Sechs und zwanzigstes Stück
Den 28sten Julius, 1767
Den ein und dreißigsten Abend (Mittewochs, den 10ten Junius,) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, die Hausfranzösin, oder die Mammsell, aufgeführet.
Dieses Stück ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburtshülfe, Deutschland im fünften Bande der Schaubühne beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es noch erhalten würde, und es erhielt den, den es verdienet; gar keinen. Das Testament, von eben derselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber die Hausfranzösin ist ganz und gar nichts. Noch weniger, als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig, und platt, und kalt, sondern noch oben darein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben können. Ich will hoffen, daß man mir den Beweis von diesem allen schenken wird. –
Den zwei und dreißigsten Abend (Donnerstags, den 11ten Junius,) ward die Semiramis des Herrn von Voltaire wiederholt.
Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Chöre vertritt, so haben Kenner schon längst gewünscht, daß die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stücke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr übereinstimmen möchte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld für die Kunst bemerkte. Da er einsahe, daß, wenn die Rührung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwächt und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er nicht allein bereits 1738 mit dem Polyeukt und Mithridat den Versuch, besondere diesen Stücken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und anderwärts aufgeführet wurden; sondern ließ sich auch in einem besondern Blatte seines kritischen Musikus(14) umständlich darüber aus, was überhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle.
»Alle Symphonien, sagt er, die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es gehören also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien, als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragödien und Komödien unter sich selbst sind, so verschieden muß auch die dazu gehörige Musik sein. Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abteilung gehört, zu sehen. Daher muß die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stückes beziehen; die Symphonien aber, die zwischen den Aufzügen vorkommen, müssen Teils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, Teils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges übereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemäß sein muß.
Alle Symphonien zu Trauerspielen müssen prächtig, feurig und geistreich gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen, und den Hauptinhalt zu bemerken, und darnach seine Erfindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragödien, da bald diese, bald jene Tugend eines Helden, oder einer Heldin, der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den Polyeukt gegen den Brutus, oder auch die Alzire gegen den Mithridat: so wird man gleich sehen, daß sich keineswegs einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden, oder die Heldin, in allen Zufällen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermaßen das Prächtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Großmut, die Tapferkeit, oder die Standhaftigkeit in allerlei Unglücksfällen im Trauerspiele herrschen: so muß auch die Musik weit feuriger und lebhafter sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele Cato, Brutus, Mithridat. Alzire aber und Zaire erfordern hingegen schon eine etwas veränderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen Stücken von einer andern Beschaffenheit sind, und mehr Veränderung der Affekten zeigen.
Eben so müssen die Komödiensymphonien überhaupt frei, fließend, und zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem eigentümlichen Inhalte einer jeden Komödie richten. So wie die Komödie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muß auch die Symphonie beschaffen sein. Z.E. die Komödien, der Falke und die beiderseitige Unbeständigkeit, würden ganz andere Symphonien erfordern, als der verlorne Sohn. So würden sich auch nicht die Symphonien, die sich zum Geizigen, oder zum Kranken in der Einbildung, sehr wohl schicken möchten, zum Unentschlüssigen, oder zum Zerstreuten, schicken. Jene müssen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber verdrießlicher und ernsthafter.
Die Anfangssymphonie muß sich auf das ganze Stück beziehen; zugleich aber muß sie auch den Anfang desselben vorbereiten, und folglich mit dem ersten Auftritte übereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Sätzen bestehen, so wie es der Komponist für gut findet. – Die Symphonien zwischen den Aufzügen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natürlichsten zwei Sätze haben können. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein nötig, wenn die Affekten einander allzu sehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehörige Länge erhält, damit die Bedürfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden u.s.w. indes besorget werden können. – Die Schlußsymphonie endlich muß mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste übereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto nachdrücklicher zu machen. Was ist lächerlicher, als wenn der Held auf eine unglückliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komödie auf eine fröhliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Symphonie darauf? –
Da übrigens die Musik zu den Schauspielen bloß allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veränderung derselben sehr nötig, damit die Zuhörer desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht verlieren möchten, wenn sie immer einerlei Instrumente hören sollten. Es ist aber beinahe eine Notwendigkeit, daß die Anfangssymphonie sehr stark und vollständig ist, und also desto nachdrücklicher ins Gehör falle. Die Veränderung der Instrumenten muß also vornehmlich in den Zwischensymphonien erscheinen. Man muß aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdrücken kann, was man ausdrücken soll. Es muß also auch hier eine vernünftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzu gut, wenn man in zwei auf einander folgenden Zwischensymphonien einerlei Veränderung der Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Übelstand vermeidet.«
Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkünstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, daß sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten im Stande sei. Die mehresten müssen es von ihren Kunstverwandten erst hören, daß die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wenden.
Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankömmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkünstler gibt und gegeben, die bis zur Bewunderung darin glücklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt, und allgemeine Grundsätze aus ihren Beispielen hergeleitet hätte. Aber je häufiger diese Beispiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto eher können wir sie uns versprechen; und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkünstler in dergleichen dramatischen Symphonien geschehen könnte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hülfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken können, nur immer diejenigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken; wir werden diese öfterer hören, wir werden sie mit einander öfterer vergleichen, und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.
Welchen Zuwachs unser Vergnügen im Theater dadurch erhalten würde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters, hat man sich daher nicht nur überhaupt bemüht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch würdige Männer bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser Art von Komposition zu machen, die über alle Erwartung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks Olint und Sophronia hatte Herr Hertel eigne Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Aufführung der Semiramis wurden dergleichen, von dem Herrn Agricola in Berlin, aufgeführt.
Sieben und zwanzigstes Stück
Den 31sten Julius, 1767
Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen; – denn je lebhafter und feiner ein sinnliches Vergnügen ist, desto weniger läßt es sich mit Worten beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprüche, in unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und diese sind eben so ununterrichtend für den Liebhaber, als ekelhaft für den Virtuosen, den man zu ehren vermeinet; – sondern bloß nach den Absichten, die ihr Meister dabei gehabt, und nach den Mitteln überhaupt, deren er sich, zu Erreichung derselben, bedienen wollen.
Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Sätzen. Der erste Satz ist ein Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Flöten; der Grundbaß ist durch Fagotte verstärkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und stürmisch; der Zuhörer soll vermuten, daß er ein Schauspiel ungefähr dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein; Zärtlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung, nehmen ihr Teil daran; und der zweite Satz, ein Andante mit gedämpften Violinen und konzertierenden Fagotten, beschäftiget sich also mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen Tonwendungen mit stolzen; denn die Bühne eröffnet sich mit mehr als gewöhnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie diese Herrlichkeit das Auge spüren muß, soll sie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in dem ersten, außer daß die Hoboen, Flöten und Fagotte mit einander einige besondere kleinere Sätze haben.
Die Musik zwischen den Akten hat durchgängig nur einen einzigen Satz; dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der sich auf das Folgende bezöge, scheinet Herr Agricola also nicht zu billigen. Ich würde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das Unerwartete, das Überraschende, mehr als ein anderer; er läßt seinen Gang nicht gern voraus verraten; und die Musik würde ihn verraten, wenn sie die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch sie nur den allgemeinen Ton des Stücks angeben, und nicht stärker, nicht bestimmter, als ihn ungefähr der Titel angibt. Man darf dem Zuhörer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn führen will, aber die verschiedenen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll, müssen ihm gänzlich verborgen bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten, ist aus dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern, der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestärkt. Denn gesetzt, daß die Leidenschaften, welche in zwei auf einander folgenden Akten herrschen, einander ganz entgegen wären, so würden notwendig auch die beiden Sätze von eben so widriger Beschaffenheit sein müssen. Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegenstehenden, zu ihrem völligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit, bringen kann; er tut es nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch der Musikus? Es sei, daß er es in einem Stücke, von der erforderlichen Länge, eben so wohl tun könne; aber in zwei besondern, von einander gänzlich abgesetzten Stücken, muß der Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stürmische, aus dem Zärtlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder plötzliche Übergang aus einem Äußersten in das andere, aus der Finsternis in das Licht, aus der Kälte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, für den unsere Seele ganz mitleidiges Gefühl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie läßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie im Traume; und alle diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend, als ergötzend. Die Poesie hingegen läßt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die plötzlichsten Übergänge nicht allein erträglich, sondern auch angenehm. In der Tat ist diese Motivierung der plötzlichen Übergänge einer der größten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergrößte. Denn