet; nun wolle er unverzüglich die Königin um Erlaubnis zu ihrer Vermählung antreten. – Und so kann ich dir denn, sagt Blanca, als meinem Geliebten, als meinem Bräutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher anvertrauen.(71) –
Ein und sechzigstes Stück
Den 1sten Dezember, 1767
Hierauf beginnt sie eine lange Erzählung von dem Schicksale der Maria von Schottland. Wir erfahren, (denn Essex selbst muß alles das, ohne Zweifel, längst wissen,) daß ihr Vater und Bruder dieser unglücklichen Königin sehr zugetan gewesen; daß sie sich geweigert, an der Unterdrückung der Unschuld Teil zu nehmen; daß Elisabeth sie daher gefangen setzen, und in dem Gefängnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, daß Blanca die Elisabeth haßt; daß sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu rächen. Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen, und sie ihres ganzen Vertrauens gewürdiget. Aber Blanca ist unversöhnlich. Umsonst wählte die Königin, nur kürzlich, vor allen andern das Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu genießen. – Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es möchte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen; und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Königin in dem Garten ermorden wollen. Nun weiß Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiß nicht, daß es Essex ist, welcher ihren Anschlag vereiteln müssen. Sie rechnet vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht bloß zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm völlig die glücklichere Vollziehung ihrer Rache zu übertragen. Er soll sogleich an ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben, und gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin müsse sterben; ihr Name sei allgemein verhaßt; ihr Tod sei eine Wohltat für das Vaterland, und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu verschaffen.
Essex ist über diesen Antrag äußerst betroffen. Blanca, seine teure Blanca, kann ihm eine solche Verräterei zumuten? Wie sehr schämt er sich, in diesem Augenblicke, seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr, wie es billig wäre, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum weniger bei ihren schändlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Königin die Sache hinterbringen? Das ist unmöglich: Blanca, seine ihm noch immer teure Blanca, läuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen, von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er müßte nicht wissen, was für ein rachsüchtiges Geschöpf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich durch Flehen erweichen, und durch Gefahr abschrecken läßt. Wie leicht könnte sie seine Abratung, sein Zorn, zur Verzweiflung bringen, daß sie sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht wäre, und ihr zu Liebe alles unternähme?(72) – Dieses in der Geschwindigkeit überlegt, faßt er den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heißt der Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhängern, in die Falle zu locken.
Blanca wird ungeduldig, daß ihr Essex nicht sogleich antwortet. »Graf, sagt sie, wenn Du erst lange mit Dir zu Rate gehst, so liebst Du mich nicht. Auch nur zweifeln, ist Verbrechen. Undankbarer! –(73) Sei ruhig, Blanca! erwidert Essex: ich bin entschlossen. – Und wozu? – Gleich will ich Dir es schriftlich geben.«
Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der Herzog aus der Galerie näher. Er ist neugierig zu sehen, wer sich mit der Blanca so lange unterhält; und erstaunt, den Grafen von Essex zu erblicken. Aber noch mehr erstaunt er über das, was er gleich darauf zu hören bekömmt. Essex hat an den Roberto geschrieben, und sagt der Blanca den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen; Essex will ihn mit seinen Leuten unterstützen; Essex hat die Gunst des Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Königin zu bemächtigen; sie ist schon so gut, als tot. – Erst müßt ich sterben! ruft auf einmal der Herzog, und kömmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen über diese plötzliche Erscheinung: und das Erstaunen des letztern ist nicht ohne Eifersucht. Er glaubt, daß Blanca den Herzog bei sich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca, und versichert, daß sie von seiner Anwesenheit nichts gewußt; er habe die Galerie offen gefunden, und sei von selbst hereingegangen, die Gemälde darin zu betrachten.(74)
Der Herzog. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern Leben der Königin, bei – Aber genug, daß ich es sage: Blanca ist unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklärung zu danken. Auf Sie, ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie Sie, machen Leute, wie ich –
Der Graf. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht? –
Der Herzog. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ich hielt Sie für einen ganz andern Mann: und ich finde, Sie sind ein Verräter.
Der Graf, Wer darf das sagen?
Der Herzog. Ich! – Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hören, Graf!
Der Graf. Meine Absicht mag auch gewesen sein –
Der Herzog. Denn kurz: ich bin überzeugt, daß ein Verräter kein Herz hat. Ich treffe Sie als einen Verräter: ich muß Sie für einen Mann ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils über Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen verlustig sind. Wären Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt, so würde ich Sie zu züchtigen wissen.
Der Graf. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand begegnen dürfen, als der Bruder des Königs von Frankreich.
Der Herzog. Wenn ich auch der nicht wäre, der ich bin; wenn nur Sie der wären, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl empfinden, mit wem Sie zu tun hätten. – Sie, der Graf von Essex? Wenn Sie dieser berufene Krieger sind: wie können Sie so viele große Taten durch eine so unwürdige Tat vernichten wollen? –
Zwei und sechzigstes Stück
Den 4ten Dezember, 1767
Der Herzog fährt hierauf fort, ihm sein Unrecht, in einem etwas gelindern Tone, vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich eines bessern zu besinnen; er will es vergessen, was er gehört habe; er ist versichert, daß Blanca mit dem Grafen nicht einstimme, und daß sie selbst ihm eben das würde gesagt haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen wäre. Er schließt endlich: »Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so schändlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, daß Sie einen Kopf haben, und London einen Henker!«(75) – Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist in der äußersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich für einen Verräter gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen den Herzog zu rechtfertigen; er muß sich gedulden, bis es der Ausgang lehre, daß er da seiner Königin am getreuesten gewesen sei, als er es am wenigsten zu sein geschienen.(76) So spricht er mit sich selbst: zur Blanca aber sagt er, daß er den Brief sogleich an ihren Oheim senden wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern verwünscht, sich aber noch damit getröstet, daß es kein Schlimmerer als der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse.
Die Königin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, daß ihre Leibwache alle Zugänge wohl besetze; und morgen will sie nach London zurückkehren. Der Kanzler ist der Meinung, die Meuchelmörder aufsuchen zu lassen, und durch ein öffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche Belohnung zu verheißen, sollte er auch selbst ein Mitschuldiger sein. »Denn da es ihrer zwei waren,« sagt er, »die den Anfall taten, so kann leicht einer davon ein eben so treuloser Freund sein, als er ein treuloser Untertan ist.«(77) – Aber die Königin mißbilliget diesen Rat; sie hält es für besser, den ganzen Vorfall zu unterdrücken, und es gar nicht bekannt werden zu lassen, daß es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat erkühnen dürfen. »Man muß, sagt sie, die Welt glauben machen, daß die Könige so wohl bewacht werden, daß es der Verräterei unmöglich ist, an sie zu kommen. Außerordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen, als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der Sünde unzertrennlich; und dieses kann oft eben so sehr anreizen, als jenes abschrecken.«(78)
Indem wird Essex gemeldet, und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem glücklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Königin sagt ihm, auf eine sehr verbindliche Weise: »Da ich Euch wieder erblicke, weiß ich von dem Ausgange des Krieges schon genug.«(79) Sie will von keinen nähern Umständen hören, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Königin und Essex sind allein; das Gespräch wird vertraulicher; Essex hat die Schärpe um; die Königin bemerkt sie, und Essex würde es aus dieser bloßen Bemerkung schließen, daß er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca nicht schon geschlossen hätte. Die Königin hat den Grafen schon längst heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig.(80) Es kostet ihr alle Mühe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne Fragen, ihn auszulocken und zu hören, ob sein Herz schon eingenommen, und ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte gibt er ihr durch seine Antworten gewissermaßen zu verstehen, und zugleich, daß er für eben diese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken sich erkühnen dürfe. Die Königin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen zu geben: doch siegt noch ihr Stolz über ihre Liebe. Eben so sehr hat der Graf mit seinem Stolze zu kämpfen: er kann sich des Gedankens nicht entwehren, daß ihn die Königin liebe, ob er schon die Vermessenheit dieses Gedankens erkennet. (Daß diese Szene größtenteils aus Reden bestehen müsse, die jedes seitab führet, ist leicht zu erachten.) Sie heißt ihn gehen, und heißt ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm das Patent bringe. Er bringt es; sie überreicht es ihm; er bedankt sich, und das Seitab fängt mit neuem Feuer an.
Die Königin. Törichte Liebe! –
Essex. Eitler Wahnsinn! –
Die Königin. Wie blind! –
Essex. Wie verwegen! –
Die Königin. So tief willst du, daß ich mich herabsetze? –
Essex. So hoch willst du, daß ich mich versteige?
Die Königin. Bedenke, daß ich Königin bin!
Essex. Bedenke, daß ich Untertan bin!
Die Königin. Du stürzest mich bis in den Abgrund, –
Essex. Du erhebest mich bis zur Sonne, –
Die Königin. Ohne auf meine Hoheit zu achten.
Essex. Ohne meine Niedrigkeit zu erwägen.
Die Königin. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert: –
Essex. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemächtiget: –
Die Königin. So stirb da, und komm nie auf die Zunge!
Essex. So stirb da, und komm nie über die Lippen!(81)
(Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden mit einander; und reden auch nicht mit einander. Der eine hört, was der andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehört hat. Sie nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele. Man sage jedoch nicht, daß man ein Spanier sein muß, um an solchen unnatürlichen Künsteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreißig Jahren fanden wir Deutsche eben so viel Geschmack daran; denn unsere Staats- und Helden-Aktionen wimmelten davon, die in allem nach den spanischen Mustern zugeschnitten waren.)