es ist bei weitem nicht so notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der Freude durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzuschränken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewähren können, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, in welchem man nicht allein Mannichfaltiges, sondern auch Übereinstimmung des Mannichfaltigen bemerke. Nun aber würde, bei dem doppelten Satze zwischen den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hinten nach kommen; wir würden es erst hinten nach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in eine ganz entgegen gesetzte überspringen müssen: und das ist für die Musik so gut, als erführen wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine üble Wirkung getan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einsehen, daß er uns nicht hätte beleidigen sollen. Man glaube aber nicht, daß so nach überhaupt alle Symphonien verwerflich sein müßten, weil alle aus mehrern Sätzen bestehen, die von einander unterschieden sind, und deren jeder etwas anders ausdrückt als der andere. Sie drücken etwas anders aus, aber nicht etwas verschiednes; oder vielmehr, sie drücken das nämliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muß nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß eben dieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abänderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen, und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser Beschaffenheit; das Ungestüme des ersten Satzes zerfließt in das Klagende des zweiten, welche sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen Würde erhebet. Ein Tonkünstler, der sich in seinen Symphonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren läßt, um sich in einen dritten eben so verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann überraschen, kann betäuben, kann kitzeln, nur rühren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen, und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muß eben sowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile, ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann.
Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der Semiramis zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat; Besorgnisse, die noch mit einiger Hoffnung vermischt sind; ein Andante mesto, bloß mit gedämpften Violinen und Bratsche.
In dem zweiten Akte spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als daß er nicht den Ausdruck der darauf folgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro assai aus dem G dur, mit Waldhörnern, durch Flöten und Hoboen, auch den Grundbaß mitspielende Fagotte verstärkt, druckt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz dieses treulosen und herrsüchtigen Ministers aus.
In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese Erscheinung auf die Anwesenden machen läßt. Aber der Tonkünstler hat sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E moll, mit der nämlichen Instrumentenbesetzung des vorhergehenden, nur daß E-Hörner mit G-Hörnern verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und träges Erstaunen, sondern die wahre wilde Bestürzung, welche eine dergleichen Erscheinung unter dem Volke verursachen muß.
Die Beängstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir betauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen. Betauern und Mitleid läßt also auch die Musik ertönen; in einem Larghetto aus dem A moll, mit gedämpften Violinen und Bratsche, und einer konzertierenden Hoboe.
Endlich folget auch auf den fünften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, nächst den Violinen und der Bratsche, mit Hörnern, mit verstärkenden Hoboen und Flöten, und mit Fagotten, die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels angemessene, und ins Erhabene gezogene Betrübnis, mit einiger Rücksicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde eben so würdig als mächtig erhebt.
Die Absichten eines Tonkünstlers merken, heißt ihm zugestehen, daß er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein Rätsel sein, dessen Deutung eben so mühsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob wächst mit seiner Verständlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter jenes. – Es ist kein Ruhm für mich, daß ich recht gehört habe; aber für den Hrn. Agricola ist es ein so viel größerer, daß in dieser seiner Komposition niemand etwas anders gehört hat, als ich.
Acht und zwanzigstes Stück
Den 4ten August, 1767
Den drei und dreißigsten Abend (Freitags, den 12ten Junius,) ward die Nanine wiederholt, und den Beschluß machte, der Bauer mit der Erbschaft, aus dem Französischen des Marivaux.
Dieses kleine Stück ist hier Ware für den Platz, und macht daher allezeit viel Vergnügen. Jürge kömmt aus der Stadt zurück, wo er einen reichen Bruder begraben lassen, von dem er hundert tausend Mark geerbt. Glück ändert Stand und Sitten; nun will er leben wie vornehme Leute leben, erhebt seine Lise zur Madame, findet geschwind für seinen Hans und für seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende Bote kömmt nach. Der Makler, bei dem die hundert tausend Mark gestanden, hat Banquerot gemacht, Jürge ist wieder nichts wie Jürge, Hans bekömmt den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluß würde traurig genug sein, wenn das Glück mehr nehmen könnte, als es gegeben hat; gesund und vergnügt waren sie, gesund und vergnügt bleiben sie.