Nachdem die Königin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab, und machen dem ersten Aufzuge ein Ende. – Die Stücke der Spanier, wie bekannt, haben deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre allerältesten Stücke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von Komödien. Virues war der erste, welcher die vier Aufzüge auf drei brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stücke seiner Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte. Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern Neuen Kunst, Komödien zu machen;(82) mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch finde,(83) wo sich dieser den Ruhm anmaßt, die spanische Komödie von fünf Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der spanische Litterator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich dabei nicht aufhalten.
Drei und sechzigstes Stück
Den 8ten Dezember, 1767
Die Königin ist von dem Landgute zurückgekommen; und Essex gleichfalls. Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen Augenblick vermissen zu lassen. Er eröffnet mit seinem Cosme den zweiten Akt, der in dem Königlichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des Grafen, sich mit Pistolen versehen müssen; der Graf hat heimliche Feinde; er besorgt, wenn er des Nachts spät vom Schlosse gehe, überfallen zu werden. Er heißt den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der Blanca zu tragen, und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet er die Schärpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist eifersüchtig; die Schärpe könnte ihr Gedanken machen; sie könnte sie haben wollen; und er würde sie ihr abschlagen müssen. Indem er sie dem Cosme zur Verwahrung übergibt, kömmt Blanca dazu. Cosme will sie geschwind verstecken; aber es kann so geschwind nicht geschehen, daß es Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Königin; und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schärpe reinen Mund zu halten, und sie niemanden zu zeigen.
Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, daß er ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er fürchtet ein Geschwär im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, daß er sich dieser Gefahr bereits sechs und dreißig Stunden ausgesetzt habe.(84) Er gibt Floren die Pistolen, und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte, von der maskierten Dame und der Schärpe, zu erzählen. Doch eben besinnt er sich, daß es wohl eine würdigere Person sein müsse, der er sein Geheimnis zuerst mitteile. Es würde nicht lassen, wenn sich Flora rühmen könnte, ihn dessen defloriert zu haben.(85) (Ich muß von allerlei Art des spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.)
Cosme darf auf diese würdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von ihrer Neugierde viel zu sehr gequält, daß sie sich nicht, sobald als möglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme vorhin so hastig von ihr zu verbergen gesucht. Sie kömmt also sogleich zurück, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr geantwortet, daß er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn: doch Cosme läßt nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schärpe weiß; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines Geheimnisses entlediget, ist äußerst ekel. Sein Magen will es nicht länger bei sich behalten; es stößt ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den Finger in den Hals; er gibt es von sich; und um einen bessern Geschmack wieder in den Mund zu bekommen, läuft er geschwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu kauen.(86) Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwätze zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, daß die Schärpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden könnte, wenn er es nicht schon sei. »Denn er ist doch nur ein Mann; sagt sie. Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste, ist noch so schlimm!«(87) – Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie ihn je eher je lieber heiraten.
Die Königin tritt herein, und ist äußerst niedergeschlagen. Blanca fragt, ob sie die übrigen Hofdamen rufen soll; aber die Königin will lieber allein sein; nur Irene soll kommen, und vor dem Zimmer singen. Blanca geht auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern kömmt der Graf.
Essex liebt die Blanca; aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber der Königin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er bestraft sich deswegen; sein Herz gehört der Blanca; eigennützige Absichten müssen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Convenienz muß keinen echten Affekt besiegen.(88) Er will sich also lieber wieder entfernen, als er die Königin gewahr wird: und die Königin, als sie ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem fängt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: »Sollten meine verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: o so laß das Mitleid, welches sie verdienen, den Unwillen überwältigen, den du darüber empfindest, daß ich es bin, der sie führet.« Der Königin gefällt das Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte Weise, seine Liebe zu erklären. Er sagt, er habe es glossieret,(89) und bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu dürfen. In dieser Glosse beschreibt er sich als den zärtlichsten Liebhaber, dem es aber die Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die Königin lobt seine Poesie; aber sie mißbilliget seine Art zu lieben. »Eine Liebe, sagt sie unter andern, die man verschweigt, kann nicht groß sein; denn Liebe wächst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig.«
Vier und sechzigstes Stück
Den 11ten Dezember, 1767
Der Graf versetzt, daß die vollkommenste Liebe die sei, welche keine Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen selbst mache sein Glück: denn so lange er seine Liebe verschweige, sei sie noch unverworfen, könne er sich noch von der süßen Vorstellung täuschen lassen, daß sie vielleicht dürfe genehmiget werden. Der Unglückliche sei glücklich, so lange er noch nicht wisse, wie unglücklich er sei.(90) Die Königin widerlegt diese Sophistereien als eine Person, der selbst daran gelegen ist, daß Essex nicht länger darnach handle: und Essex, durch diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen, von welchem die Königin behauptet, daß es ein Liebhaber auf alle Weise wagen müsse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schärpe um, die sie dem Cosme abgenommen, welches zwar die Königin, aber nicht Essex gewahr wird.(91)
Essex. So sei es gewagt! – Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hülfsmittel sterben kann? Was fürchte ich noch? – Königin, wann denn also. –
Blanca. Der Herzog, Ihro Majestät, –
Essex. Blanca könnte nicht ungelegener kommen.
Blanca. Wartet in dem Vorzimmer, –
Die Königin. Ah! Himmel!
Blanca. Auf Erlaubnis, –
Die Königin. Was erblicke ich?
Blanca. Hereintreten zu dürfen.
Die Königin. Sag ihm – Was seh ich! – Sag ihm, er soll warten. – Ich komme von Sinnen! – Geh, sag ihm das.
Blanca. Ich gehorche.
Die Königin. Bleib! Komm her! näher! –
Blanca. Was befehlen Ihro Majestät? –
Die Königin. O, ganz gewiß! – Sage ihm – Es ist kein Zweifel mehr! – Geh, unterhalte ihn einen Augenblick, – Weh mir! Bis ich selbst zu ihm herauskomme. Geh, laß mich!
Blanca, Was ist das? – Ich gehe.
Essex. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren, –
Die Königin. Ha, Eifersucht!
Essex. Mich zu erklären. – Was ich wage, wage ich auf ihre eigene Überredung.
Die Königin. Mein Geschenk in fremden Händen! Bei Gott! – Aber ich muß mich schämen, daß eine Leidenschaft so viel über mich vermag!
Essex. Wenn denn also, – wie Ihre Majestät gesagt, – und wie ich einräumen muß, – das Glück, welches man durch Furcht erkauft, – sehr teuer zu stehen kömmt; – wenn man viel edler stirbt: – so will auch ich, –
Die Königin. Warum sagen Sie das, Graf?
Essex. Weil ich hoffe, daß, wann ich – Warum fürchte ich mich noch? – wann ich Ihro Majestät meine Leidenschaft bekennte, – daß einige Liebe –
Die Königin. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie? Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin? Und wer Sie sind? Ich muß glauben, daß Sie den Verstand verloren. –
Und so fahren Ihro Majestät fort, den armen Grafen auszufenstern, daß es eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel über alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, daß der Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurückbrausen müsse? Ob er nicht wisse, daß die Dünste, welche sich zur Sonne erhieben, von ihren Strahlen zerstreuet würden? – Wer vom Himmel gefallen zu sein glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschämt zurück, und bittet um Verzeihung. Die Königin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder zu betreten, und sich glücklich zu schätzen, daß sie ihm den Kopf lasse, in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen können.(92) Er entfernt sich; und die Königin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie wenig ihr Herz mit ihren Reden übereinstimme.
Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Bühne zu füllen. Blanca hat dem Herzoge es frei gestanden, auf welchem Fuße sie mit dem Grafen stehe; daß er notwendig ihr Gemahl werden müsse, oder ihre Ehre sei verloren. Der Herzog faßt den Entschluß, den er wohl fassen muß; er will sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht er sogar, sich bei der Königin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle.
Die Königin kömmt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurück. Sie ist mit sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er scheine. Vielleicht, daß es eine andere Schärpe war, die der ihrigen nur so ähnlich ist. – Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde sich näher darüber erklären; er wolle sie zusammen allein lassen: und so läßt er sie.
Die Königin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschließt sich Blanca, zu reden. Sie will nicht länger von dem veränderlichen Willen eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht länger anheim stellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau; nicht die Königin. Denn da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen müsse: so suche sie in ihr nicht die Königin, sondern nur die Frau.(93)
Fünf und sechzigstes Stück
Den 15ten Dezember, 1767
Du? mir eine Schwachheit? fragt die Königin.
Blanca. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Tränen, sind vermögend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer kömmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf –
Die Königin. Der Graf? Was für ein Graf? –
Blanca. Von Essex.
Die Königin. Was höre ich?
Blanca. Seine verführerische Zärtlichkeit –
Die Königin. Der Graf von Essex?
Blanca. Er selbst, Königin. –
Die Königin bei Seite. Ich bin des Todes! – Nun? weiter!
Blanca. Ich zittere. – Nein, ich darf es nicht wagen –
Die Königin macht ihr Mut, und lockt ihr nach und nach mehr ab, als Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hören wünscht. Sie höret, wo und wie der Graf glücklich gewesen;(94) und als sie endlich auch höret, daß er ihr die Ehe versprochen, und daß Blanca auf die Erfüllung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange zurückgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhöhnet das leichtgläubige Mädchen auf das empfindlichste, und verbietet ihr schlechterdings, an den Grafen weiter zu denken. Blanca errät ohne Mühe, daß dieser Eifer der Königin, Eifersucht sein müsse: und gibt es ihr zu verstehen.