Diese Fabel hätte jeder erfinden können; aber wenige würden sie so unterhaltend zu machen gewußt haben, als Marivaux. Die drolligste Laune, der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire, lassen uns vor Lachen kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine ganz eigene Würze. Die Übersetzung ist von Kriegern, der das französische Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu übertragen gewußt hat. Es ist nur Schade, daß verschiedene Stellen höchst fehlerhaft und verstümmelt abgedruckt worden. Einige müßten notwendig in der Vorstellung berichtiget und ergänzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene.
Jürge. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dahlers.
Lise. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken?
Jürge. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die.
Lise. Woto denn, Hans Narr?
Jürge. För düssen Jungen, de mie mienen Bündel op dee Reise bed in unse Dörp dragen hed, un ik bün ganß licht un sacht hergahn.
Lise. Büst du to Fotte hergahn?
Jürge. Ja. Wielt’t veel cummoder is.
Lise. Da hest du een Maark.
Jürge. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt’t? So veel is dat. Een Maark hed se mie dahn: da, da is’t. Nehmt’t hen; so is’t richdig.
Lise. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak dragen hed?
Jürge. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven.
Valentin. Sollen die fünf Schilling für mich, Herr Jürge?
Jürge. Ja, mien Fründ!
Valentin. Fünf Schilling? ein reicher Erbe! fünf Schillinge? ein Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele?
Jürge. O! et kumt mie even darop nich an, jy dörft’t man seggen. Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so.
Wie ist das? Jürge ist zu Fuße gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert fünf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fünf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen Schilling hinschmeißen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb ihm ja noch übrig. Ohne das Französische wird man sich schwerlich aus dem Hanfe finden. Jürge war nicht zu Fuße gekommen, sondern mit der Kutsche: und darauf geht sein »Wielt’t veel cummoder is.« Aber die Kutsche ging vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, ließ er sich bis zu seinem Hause das Bündel nachtragen. Dafür gibt er dem Jungen die fünf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das hat er für die Kutsche bezahlen müssen, und er erzählt ihr nur, wie geschwind er mit dem Kutscher darüber fertig geworden.(15)
Den vier und dreißigsten Abend (Montags, den 29sten Junius,) ward der Zerstreute des Regnard aufgeführt.
Ich glaube schwerlich, daß unsere Großväter den deutschen Titel dieses Stücks verstanden hätten. Noch Schlegel übersetzte Distrait durch Träumer. Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der Analogie des Französischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen, nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das ist genug.
Regnard brachte seinen Zerstreuten im Jahre 1697 aufs Theater; und er fand nicht den geringsten Beifall. Aber vier und dreißig Jahr darauf, als ihn die Komödianten wieder vorsuchten, fand er einen so viel größern. Welches Publikum hatte nun Recht? Vielleicht hatten sie beide nicht Unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stück als eine gute förmliche Komödie, wofür es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm es für nichts mehr auf, als es ist; für eine Farce, für ein Possenspiel, das zu lachen machen soll; man lachte, und war dankbar. Jenes Publikum dachte:
– non satis est risu diducere rictum
Auditoris – – –
und dieses:
– et est quaedam tamen hic quoque virtus.
Außer der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlässig ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Mühe gemacht haben. Den Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyere völlig entworfen. Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Züge Teils in Handlung zu bringen, Teils erzählen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufügte, will nicht viel sagen.
Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralität fassen will, desto mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf für die Komödie sein. Warum nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene eben so wenig ausgelacht zu werden, als einer der Kopfschmerzen hat. Die Komödie müsse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spöttereien eben so wenig bessern, als ein Hinkender.
Aber ist es denn wahr, daß die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemühungen nicht abhelfen können? Sollte sie wirklich mehr natürliche Verwahrlosung, als üble Angewohnheit sein? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Eindrücken zu Folge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betäubt, nicht außer Tätigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwärts tätig. Aber so gut sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natürlicher Beruf, bei den sinnlichen Veränderungen ihres Körpers gegenwärtig zu sein; es kostet Mühe, sie dieses Berufs zu entwöhnen, und es sollte unmöglich sein, ihr ihn wieder geläufig zu machen?
Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität, ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Chicanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komödie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehörig in Erwägung gezogen. Moliere, sagt er z. E., macht uns über den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stücks; Moliere beweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen über ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schätzen seine übrige guten Eigenschaften, wie wir sie schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über seine Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdigen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig, ekel, häßlich wird sie sein; nicht lächerlich.
Neun und zwanzigstes Stück
Den 7ten August, 1767
Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerliche Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, daß der Geizige des Moliere nie einen Geizigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; eingeräumet, daß das Lachen diese Toren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben müssen; es ist ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers, als das Lächerliche. –
Das Rätsel, oder, Was den Damen am meisten gefällt, ein Lustspiel in einem Aufzuge von Herr Löwen, machte diesen Abend den Beschluß.
Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzählungen und Märchen geschrieben hätten, so würde das französische Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren müssen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen Quellen bereichert. Des letztern Ce qui plait aux Dames gab den Stoff zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzügen, welches, unter dem Titel La Fée Urgele, von den italienischen Komödianten zu Paris, im Dezember 1765 aufgeführet ward. Herr Löwen scheinet nicht sowohl dieses Stück, als die Erzählung des Voltaire selbst, vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsäule mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, daß dieses oder jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Löwen wegen der Einrichtung seines Stücks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmärchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Löwen selbst gibt sein Rätsel für nichts anders, als für eine kleine Plaisanterie, die auf dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es wäre bloßer Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur dünkt mich, daß ein Waffenträger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gründet, und ritterliche Abenteuer als rühmliche Handlungen eines vernünftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien muß man nicht zergliedern wollen.
Den fünf und dreißigsten Abend (Mittewochs, den 1sten Julius,) ward, in Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, die Rodogune des Peter Corneille aufgeführt.
Corneille bekannte, daß er sich auf dieses Trauerspiel das meiste einbilde, daß er es weit über seinen Cinna und Cid setze, daß seine übrige Stücke wenig Vorzüge hätten, die in diesem nicht vereint anzutreffen wären; ein glücklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ein gründliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt zu Akt immer wachsendes Interesse. –
Es ist billig, daß wir uns bei dem Meisterstücke dieses großen Mannes verweilen.
Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzählt Appianus Alexandrinus, gegen das Ende seines Buchs von den syrischen Kriegen. »Demetrius, mit dem Zunamen Nicanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther, und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Königes Phraates, mit dessen Schwester Rodogune er sich vermählte. Inzwischen bemächtigte sich Diodotus, der den vorigen Königen gedienet hatte, des syrischen Thrones, und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen Namen er als Vormund anfangs die Regierung führte. Bald aber schaffte er den jungen König aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf, und gab sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Königs, das Schicksal desselben, und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs, zu Rhodus, wo er sich aufhielt, hörte, kam er nach Syrien zurück, überwand mit vieler Mühe den Tryphon, und ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraates, und foderte die Befreiung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch wirklich los; aber nichts desto weniger kam es zwischen ihm und dem Antiochus zum Treffen, in welchem dieser den kürzern zog, und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret war, ward von seiner Gemahlin, Cleopatra, aus Haß gegen die Rodogune, umgebracht; obschon Cleopatra selbst, aus Verdruß über diese Heirat, sich mit dem nämlichen Antiochus, seinem Bruder, vermählet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwei Söhne, wovon sie den ältesten, mit Namen Seleucus, der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhändig mit einem Pfeile erschoß; es sei nun, weil sie besorgte, er möchte den Tod seines Vaters an ihr rächen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemütsart dazu veranlaßte. Der jüngste Sohn hieß Antiochus; er folgte seinem Bruder in der Regierung, und zwang seine abscheuliche Mutter, daß sie den Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken mußte.«
In dieser Erzählung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es würde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius, einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm, eine Rodogune daraus zu erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzüglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug rächen zu können glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, daß so nach sein Stück nicht Rodogune, sondern Cleopatra heißen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, daß die Zuhörer diese Königin von Syrien mit jener berühmten letzten Königin von Ägypten gleiches Namens verwechseln dürften, wollte er lieber von der zweiten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. »Ich glaubte mich, sagt er, dieser Freiheit um so eher bedienen zu können, da ich angemerkt hatte, daß die Alten selbst es nicht für notwendig gehalten, ein Stück eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Teil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z. E. Sophokles eines seiner Trauerspiele die Trachinerinnen genannt, welches man itziger Zeit schwerlich anders, als den sterbenden Herkules nennen würde.« Diese Bemerkung ist an und für sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel für ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, daß er den Inhalt angeben müsse; genug, wenn dadurch ein Stück von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlänglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, daß Sophokles das Stück, welches er die Trachinerinnen überschrieb, würde haben Deianira nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verführerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen möchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des Corneille ging hiernächst zu weit; wer die ägyptische Cleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Ägypten ist, weiß, daß mehr Könige und Königinnen einerlei Namen geführt haben; wer aber jene nicht kennt, kann sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens hätte Corneille in dem Stück selbst, den Namen Cleopatra nicht so sorgfältig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deutsche Übersetzer tat daher sehr wohl, daß er sich über diese kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muß seine Leser oder Zuhörer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken; was sie nicht wissen, das mögen sie fragen!