Die Königin. Eifersucht? – Nein; bloß deine Aufführung entrüstet mich. – Und gesetzt, – ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich, – Ich ihn liebte, und eine andere wäre so vermessen, so töricht, ihn neben mir zu lieben, – was sage ich, zu lieben? – ihn nur anzusehen, – was sage ich, anzusehen? – sich nur einen Gedanken von ihm in den Sinn kommen zu lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten? – Du siehest, wie sehr mich eine bloß vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun würde. Itzt stelle ich mich nur eifersüchtig: hüte dich, mich es wirklich zu machen!(95)
Mit dieser Drohung geht die Königin ab, und läßt Blanca in der äußersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, über die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königin hat ihr Vater und Bruder und Vermögen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war schon beschlossen; aber warum soll Blanca noch erst warten, bis sie ein anderer für sie vollzieht? Sie will sie selbst bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Königin, muß sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. – Sie sieht die Königin mit dem Kanzler wiederkommen, und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefaßt zu machen.
Der Kanzler hält verschiedne Briefschaften, die ihm die Königin nur auf einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die außerordentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichsgeschäften obliege; die Königin erkennt es für ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein, und setzt sich zu den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen, und anständigern Sorgen überlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Hände nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! »Muß es denn eben, sagt sie, von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkömmt!« Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine Liebe zur Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem Bruder des Todes Linderung suchen: und so fällt sie in Schlaf.
Indem tritt Blanca herein, und hat eine von den Pistolen des Grafen, die sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Königin allein und entschlafen: was für einen bequemern Augenblick könnte sie sich wünschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht, und sie in ihrem Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel errät man, was nun geschieht. Er kömmt also, sie hier zu suchen; und kömmt eben noch zurecht, der Blanca in den mörderischen Arm zu fallen, und ihr die Pistole, die sie auf die Königin schon gespannt hat, zu entreißen. Indem er aber mit ihr ringt, geht der Schuß los: die Königin erwacht, und alles kömmt aus dem Schlosse herzugelaufen.
Die Königin im Erwachen. Ha! Was ist das?
Der Kanzler. Herbei, herbei! Was war das für ein Knall, in dem Zimmer der Königin? Was geschieht hier?
Essex mit der Pistole in der Hand. Grausamer Zufall!
Die Königin. Was ist das, Graf?
Essex. Was soll ich tun?
Die Königin. Blanca, was ist das?
Blanca. Mein Tod ist gewiß!
Essex. In welcher Verwirrung befinde ich mich!
Der Kanzler. Wie? der Graf ein Verräter?
Essex bei Seite. Wozu soll ich mich entschließen? Schweige ich: so fällt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich der nichtswürdige Verkläger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner teuersten Blanca.
Die Königin. Sind Sie der Verräter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer von euch war mein Retter? wer mein Mörder? Mich dünkt, ich hörte im Schlafe euch beide rufen: Verräterin! Verräter! Und doch kann nur eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig, Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt? – Wohl, schweigt nur! Ich will in dieser Ungewißheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht dürfte es mich eben so sehr schmerzen, meinen Beschützer zu erfahren, als meinen Feind. Ich will der Blanca gern ihre Verräterei vergeben, ich will sie ihr verdanken: wenn dafür der Graf nur unschuldig war.(96)
Aber der Kanzler sagt: wenn es die Königin schon hierbei wolle bewenden lassen, so dürfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu groß; sein Amt erfodere, es zu ergründen; besonders da aller Anschein sich wider den Grafen erkläre.
Die Königin. Der Kanzler hat Recht; man muß es untersuchen. – Graf, –
Essex. Königin! –
Die Königin. Bekennen Sie die Wahrheit. – Bei Seite. Aber wie sehr fürchtet meine Liebe, sie zu hören! – War es Blanca?
Essex. Ich Unglücklicher!
Die Königin. War es Blanca, die meinen Tod wollte?
Essex. Nein, Königin; Blanca war es nicht.
Die Königin. Sie waren es also?
Essex. Schreckliches Schicksal! – Ich weiß nicht.
Die Königin. Sie wissen es nicht? – Und wie kömmt dieses mörderische Werkzeug in Ihre Hand? –
Der Graf schweigt, und die Königin befiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden abgeführt, und der zweite Aufzug schließt.
Sechs und sechzigstes Stück
Den 18ten Dezember, 1767
Der dritte Aufzug fängt sich mit einer langen Monologe der Königin an, die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu finden. Die Vielleicht werden nicht gespart, um ihn weder als ihren Mörder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu dürfen. Besonders geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit; sie denkt über diesen Punkt überhaupt lange so zärtlich und sittsam nicht, als wir es wohl wünschen möchten, und als sie auf unsern Theatern denken müßte.(97)
Es kommen der Herzog, und der Kanzler: jener, ihr seine Freude über die glückliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen Beweis, der sich wider den Essex äußert, vorzulegen. Auf der Pistole, die man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehört ihm; und wem sie gehört, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen.
Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewußten Briefe nach Schottland abgehen wollen, und ist angehalten worden. Seine Reise sieht einer Flucht sehr ähnlich, und eine solche Flucht läßt vermuten, daß er an dem Verbrechen seines Herrn Anteil könne gehabt haben. Er wird also vor den Kanzler gebracht, und die Königin befiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu verhören. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann man leicht erraten. Er weiß von nichts; und als er sagen soll, wo er hingewollt, läßt er sich um die Wahrheit nicht lange nötigen. Er zeigt den Brief, den ihm sein Graf, an einen andern Grafen nach Schottland zu überbringen befohlen: und man weiß, was dieser Brief enthält. Er wird gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hört, wohin es damit abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er über den Schluß desselben, worin der Überbringer ein Vertrauter heißt, durch den Roberto seine Antwort sicher bestellen könne. »Was höre ich? ruft Cosme. Ich ein Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein. – Habe ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich möchte doch wissen, was mein Herr an mir gefunden hätte, um mich dafür zu nehmen. Ich, ein Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiß, zum Exempel, daß Blanca und mein Herr einander lieben, und daß sie heimlich mit einander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdrücken wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie hübsch sehen, meine Herren, was für ein Vertrauter ich bin. Schade, daß es nicht etwas viel wichtigeres ist: ich würde es eben so wohl sagen.«(98) Diese Nachricht schmerzt die Königin nicht weniger, als die Überzeugung, zu der sie durch den unglücklichen Brief von der Verräterei des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu müssen, und der Königin nicht länger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufälliger Weise angehört habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verräters, und sobald die Königin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestät, als gekränkte Liebe, des Grafen Tod zu beschließen.
Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm, in das Gefängnis. Der Kanzler kömmt und eröffnet dem Grafen, daß ihn das Parlament für schuldig erkannt, und zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld.
Der Kanzler. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben; aber so viele Beweise wider Sie! – Haben Sie den Brief an den Roberto nicht geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhändiger Name?
Essex. Allerdings ist er es.
Der Kanzler. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdrücklich den Tod der Königin beschließen hören?
Essex. Was er gehört hat, hat er freilich gehört.
Der Kanzler. Sahe die Königin, als sie erwachte, nicht die Pistole in Ihrer Hand? Gehört die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht Ihnen?
Essex. Ich kann es nicht leugnen.
Der Kanzler. So sind Sie ja schuldig.
Essex. Das leugne ich.
Der Kanzler. Nun, wie kamen Sie denn dazu, daß Sie den Brief an Roberto schrieben?
Essex. Ich weiß nicht.
Der Kanzler. Wie kam es denn, daß der Herzog den verräterischen Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen mußte?
Essex. Weil es der Himmel so wollte.
Der Kanzler. Wie kam es denn, daß sich das mörderische Werkzeug in Ihren Händen fand?
Essex. Weil ich viel Unglück habe.
Der Kanzler. Wenn alles das Unglück, und nicht Schuld ist: wahrlich, Freund, so spielet Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen müssen.
Essex. Schlimm genug.(99)
»Wissen Ihro Gnaden nicht,« fragt Cosme, der dabei ist, »ob sie mich etwa mit hängen werden?« Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr hinlänglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu verstatten, daß er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen dürfe. Der Kanzler betauert, daß er, als Richter, ihm diese Bitte versagen müsse; weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich als möglich, geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er vielleicht sowohl unter den Großen, als unter dem Pöbel in Menge haben möchte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf wünschte bloß deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht mündlich tun dürfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein Leben für sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf der Zunge führen, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er sie beschwören, es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca einzuhändigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen.
Sieben und sechzigstes Stück
Den 22sten Dezember, 1767
Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet hätte. Alles ist ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefängnis hereintritt. Es ist die Königin. »Der Graf,« sagt sie vor sich im Hereintreten, »hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafür verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genüge geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!«(100) Indem sie näher kömmt, wird sie gewahr, daß der Graf schreibt. »Ohne Zweifel.« sagt sie, »an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der feurigsten, uneigennützigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht! – Graf!« – Der Graf hört sich rufen, sieht hinter sich, springt voller Erstaunen auf. »Was seh ich!« – »Keinen Traum«, fährt die Königin fort, »sondern die Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu überzeugen, und lassen Sie uns kostbare Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren. – Sie erinnern sich doch meiner? Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich höre, daß Sie morgen sterben sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben für Leben zu geben. Ich habe den Schlüssel des Gefängnisses zu bekommen gewußt. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die Pforte in den Park eröffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir so teuer ist.« –
Essex. Teuer? Ihnen, Madame?
Die Königin. Würde ich sonst so viel gewagt haben, als ich wage?
Essex. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glück selbst unglücklich zu machen. Ich scheine glücklich, weil die mich zu befreien kömmt, die meinen Tod will; aber ich bin um so viel unglücklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freiheit mir anbietet. –(101)
Die Königin verstehet hieraus genugsam, daß sie Essex kennet. Er verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gänzlich; aber er bittet, sie mit einer andern zu vertauschen.
Die Königin. Und mit welcher?
Essex. Mit der, Madame, von der ich weiß, daß sie in Ihrem Vermögen steht, – mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Königin sehen zu lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich für Sie getan habe. Bei dem Leben, das ich Ihnen gerettet, beschwöre ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu erzeigen.
Die Königin vor sich. Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich sieht, daß er sich rechtfertiget! Das wünsche ich ja nur.
Essex. Verzögern Sie mein Glück nicht, Madame.
Die Königin. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erst diesen Schlüssel; von ihm hängt Ihr Leben ab. Was ich itzt für Sie tun darf, könnte ich hernach vielleicht nicht dürfen. Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.(102)
Essex indem er den Schlüssel nimmt. Ich erkenne diese Vorsicht mit Dank. – Und nun, Madame, – ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte der Königin, oder dem Ihrigen zu lesen.
Die Königin. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehört doch nur das, welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken, Indem sie die Maske abnimmt. ist der Königin. Jenes, mit welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr.
Essex. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des königlichen Antlitzes, daß es jeden Schuldigen begnadigen muß, der es erblickt; und auch mir müßte diese Wohltat des Gesetzes zu Statten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht nehmen. Ich will es wagen, meine Königin an die Dienste zu erinnern, die ich ihr und dem Staate geleistet –(103)
Die Königin. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr Verbrechen, Graf, ist größer als Ihre Dienste.
Essex. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Königin zu versprechen?
Die Königin. Nichts.
Essex. Wenn die Königin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl gütiger mit mir verfahren?
Die Königin. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat Ihnen den Weg geöffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.
Essex. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir Ihr Leben schuldig ist?
Die Königin. Sie haben schon gehört, daß ich diese Dame nicht bin. Aber gesetzt ich wäre es: gebe ich Ihnen nicht eben so viel wieder, als ich von Ihnen empfangen habe?
Essex. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, daß Sie mir den Schlüssel gegeben?
Die Königin. Dadurch allerdings.
Essex. Der Weg, den mir dieser Schlüssel eröffnen kann, ist weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll, muß nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt die Königin, mich mit diesem Schlüssel, für die Reiche, die ich ihr erfochten, für das Blut, das ich um sie vergossen, für das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schlüssel für alles das abzulohnen?(104) Ich will mein Leben einem anständigern Mittel zu danken haben, oder sterben. Indem er nach dem Fenster geht.
Die Königin. Wo gehen Sie hin?
Essex. Nichtswürdiges Werkzeug meines Lebens, und meiner Entehrung! Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! Er eröffnet das Fenster, und wirft den Schlüssel durch das Gitter in den Kanal. Durch die Flucht, wäre mein Leben viel zu teuer erkauft.(105)
Die Königin. Was haben Sie getan, Graf? – Sie haben sehr übel getan.
Essex. Wann ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, daß ich eine undankbare Königin hinterlasse. – Will sie aber diesen Vorwurf nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses unanständigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf meine Dienste: es steht bei ihr sie zu belohnen, oder mit dem Andenken derselben ihren Undank zu verewigen.
Die Königin. Ich muß das letztere Gefahr laufen. – Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachteil meiner Würde, für Sie nicht tun.
Essex. So muß ich dann sterben?
Die Königin. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Königin muß dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen müssen Sie sterben; und es ist schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir das Herz; aber es ist nun einmal das Schicksal der Könige, daß sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln können, als andere. – Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!
Acht und sechzigstes Stück
Den 25sten Dezember, 1767
Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der Stille: und beide, der Graf und die Königin, gehen ab; jedes von einer besondern Seite. Im Herausgehen, muß man sich einbilden, hat Essex Cosmen den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick darauf kömmt dieser damit herein, und sagt, daß man seinen Herrn zum Tode führe; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es versprochen, übergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine Neugierde »Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung? die käme ein wenig zu spät. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch wohl nicht. Nun was denn?« Er wird immer begieriger; zugleich fällt ihm ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet hätte, daß er nicht gewußt, was in dem Briefe seines Herrn stünde. »Wäre ich nicht, sagt er, bei einem Haare zum Vertrauten darüber geworden? Hohl der Geier die Vertrautschaft! Nein, das muß mir nicht wieder begegnen!« Kurz, Cosme beschließt, den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natürlich, daß ihn der Inhalt äußerst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige und gefährliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu können; er zittert über den bloßen Gedanken, daß man es in seinen Händen finden könne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der Königin zu bringen.
Eben kömmt die Königin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler nur erst abfertigen lassen; und tritt bei Seite. Die Königin erteilt dem Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich, und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon erfahren, bis der geköpfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und Gehorsam zurufe.(106) Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen, und, nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die Großen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern, und ihnen einzuschärfen, daß ihre Königin eben so strenge zu sein wisse, als sie gnädig sein zu können wünsche: und das alles, wie sie der Dichter sagen läßt, nach Gebrauch und Sitte des Landes.(107)
Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Königin an. »Diesen Brief, sagte er, hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode der Blanca einzuhändigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiß selbst nicht warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestät wissen müssen, und die dem Grafen vielleicht noch zu Statten kommen können: so bringe ich ihn Ihro Majestät, und nicht der Blanca.« Die Königin nimmt den Brief, und lieset: »Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir nicht vergönnen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verräter gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der bewußten Sache behülflich zu sein, bloß um der Königin desto nachdrücklicher zu dienen, und den Roberto, nebst seinen Anhängern, nach London zu locken. Urteile, wie groß meine Liebe ist, da ich dem ohngeachtet eher selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung: stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich nun nicht mehr; und es möchte sich nicht alle Tage einer finden, der dich so sehr liebte, daß er den Tod des Verräters für dich sterben wollte.«(108) –
Mensch! ruft die bestürzte Königin, was hast du mir da gebracht? Nun? sagt Cosme, bin ich noch ein Vertrauter? – »Eile, fliehe, deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten! – Holla, Wache! bringt ihn augenblicklich vor mich, – den Grafen, – geschwind!« – Und eben wird er gebracht: sein Leichnam nämlich. So groß die Freude war, welche die Königin auf einmal überströmte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so groß sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und Blanca mag zittern! –
So schließt sich dieses Stück, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wüßte kein einziges, welches man uns übersetzt, oder auch nur Auszugsweise mitgeteilet hätte. Denn die Virginia des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch geschrieben; aber kein spanisches Stück: ein bloßer Versuch in der korrekten Manier der Franzosen, regelmäßig aber frostig. Ich bekenne sehr gern, daß ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehedem muß gedacht haben.(109) Wenn das zweite Stück des nämlichen Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation, welche eben diesen Weg betreten wollen, ihn nicht glücklicher betreten haben: so mögen sie mir es nicht übel nehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen.
Die echten spanischen Stücke sind vollkommen nach der Art dieses Essex. In allen einerlei Fehler, und einerlei Schönheiten: mehr oder weniger; das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den Schönheiten dürfte man mich fragen. – Eine ganz eigne Fabel; eine sehr sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Würde und Stärke im Ausdrucke. –
Das sind allerdings Schönheiten: ich sage nicht, daß es die höchsten sind; ich leugne nicht, daß sie zum Teil sehr leicht bis in das Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatürliche, können getrieben werden, daß sie bei den Spaniern von dieser Übertreibung selten frei sind. Aber man nehme den meisten französischen Stücken ihre mechanische Regelmäßigkeit: und sage mir, ob ihnen andere, als Schönheiten solcher Art, übrig bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung, und Theaterstreiche und Situationen?
Anständigkeit: wird man sagen. – Nun ja; Anständigkeit. Alle ihre Verwicklungen sind anständiger, und einförmiger; alle ihre Theaterstreiche anständiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen anständiger, und gezwungner. Das kömmt von der Anständigkeit!
Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der pöbelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so berüchtiget ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloß mit der Anständigkeit stritte, – man versteht schon, welche Anständigkeit ich meine; – wenn sie weiter keinen Fehler hätte, als daß sie die Ehrfurcht beleidigte, welche die Großen verlangen, daß sie der Lebensart, der Etiquette, dem Zeremoniell, und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die man den größern Teil der Menschen bereden will, daß es einen kleinern gäbe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so würde mir die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiß, willkommner sein, als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heißen, unfehlbar einschläfert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier in Betrachtung.
Neun und sechzigstes Stück
Den 29sten Dezember, 1767
Lope de Vega, ob er schon als der Schöpfer des spanischen Theaters betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einführte. Das Volk war bereits so daran gewöhnt, daß er ihn wider Willen mit anstimmen mußte. In seinem Lehrgedichte, über die Kunst, neue Komödien zu machen, dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darüber. Da er sahe, daß es nicht möglich sei, nach den Regeln und Mustern der Alten für seine Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so müsse er doch seine Grundsätze haben; und es sei besser, auch nur nach diesen mit einer beständigen Gleichförmigkeit zu handeln, als nach gar keinen. Stücke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, können doch noch immer Regeln beobachten, und müssen dergleichen beobachten, wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem bloßen Nationalgeschmacke hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des Ernsthaften und Lächerlichen die erste.