Dreißigstes Stück
Den 11ten August, 1767
Cleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschießt den einen von ihren Söhnen, und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und eben dieselbe Quelle. Wenigstens läßt es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die einzige Eifersucht ein wütendes Eheweib zu einer eben so wütenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, weil er für Cleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl fällt; aber in ihm fällt auch ein Vater, der rächende Söhne hinterläßt. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Söhne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Eltern wählen müßte, ohnfehlbar sich für den zuerst beleidigten Teil erklären würde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward König und der König sahe in der Cleopatra nicht die Mutter, sondern die Königsmörderin. Sie hatte alles von ihm zu fürchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Söhnen übrig; sie fing an alles zu hassen, was sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung stärkte diesen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem Sohne, und beruhigte sich mit der Vorstellung, daß sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, daß sie eigentlich nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des ältern Sohnes wäre auch das Schicksal des jüngern geworden; aber dieser war rascher, oder war glücklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen rächet das andere; und es kömmt bloß auf die Umstände an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.
Dieser dreifache Mord würde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nämlichen Leidenschaft der nämlichen Person hätte. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragödie? Für das Genie fehlt ihr nichts: für den Stümper, alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natürlichen Gang. Dieser natürliche Gang reizet das Genie; und den Stümper schrecket er ab. Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu führen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschließen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, daß es nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hingegen, als der nicht auf das in einander Gegründete, sondern nur auf das Ähnliche oder Unähnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, hält sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen. Diese mit einander zu verbinden, ihre Faden so durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestürzt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Aus der beständigen Durchkreuzung solcher Fäden von ganz verschiednen Farben, entstehet denn eine Kontextur, die in der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, grün oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz für Kinder.
Nun urteile man, ob der große Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Verwicklung.
Cleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte Corneille: das wäre ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Cleopatra muß eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern verloren hätte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr Mann Rodogunen liebt, muß sie nicht so sehr schmerzen, als daß Rodogune Königin sein soll, wie sie; das ist weit erhabner. –
Ganz recht; weit erhabner und – weit unnatürlicher. Denn einmal ist der Stolz überhaupt ein unnatürlicheres, ein gekünstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatürlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur rüstete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen, und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es genießen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloß des Herrschens wegen, gefällt, bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere Glückseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren, und ihren Fuß ganzen Völkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist dem ohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das minder Natürliche. Die Cleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit machiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswürdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus überlegtem Ehrgeize, Freveltaten verübet, empört sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesättiget haben, so danken wir dem Himmel, daß sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und ärgern uns über den Dichter, der uns dergleichen Mißgeschöpfe für Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns ersprießlich sein könnte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Männer vom Throne gestürzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen könnte, daß nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus bloßem Stolze das Scepter selbst zu führen, welches ein liebreicher Ehemann führte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem männlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, mürrischen, treulosen Gatten alles, was die Unterwürfigkeit kränkendes hat, zu sehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der äußersten Gefahr erlangte Unabhängigkeit nicht um so viel schätzbarer hätte sein sollen. Aber sicherlich hat keine das bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Cleopatra selbst von sich sagen läßt; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der größte Bösewicht weiß sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu überreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster sei, oder daß ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters, als Lasters rühmet; und der Dichter ist äußerst zu tadeln, der aus Begierde etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob seine Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könnten.
Dergleichen mißgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden, sind indes bei keinem Dichter häufiger, als bei Corneillen, und es könnte leicht sein, daß sich zum Teil sein Beiname des Großen mit darauf gründe. Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines fähig sein sollte, und wirklich auch keines fähig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen hätte man ihn nennen sollen; aber nicht den Großen. Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist.
Ein und dreißigstes Stück
Den 14ten August, 1767
In der Geschichte rächet sich Cleopatra bloß an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht rächen. Bei dem Dichter ist jene Rache längst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloß erzählt, und alle Handlung des Stücks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Cleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muß sich noch gar nicht gerächet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen rächet. Einer Eifersüchtigen ist es allerdings natürlich, daß sie gegen ihre Nebenbuhlerin noch unversöhnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Cleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersüchtig; sie ist bloß ehrgeizig; und die Rache einer Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersüchtigen ähnlich sein. Beide Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als daß ihre Wirkungen die nämlichen sein könnten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut, und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als daß die Rache des Ehrgeizigen ohne Maß und Ziel sein sollte. So lange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kälter und überlegender zu werden anfängt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergißt er es auch wohl, daß er ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fürchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gänzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versöhnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhöret, die nämliche Beleidigung zu sein, und immer wächset, je länger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erlöschen, die sie spat oder früh, immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Cleopatra beim Corneille; und die Mißhelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als äußerst beleidigend sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbändiger Trieb nach Ehre und Unabhängigkeit, lassen sie uns als eine große, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tückischer Groll; ihre hämische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu befürchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem geringsten Funken von Edelmute, vergeben müßte; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so klein, daß wir sie nicht genug verachten zu können glauben. Endlich muß diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in der ganzen Cleopatra nichts übrig, als ein häßliches abscheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet.
Aber nicht genug, daß Cleopatra sich an Rodogunen rächet: der Dichter will, daß sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie fängt er dieses an? Wenn Cleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist das Ding viel zu natürlich: denn was ist natürlicher, als seine Feindin hinzurichten? Ginge es nicht an, daß zugleich eine Liebhaberin in ihr hingerichtet würde? Und daß sie von ihrem Liebhaber hingerichtet würde? Warum nicht? Laßt uns erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius noch nicht völlig vermählet gewesen; laßt uns erdichten, daß nach seinem Tode sich die beiden Söhne in die Braut des Vaters verliebt haben; laßt uns erdichten, daß die beiden Söhne Zwillinge sind, daß dem ältesten der Thron gehöret, daß die Mutter es aber beständig verborgen gehalten, welcher von ihnen der älteste sei; laßt uns erdichten, daß sich endlich die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen für den ältesten zu erklären, und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; laßt uns erdichten, daß diese Bedingung der Tod der Rodogune sei. Nun hätten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogune sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren.
Schön; aber könnten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Könnten wir die guten Prinzen nicht noch in größere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Laßt uns also weiter erdichten, daß Rodogune den Anschlag der Cleopatra erfährt; laßt uns weiter erdichten, daß sie zwar einen von den Prinzen vorzüglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, daß sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen dürfte, zu ihrem Gemahle zu wählen, daß sie allein den wählen wolle, welcher sich ihr am würdigsten erzeigen werde; Rodogune muß gerächet sein wollen, muß an der Mutter der Prinzen gerächet sein wollen; Rodogune muß ihnen erklären: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter!
Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrigue! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine Mutter! Es versteht sich, daß es sehr tugendhafte Prinzen sein müssen, die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt für den Teufel von Mamma, und eben so viel Zärtlichkeit für eine liebäugelnde Furie von Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, daß es gar nicht möglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und schlägt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder der andere geht hin und schlägt die Mutter tot, um die Prinzessin zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin, und schlagen die Geliebte tot, und wollen beiden den Thron haben: so kann es gar nicht auswerden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das Mädchen haben: und so kann es wiederum nicht auswerden. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere tot schlagen; so stehen sie beide hübsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schönheit davon. Freilich wird das Stück dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen, daß die Weiber darin ärger als rasende Männer, und die Männer weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stückes mehr; denn das Gegenteil ist so gewöhnlich, so abgedroschen! –
Doch im Ernste: ich weiß nicht, ob es viel Mühe kostet, dergleichen Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich möchte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiß ich, daß es einem sehr sauer wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen.
Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit hätte sich Corneille immer ersparen können