»Auch Könige, sagt er, könnet ihr in euern Komödien auftreten lassen. Ich höre zwar, daß unser weiser Monarch (Philipp der zweite) dieses nicht gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, daß es wider die Regeln laufe, oder weil er es der Würde eines Königes zuwider glaubte, so mit unter den Pöbel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, daß dieses wieder zur ältesten Komödie zurückkehren heißt, die selbst Götter einführte; wie unter andern in dem Amphitruo des Plautus zu sehen: und ich weiß gar wohl, daß Plutarch, wenn er von Menandern redet, die älteste Komödie nicht sehr lobt. Es fällt mir also freilich schwer, unsere Mode zu billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst entfernen: so müssen die Gelehrten schon auch hierüber schweigen. Es ist wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefällt nun einmal; man will nun einmal keine andere Stücke sehen, als die halb ernsthaft und halb lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der sie einen Teil ihrer Schönheit entlehnet.«(110) Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anführe. Ist es wahr, daß uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloß die Fehler seiner Bühne beschöniget; er hat eigentlich erwiesen, daß wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung der Natur ist.
»Man tadelt,« sagt einer von unsern neuesten Skribenten, »an Shakespeare, – demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Könige bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jak Fallstaff, am besten gekannt, und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat, – daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmäßigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; daß komisches und tragisches darin auf die seltsamste Art durch einander geworfen ist, und oft eben dieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache der Natur, Tränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgend einen seltsamen Einfall oder barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkühlt, daß es ihm hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben möchte. – Man tadelt das, und denkt nicht daran, daß seine Stücke eben darin natürliche Abbildungen des menschlichen Lebens sind.
Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen dürfen) der Lebenslauf der großen Staatskörper selbst, in so fern wir sie als eben so viel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und Staats-Aktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, daß man beinahe auf die Gedanken kommen möchte, die Erfinder dieser letztern wären klüger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern sie nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben lächezlich zu machen, wenigstens die Natur eben so getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein ließen, sie zu verschönern. Um itzt nichts von der zufälligen Ähnlichkeit zu sagen, daß in diesen Stücken, so wie im Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten Acteurs gespielt werden, – was kann ähnlicher sein, als es beide Arten der Haupt- und Staats-Aktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen. Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft überraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten, ohne daß sich begreifen läßt, warum sie kamen, oder warum sie wieder verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall überlassen? Wie oft sehen wir die größesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gravität behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so kläglich verworren und durch einander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfängt: wie glücklich sehen wir durch irgend einen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott, oder durch einen frischen Degenhieb, den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöset, aber doch aufgeschnitten, welches in so fern auf eines hinauslauft, daß auf die eine oder die andere Art das Stück ein Ende hat, und die Zuschauer klatschen oder zischen können, wie sie wollen oder – dürfen. Übrigens weiß man, was für eine wichtige Person in den komischen Tragödien, wovon wir reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt des deutschen Reiches erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, daß er seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wie viel große Aufzüge auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit Hanswurst, – oder, welches noch ein wenig ärger ist, durch Hanswurst, – aufführen gesehen? Wie oft haben die größesten Männer, dazu geboren, die schützenden Genii eines Throns, die Wohltäter ganzer Völker und Zeitalter zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen schnakischen Streich von Hanswurst, oder solchen Leuten vereitelt sehen müssen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen, doch gewiß seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in beiden Arten der Tragi-Komödien die Verwicklung selbst lediglich daher, daß Hanswurst durch irgend ein dummes und schelmisches Stückchen von seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh sie sichs versehen können, ihr Spiel verderbt?« –
Wenn in dieser Vergleichung des großen und kleinen, des ursprünglichen und nachgebildeten, heroischen Possenspiels – (die ich mit Vergnügen aus einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten unsers Jahrhunderts gehört, aber für das deutsche Publikum noch viel zu früh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England würde es das äußerste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers würde auf aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere Großen lernen vors erste an den *** kauen; und freilich ist der Saft aus einem französischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiß schärfer und ihr Magen stärker geworden, wenn sie indes Deutsch gelernt haben, so kommen sie auch wohl einmal über den – Agathon.(111) Dieses ist das Werk von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich es bewundere: da ich mit der äußersten Befremdung wahrnehme, welches tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darüber beobachten, oder in welchem kalten und gleichgültigen Tone sie davon sprechen. Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, daß es einige Leser mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die es darüber verlieren möchte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.)
Siebzigstes Stück
Den 1sten Januar, 1768
Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satyrische Laune nicht zu sehr vorstäche: so würde man sie für die beste Schutzschrift des komisch tragischen, oder tragisch komischen Drama, (Mischspiel habe ich es einmal auf irgend einem Titel genannt gefunden) für die geflissendlichste Ausführung des Gedankens beim Lope halten dürfen. Aber zugleich würde sie auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie würde zeigen, daß eben das Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, eben so gut jedes dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschenverstand hat, rechtfertigen könne. Die Nachahmung der Natur müßte folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhören; wenigstens keine höhere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, daß er nicht natürlich scheinen könnte; bloß und allein der scheinet es nicht, bei welchem sich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaß und Verhältnis, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der künstlichste in diesem Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste.
Als Kriticus dürfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so sinnreich aufstützen zu wollen scheinet, würde er ohne Zweifel als eine Mißgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die ersten Versuche der unter ungeschlachteten Völkern wieder auflebenden Kunst vorstellen, an deren Form irgend ein Zusammenfluß gewisser äußerlichen Ursachen, oder das Ohngefähr, den meisten, Vernunft und Überlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte. Er würde schwerlich sagen, daß die ersten Erfinder des Mischspiels (da das Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) »die Natur eben so getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie zu verschönern.«
Die Worte getreu und verschönert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Mißdeutungen unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche man zu getreu nachahmen könne; selbst was uns in der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es gibt andere, welche die Verschönerung der Natur für eine Grille halten; eine Natur, die schöner sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur. Beide erklären sich für Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also müßte notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Mühe haben würden, an den Meisterstücken der Alten Geschmack zu finden.
Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so große Bewunderer sie auch von der gemeinsten und alltäglichsten Natur sind, sich dennoch wider die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklärten? Wann diese, so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schöner sein will, als die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten Anstoß von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen Widerspruch erklären?
Wir würden notwendig zurückkommen, und das, was wir von beiden Gattungen erst behauptet, widerrufen müssen. Aber wie müßten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen Haupt- und Staats-Aktion, über deren Güte wir streiten, mit dem menschlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig!
Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gründlich genug sind, doch gründlichere veranlassen können. – Der Hauptgedanke ist dieser: es ist wahr, und auch nicht wahr, daß die komische Tragödie, gotischer Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Hälfte getreu nach, und vernachlässiget die andere Hälfte gänzlich; sie ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer Empfindungen und Seelenkräfte dabei zu achten.
In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannichfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern, und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können.
Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten.
Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande, oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.
Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange läuft quer ein: so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Wir abstrahieren von ihr; und es muß uns notwendig ekeln, in der Kunst das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünschten.
Nur wenn eben dieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen des Interesse annimmt, und eine nicht bloß auf die andere folgt, sondern so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, daß uns die Abstraktion des einen oder des andern unmöglich fällt: nur alsdenn verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiß aus dieser Unmöglichkeit selbst Vorteil zu ziehen. –
Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will. –
Den fünf und vierzigsten Abend (Freitags, den 17ten Julius,) wurden die Brüder des Hrn. Romanus, und das Orakel vom Saint-Foix gespielt.
Das erstere Stück kann für ein deutsches Original gelten, ob es schon, größten Teils, aus den Brüdern des Terenz genommen ist. Man hat gesagt, daß auch Moliere aus dieser Quelle geschöpft habe; und zwar seine Männerschule. Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen über dieses Vorgeben: und ich führe Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er hätte sagen sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere; (wo dieses Sprüchelchen steht, will mir nicht gleich beifallen) und ich wüßte keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen könnte, ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire; aber daher auch keinen, der uns die zweite zu ersteigen, weniger behülflich sein könnte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan mehr mutwillig als gründlich scheinen wollte: der soll wissen, daß selbst der gründliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat. Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere, et casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum opinionibus, u.s.w. O des Pedanten! würde der Herr von Voltaire rufen. – Ich bin es bloß aus Mißtrauen in mich selbst.
»Die Brüder des Terenz, sagt der Herr von Voltaire, können höchstens die Idee zu der Männerschule gegeben haben. In den Brüdern sind zwei Alte von verschiedner Gemütsart, die ihre Söhne ganz verschieden erziehen; eben so sind in der Männerschule zwei Vormünder, ein sehr strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Ähnlichkeit. In den Brüdern ist fast ganz und gar keine Intrigue: die Intrigue in der Männerschule hingegen ist fein, und unterhaltend und komisch. Eine von den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle spielen müßte, erscheinet bloß auf dem Theater, um nieder zu kommen. Die Isabelle des Moliere ist fast immer auf der Szene, und zeigt sich immer witzig und reizend, und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung in den Brüdern ist ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, daß ein Alter, der sechzig Jahre ärgerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und höflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der Männerschule aber, ist die beste von allen Entwicklungen des Moliere; wahrscheinlich, natürlich, aus der Intrigue selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht das schlechteste daran ist, äußerst komisch.«
Ein und siebzigstes Stück
Den 5ten Januar, 1768
Es scheinet nicht, daß der Herr von Voltaire, seit dem er aus der Klasse bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur noch so was davon im Gedächtnisse; und das schreibt er auf gut Glück so hin, unbekümmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht aufmutzen, was er von der Pamphila des Stücks sagt, »daß sie bloß auf dem Theater erscheine, um nieder zu kommen.« Sie erscheinet gar nicht auf dem Theater; sie kömmt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloß ihre Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle spielen müßte, das läßt sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und Römern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes Mädchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen, und Gefahr läuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr ungeschickt. –
Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der mürrische strenge Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus u.s.w. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche nur glauben dürfen, daß Donatus den Terenz fleißiger gelesen und besser verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stücke die Rede; es ist noch da; man lese selbst.
Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen zu besänftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines Ärgernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber morgen, bei früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo er es heute gelassen hat; die Sängerin, die diesem der Vetter gekauft, will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen, sie soll kochen und backen. In der darauf folgenden vierten Szene des fünften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte nur so obenhin nimmt, als ob er völlig von seiner alten Denkungsart abgehen, und nach den Grundsätzen des Micio zu handeln anfangen wolle.(112) Doch die Folge zeigt es, daß man alles das nur von dem heutigen Zwange, den er sich antun soll, verstehen muß. Denn auch diesen Zwang weiß er hernach so zu nutzen, daß er zu der förmlichsten hämischsten Verspottung seines gefälligen Bruders ausschlägt. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwürfe; er wird nicht freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er Verschwenden nennt, lächerlich zu machen. Dieses erhellet unwidersprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den Anschein betriegen läßt, und ihn wirklich verändert glaubt.(113) Hic ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores, quam mutavisse.
Ich will aber nicht hoffen, daß der Herr von Voltaire meinet, selbst diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts als geschmählt und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere mehr Gelassenheit und Kälte, als man dem Demea zutrauen dürfe. Auch hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet, bei dem geringsten Übergange so feine Schattierungen in Acht genommen, daß man nicht aufhören kann, ihn zu bewundern.
Nur ist öfters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe sehr nötig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen Künstler, und in dem Übrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschäfte ein sehr ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre Stücke überhaupt nicht eher bekannt werden ließen, als bis sie gespielt waren, als bis man sie gesehen und gehört hatte: so konnten sie es um so mehr überhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermaßen mit unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber einbildet, daß die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen, in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebärde, jede Miene, jede besondere Abänderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzählige Stellen vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene ausdrücken muß.
Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesänderung des Demea vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anführen will, weil auf ihnen gewissermaßen die Mißdeutung beruhet, die ich bestreite. – Demea weiß nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, daß es sein ehrbarer frommer Sohn ist, für den die Sängerin entführet worden, und stürzt mit dem unbändigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und der Erde und dem Meere; und eben bekömmt er den Micio zu Gesicht.
Demea. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt – meine Söhne, mir sie beide zu Grunde richtet! –
Micio. O so mäßige dich, und komm wieder zu dir!
Demea. Gut, ich mäßige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes Wort entfahren. Laß uns bloß bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte, daß sich ein jeder nur um den seinen bekümmern sollte? Antworte.(114)
u.s.w.
Wer sich hier nur an die Worte hält, und kein so richtiger Beobachter ist, als es der Dichter war, kann leicht glauben, daß Demea viel zu geschwind austobe, viel zu geschwind diesen gelassenern Ton anstimme. Nach einiger Überlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, daß jeder Affekt, wenn er aufs äußerste gekommen, notwendig wieder sinken müsse; daß Demea, auf den Verweis seines Bruders, sich des ungestümen Jachzorns nicht anders als schämen könne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, paulo citius destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der Zornige ganz offenbar Recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, daß sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Überzeugung zu demütigen. Doch da er über die Wallungen seines kochenden Geblüts nicht so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der überführen will, doch noch immer Zorn bleibt: so macht Donatus die zweite Anmerkung; non quid dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagt zwar, ich mäßige mich, ich bin wieder bei mir: aber Gesicht und Gebärde und Stimme verraten genugsam, daß er sich noch nicht gemäßiget hat, daß er noch nicht wieder bei sich ist. Er bestürmt den Micio mit einer Frage über die andere, und Micio hat alle seine Kälte und gute Laune nötig, um nur zum Worte zu kommen.
Zwei und siebzigstes Stück
Den 8ten Januar, 1768
Als er endlich dazu kömmt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im geringsten nicht überzeugt. Aller Vorwand, über die Lebensart seiner Kinder, unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch fängt er wieder von vorne an, zu nerrgeln. Micio muß auch nur abbrechen, und sich begnügen, daß ihm die mürrische Laune, die er nicht ändern kann, wenigstens auf heute Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen läßt, sind meisterhaft.(115)
Demea. Nun gib nur Acht, Micio, wie wir mit diesen schönen Grundsätzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht, am Ende fahren werden.
Micio. Schweig doch! Besser, als du glaubest. – Und nun genug davon! Heute schenke dich mir. Komm, kläre dich auf.
Demea. Mags doch nur heute sein! Was ich muß, das muß ich. – Aber morgen, sobald es Tag wird, geh ich wieder aufs Dorf, und der Bursche geht mit. –
Micio. Lieber, noch ehe es Tag wird; dächte ich. Sei nur heute lustig!
Demea. Auch das Mensch von einer Sängerin muß mit heraus.
Micio. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiß nicht weg wünschen. Nur halte sie auch gut.
Demea. Da laß mich vor sorgen! Sie soll, in der Mühle und vor dem Ofenloche, Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu soll sie mir am heißen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so schwarz geworden, als ein Löschbrand.
Micio. Das gefällt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege! – Und alsdenn, wenn ich wie du wäre, müßte mir der Sohn bei ihr schlafen, er möchte wollen oder nicht.
Demea. Lachst du mich aus? – Bei so einer Gemütsart, freilich, kannst du wohl glücklich sein. Ich fühl es, leider –
Micio. Du fängst doch wieder an?
Demea. Nu, nu; ich höre ja auch schon wieder auf.
Bei dem »Lachst du mich aus?« des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus Ego Sentio, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller Ernst es war, daß er die Sängerin, nicht als Sängerin, sondern als eine gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muß über den Einfall des Micio lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: Lachst du mich aus? und muß sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeißen. Er verbeißt es auch bald, denn das »Ich fühl es leider« sagt er wieder in einem ärgerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch ist: so große Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann. Je seltner ihm diese wohltätige Erschütterung ist, desto länger hält sie innerlich an; nachdem er längst alle Spur derselben auf seinem Gesichte vertilgt, dauert sie noch fort, ohne daß er es selbst weiß, und hat auf sein nächstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluß. –
Aber wer hätte wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht? Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken. Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns gekommen, verdient daher nicht bloß wegen der Sprache studiert zu werden. Nur muß man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Daß aber dieser Donatus (Aelius) so vorzüglich reich an Bemerkungen ist, die unsern Geschmack bilden können, daß er die verstecktesten Schönheiten seines Autors mehr als irgend ein anderer zu enthüllen weiß: das kömmt vielleicht weniger von seinen größern Gaben, als von der Beschaffenheit seines Autors selbst. Das römische Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht gänzlich verfallen; die Stücke des Terenz wurden noch gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Überlieferungen gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des römischen Geschmacks herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hörte; er brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu machen, daß ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst schwerlich dürfte ausgegrübelt haben. Ich wüßte daher auch kein Werk, aus welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen könnte, als diesen Kommentar des Donatus über den Terenz: und bis das Latein unter unsern Schauspielern üblicher wird, wünschte ich sehr, daß man ihnen eine gute Übersetzung davon in die Hände geben wollte. Es versteht sich, daß der Dichter dabei sein, und aus dem Kommentar alles wegbleiben müßte, was die bloße Worterklärung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Übersetzung des Textes ist wäßrig und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr gänzlich;(116) und Donatus ist auch nicht weiter gebraucht, als ihn die Dacier zu brauchen für gut befunden. Es wäre also keine getane Arbeit, was ich vorschlage; aber wer soll sie tun? Die nichts bessers tun könnten, können auch dieses nicht: und die etwas bessers tun könnten, werden sich bedanken.
Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen – Es ist doch sonderbar, daß auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, daß am Ende mit dem Charakter des Demea eine gänzliche Veränderung vorgehe; wenigstens läßt er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. »Je Kinder, läßt er ihn rufen, schweigt doch! Ihr überhäuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn, Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloß weil ich einmal ein bißchen freundlich aussehe. Bin ichs denn, oder bin ichs nicht? Ich werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch hübsch, wenn man geliebt wird. Ich will auch gewiß so bleiben. Ich wüßte nicht, wenn ich so eine vergnügte Stunde gehabt hätte.« Und Frontin sagt: »Nun unser Alter stirbt gewiß bald.(117) Die Veränderung ist gar zu plötzlich.« Ja wohl; aber das Sprüchwort, und der gemeine Glaube, von den unvermuteten Veränderungen, die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier etwas rechtfertigen?
Drei und siebzigstes Stück
Den 12ten Januar, 1768
Die Schlußrede des Demea bei dem Terenz, geht aus einem ganz andern Tone. »Wenn euch nur das gefällt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekümmern!« Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise künftig zu bequemen versprechen. – Aber wie kömmt es, dürfte man fragen, daß die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen Brüdern, bei der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der beständige Rückfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie komisch; aber bei diesem hätte es auch bleiben müssen. – Ich verspare das Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stücks.
Das Orakel vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluß machte, ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt.
Den sechs und vierzigsten Abend (Montags, den 20sten Julius,) ward Miß Sara,(118) und den sieben und vierzigsten, Tages darauf, Nanine(119) wiederholt. Auf die Nanine folgte, der unvermutete Ausgang, vom Marivaux, in einem Akte.
Oder, wie es wörtlicher und besser heißen würde: die unvermutete Entwicklung. Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich Anfangs gewissen Einwendungen vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen Behandlung, vorher sieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, daß es fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen möchte sie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser kömmt; aber zum Glücke ist es ein so schöner liebenswürdiger Mann, daß sie gar bald ihre Verstellung vergißt, und in aller Geschwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stücke einen andern Titel, und alle Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Szenen so mühsam geschürzt hat, in einer einzigen nicht zu lösen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in dem Titel selbst angekündiget, und durch diese Ankündigung gewissermaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden können? Er sahe ja in der Wirklichkeit einer Komödie so ähnlich: und sollte er denn eben deswegen um so unschicklicher zur Komödie sein? – Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht sehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.
Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völlig. Der Ausgang ist, daß Jungfer Argante den Erast und nicht den Dorante heiratet, und dieser ist hinlänglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterläunisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat, als ihn; manchmal liebt sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es kömmt; hat sie ihn lange nicht gesehen, so kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stoßen ihr dann und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz von ihm abzubringen, als daß Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein solches Gesicht ist? Daß sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet, daß es vielmehr sehr unerwartet sein würde, wenn sie bei jenem bliebe. Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu bekümmern, in der er einen Teil seiner Personen läßt. Und so ist es hier: Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt sich ihm.
Den acht und vierzigsten Abend (Mittewochs, den 22sten Julius,) ward das Trauerspiel des Herrn Weiß, Richard der Dritte, aufgeführt: zum Beschlusse, Herzog Michel.
Dieses Stück ist ohnstreitig eines von unsern beträchtlichsten Originalen; reich an großen Schönheiten, die genugsam zeigen, daß die Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht über die Kräfte des Dichters gewesen wäre, wenn er sich diese Kräfte nur selbst hätte zutrauen wollen.
Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne gebracht; aber Herr Weiß erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. »Sollte ich also, sagt er, bei der Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden, daß ich kein Plagium begangen habe; – aber vielleicht wäre es ein Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen.«
Vorausgesetzt, daß man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeare! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!
Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektieret; aber er borge nichts daraus.
Ich wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakespeares keine einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weiß so hätte brauchen können, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den großen Maßen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks, ungefähr wie ein weitläuftiges Frescogemälde gegen ein Migniaturbildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausführen muß? Eben so würden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.
Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verraten den Meister nicht, und wissen, daß ein Goldkorn so künstlich kann getrieben sein, daß der Wert der Form den Wert der Materie bei weitem übersteiget.
Ich für mein Teil betauere es also wirklich, daß unserm Dichter Shakespeares Richard so spät beigefallen. Er hätte ihn können gekannt haben, und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte.
Wäre mir indes eben das begegnet, so würde ich Shakespeares Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen, nicht vermögend gewesen wäre. – Aber woher weiß ich, daß Herr Weiß dieses nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben?
Kann es nicht eben so wohl sein, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr Recht hat, als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht, und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über sein Werk urteilet; schal oder gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, hämischste Urteil, ist ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was fängt er mit dieser an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so etwas außerordentliches halten: und doch muß er die Achseln über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel, als ein unverdientes Lob, auf sich sitzen lassen. –
Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will. – Wenigstens nicht bei dem Verfasser, – höchstens nur bei einem oder dem andern Mitsprecher. Ich weiß nicht, wo ich es jüngst gedruckt lesen mußte, daß ich die Amalia meines Freundes auf Unkosten seiner übrigen Lustspiele gelobt hätte.(120) – Auf Unkosten? aber doch wenigstens der frühern? Ich gönne es Ihnen, mein Herr, daß man niemals Ihre ältern Werke so möge tadeln können. Der Himmel bewahre Sie vor dem tückischen Lobe: daß Ihr letztes immer Ihr bestes ist! –
Vier und siebzigstes Stück
Den 15ten Januar 1768
Zur Sache. – Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worüber ich mir die Erklärung des Dichters wünschte.
Aristoteles würde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.
Die Tragödie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann, noch ein völliger Bösewicht sein müsse. Denn weder mit des einen noch mit des andern Unglücke, lasse sich jener Zweck erreichen.
Räume ich dieses ein: so ist Richard der Dritte eine Tragödie, die ihres Zweckes verfehlt. Räume ich es nicht ein: so weiß ich gar nicht mehr, was eine Tragödie ist.
Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weiß geschildert hat, ist unstreitig das größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen. Ich sage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.
Was für Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenständen unsers Mitleids gemacht hat.
Aber Schrecken? – Sollte dieser Bösewicht, der die Kluft, die sich zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet, mit den Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt hätten sein müssen; sollte dieser blutdürstige, seines Blutdurstes sich rühmende, über seine Verbrechen sich kitzelnde Teufel, nicht Schrecken in vollem Maße erwecken?
Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen über unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen über Bosheiten, die unsern Begriff übersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns bei Erblickung vorsetzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, überfällt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Teil empfinden lassen.
Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgend ein großes Verbrechen begehen mußten. Sie schoben öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der gräßlichen Idee wollten verweilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis fähig sei.
Bei den Franzosen führt Crebillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich fürchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragödie nicht sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragödie rechnet.
Und dieses – hätte man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht, Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzliche, überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Überraschende, welches die Idee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen sich hier die Einführung des Wortes Schrecken, anstatt des Wortes Furcht, herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht Aristoteles meine. – Ich möchte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.
»Das Mitleid, sagt Aristoteles, verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsers gleichen. Der Bösewicht ist weder dieses, noch jenes: folglich kann auch sein Unglück, weder das erste noch das andere erregen.«(121)
Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Übersetzer Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hülfe dieses Worttausches, dem Philosophen die seltsamsten Händel von der Welt zu machen.
»Man hat sich, sagt einer aus der Menge,(122) über die Erklärung des Schreckens nicht vereinigen können; und in der Tat enthält sie in jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert, und sie allzusehr einschränkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz ›unsers gleichen,‹ nur bloß die Ähnlichkeit der Menschheit verstanden hat, weil nämlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind, gesetzt auch, daß sich unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ihrem Range ein unendlicher Abstand befände: so war dieser Zusatz überflüssig; denn er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, daß nur tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich hätten, Schrecken erregen könnten: so hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Gefühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüttert sich, vermöge dieses Gefühls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl möglich, daß irgend jemand einfallen könnte, dieses von sich zu leugnen: allein dieses würde allemal eine Verleugnung seiner natürlichen Empfindungen, und also eine bloße Prahlerei aus verderbten Grundsätzen, und kein Einwurf sein. – Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall zustößt, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte, und sehen bloß den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes überhaupt, macht uns traurig, und die plötzliche traurige Empfindung, die wir sodann haben, ist das Schrecken.«
Ganz recht; aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglück unsers gleichen setzen könne. Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorstehet, ist ein mitleidiges Schrecken, und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles würde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modifikation des Mitleids verstünde.
»Das Mitleid,« sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen,(123) »ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man ändre nur in dem betauerten Unglück die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Unglück für geschehen, und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig, und überfällt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Ödip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichten Othello so drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können? – Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der größte Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Für wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiß nicht für sich, sondern für den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wünschet, und für die betrogne Königin, die ihn für den Mörder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern, Mitleiden nennen: so müssen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle übrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden.« –
Fünf und siebzigstes Stück
Den 19ten Januar, 1768
Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder hätte sie haben können und haben müssen. Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristoteles im Ganzen ungefähr empfunden haben: wenigstens ist es unleugbar, daß Aristoteles entweder muß geglaubt haben, die Tragödie könne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern, erwecken, welches ihm schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften überhaupt, die uns von einem andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.
Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.
Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden. Wer uns einen neuen Kommentar über seine Dichtkunst liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich läßt, dem rate ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschlüsse für die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermutet; besonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse müßten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wußten, längst gefunden haben. Doch die Dichtkunst war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht.
Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid beifüget, findet sich in dem fünften und achten Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik. Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, daß diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, hätten noch ein wichtiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache nämlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften, beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte: warum z. E. die Tragödie nicht eben so wohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden Statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde:(124) und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.
So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann.
Corneille hatte seine Stücke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, über die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren.(125) Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung würde er uns unstreitig vortreffliche Dinge über den alten dramatischen Kodex haben sagen können, wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißiger zu Rate gezogen hätte. Allein dieses scheinet er, höchstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst, getan zu haben. In den wesentlichern ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn verstoßen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen, und ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.
Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne gebracht, und sie als die vollkommensten untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden möge? »O, sagt er, mit dem Aristoteles können wir uns hier leicht vergleichen.(126) Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, nötig wären, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie macht: sondern nach seiner Meinung sei auch eines zureichend. – Wir können diese Erklärung, fährt er fort, aus ihm selbst bekräftigen, wenn wir die Gründe recht erwägen, welche er von der Ausschließung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerspielen mißbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragödie nicht, weil es bloß Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unerträglich, weil es bloß die Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, daß sie ihm deswegen nicht gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und daß er ihnen seinen Beifall nicht versagen würde, wenn sie nur eines von beiden wirkten.«
Sechs und siebzigstes Stück
Den 22sten Januar, 1768
Aber das ist grundfalsch! – Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen suchte, diese größte von allen übersehen können. Zwar, wie konnte er sie nicht übersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklärung vom Mitleid zu Rate zu ziehen? – Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man müßte glauben, daß er seine eigene Erklärungen vergessen können, man müßte glauben, daß er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen können. Wenn, nach seiner Lehre, kein Übel eines andern unser Mitleid erreget, was wir nicht für uns selbst fürchten: so konnte er mit keiner Handlung in der Tragödie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst für unmöglich; dergleichen Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten sie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragödie vorstellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst errege, auch unser Mitleid erwecken müsse, sobald wir andere damit bedrohet, oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tragödie, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern anderen begegnen sehen.
Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragödie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, daß sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch dieses weder noch verführen lassen. Diese disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren läßt. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so kömmt es darauf an, ob sich diese Dinge eben so wohl in der Natur von einander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und durch den symbolischen Ausdruck trennen können, wenn die Sache dem ohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z. E. von einem Frauenzimmer sagen, sie sei weder schön noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir würden zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden wäre; denn Witz und Schönheit lassen sich nicht bloß in Gedanken trennen, sondern sie sind wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen, dieser Mensch glaubt weder Himmel noch Hölle: wollen wir damit auch sagen, daß wir zufrieden sein würden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Himmel glaubte? Gewiß nicht: denn wer das eine glaubt, muß notwendig auch das andere glauben; Himmel und Hölle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen; wenn wir sagen, dieses Gemälde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir damit sagen, daß ein gutes Gemälde sich mit einem von beiden begnügen könne? – Das ist so klar!
Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Aristoteles von dem Mitleiden gibt, falsch wäre? Wie, wenn wir auch mit Übeln und Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir für uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben?
Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust über das physikalische Übel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unlust entstehet bloß aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen.
Jedoch auch so nach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig aufgeben zu müssen.
Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht für uns selbst, Mitleid für andere empfinden können: so ist es doch unstreitig, daß unser Mitleid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit lebhafter und stärker und anzüglicher wird, als es ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, daß die vermischte Empfindung über das physikalische Übel eines geliebten Gegenstandes, nur allein durch die dazu kommende Furcht für uns, zu dem Grade erwächst, in welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet?
Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet es bloß als Affekt. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht für uns selbst, nennt er Philanthropie: und nur den stärkern Regungen dieser Art, welche mit Furcht für uns selbst verknüpft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er zwar, daß das Unglück eines Bösewichts weder unser Mitleid noch unsere Furcht errege; aber er spricht ihm darum nicht alle Rührung ab. Auch der Bösewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten, Vollkommenheiten genug behält, um sein Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas mitleidähnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden. Aber, wie schon gesagt, diese mitleidähnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, sondern Philanthropie. »Man muß, sagt er, keinen Bösewicht aus unglücklichen in glückliche Umstände gelangen lassen; denn das ist das untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muß es kein völliger Bösewicht sein, der aus glücklichen Umständen in unglückliche verfällt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken.« Ich kenne nichts kahleres und abgeschmackteres, als die gewöhnlichen Übersetzungen dieses Wortes Philanthropie. Sie geben nämlich das Adjectivum davon im Lateinischen durch hominibus gratum; im Französischen durch ce que peut faire quelque plaisir; und im Deutschen durch »was Vergnügen machen kann.« Der einzige Goulston, so viel ich finde, scheinet den Sinn des Philosophen nicht verfehlt zu haben; indem er das φιλανϑρωπον durch quod humanitatis sensu tangat übersetzt. Denn allerdings ist unter dieser Philanthropie, auf welche das Unglück auch eines Bösewichts Anspruch macht, nicht die Freude über seine verdiente Bestrafung, sondern das sympathetische Gefühl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, Trotz der Vorstellung, daß sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem Augenblicke des Leidens, in uns sich für ihn reget. Herr Curtius will zwar diese mitleidige Regungen für einen unglücklichen Bösewicht, nur auf eine gewisse Gattung der ihn treffenden Übel einschränken. »Solche Zufälle des Lasterhaften, sagt er, die weder Schrecken noch Mitleid in uns wirken, müssen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufällig, oder wohl gar unschuldig, so behält er in dem Herzen der Zuschauer die Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden Gottlosen ihr Mitleid nicht versagt.« Aber er scheinet dieses nicht genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches den Bösewicht befällt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist, können wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Unglücks mit ihm zu leiden.
»Seht jene Menge,« sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen, »die sich um einen Verurteilten in dichte Haufen dränget. Sie haben alle Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel, und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt und ohnmächtig auf das entsetzliche Schaugerüste. Man arbeitet sich durch das Gewühl, man stellt sich auf die Zähen, man klettert die Dächer hinan, um die Züge des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm: ein Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wünschen itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurteilet haben würden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annäherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen Übel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussöhnen, und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich mitleidig mit seinem Schicksale sein.«
Und eben diese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umständen ganz verlieren können, die unter der Asche, mit welcher sie andere stärkere Empfindungen überdecken, unverlöschlich fortglimmet, und gleichsam nur einen günstigen Windstoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; eben diese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie verstehet. Wir haben Recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem höchsten Grade der mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer wahrscheinlichen Furcht für uns selbst, Affekt werden, zu unterscheiden.
Sieben und siebzigstes Stück
Den 26sten Januar, 1768
Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er notwendig mit der Furcht für uns selbst verknüpft sein müsse: was war es nötig, der Furcht noch insbesondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid schloß sie schon in sich, und es wäre genug gewesen, wenn er bloß gesagt hätte: die Tragödie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwankend und ungewiß.
Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloß hätte lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragödie erregen könne und solle, so würde er sich den Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen können, und ohne Zweifel sich wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein größerer Wortsparer, als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenschaften, durch die in der Tragödie erregten, in uns gereiniget werden sollten; und in dieser Absicht mußte er der Furcht insbesondere gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids, weder in noch außer dem Theater, ohne Furcht für uns selbst sein kann; ob sie schon ein notwendiges Ingredienz des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch umgekehrt, und das Mitleid für andere ist kein Ingredienz der Furcht für uns selbst. Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingredienz des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um anzuzeigen, daß sie dieses tun könne und wirklich tue, fand es Aristoteles für nötig, ihrer insbesondere zu gedenken.
Es ist unstreitig, daß Aristoteles überhaupt keine strenge logische Definition von der Tragödie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloß wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschränken, hat er verschiedene zufällige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht hatte. Diese indes abgerechnet, und die übrigen Merkmale in einander reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach, ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen.
An dem letztern dürfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wüßte ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so läßt, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache ergründet, aber sie bei seiner Erklärung mehr vorausgesetzt, als deutlich angegeben. »Die Tragödie, sagt er, ist die Nachahmung einer Handlung, – die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht, die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket.« So drückt er sich von Wort zu Wort aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, »nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht,« befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzählung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzählung, welches die dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Übersetzer bei dieser Lücke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere füllt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlässigte Wortfügung, an die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Dacier übersetzt: d’une action – qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur u.s.w.; und Curtius: »einer Handlung, welche nicht durch die Erzählung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst) uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget.« O, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine bloß vernachlässigte Wortfügung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, daß das Mitleid notwendig ein vorhandenes Übel erfodere; daß wir längst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Übel entweder gar nicht, oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden können, als ein anwesendes; daß es folglich notwendig sei, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist, nicht in der erzählenden Form, sondern als gegenwärtig, das ist, in der dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, daß unser Mitleid durch die Erzählung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegenwärtige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Erklärung anstatt der Form der Sache, die Sache gleich selbst zu setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form fähig ist. Hätte er es für möglich gehalten, daß unser Mitleid auch durch die Erzählung erreget werden könne: so würde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen sein, wenn er gesagt hätte, »nicht durch die Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht.« Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so konnte er sich diesen Sprung, der Kürze wegen, erlauben. – Ich verweise desfalls auf das nämliche neunte Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik.(127)
Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der Tragödie gibt, und den er mit in die Erklärung derselben bringen zu müssen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten, darüber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, daß alle, die sich dawider erklärt, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiß wußten, welches seine wären. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes Hirngespinste zu Schanden machen. Ich kann mich in die nähere Erörterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei Anmerkungen machen.
1. Sie lassen den Aristoteles sagen, »die Tragödie solle uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigen.« Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt Windmühlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat, und ihnen auf seinem bedächtlichern Pferde hinten nach ruft, sich nicht zu übereilen, und doch nur erst die Augen recht aufzusperren.
Των τοιουτων παϑηματων, sagt Aristoteles: und das heißt nicht, der vorgestellten Leidenschaften; das hätten sie übersetzen müssen durch, dieser und dergleichen, oder, der erweckten Leidenschaften. Das τοιουτων bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber τοιουτων und nicht τουτων; er sagt, dieser und dergleichen, und nicht bloß, dieser: um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht bloß das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle philanthropische Empfindungen, so wie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über ein uns bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Übel, Betrübnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und keine andere Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften, nützliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, in so fern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung überhaupt ist, nicht aber in so fern sie Tragödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung.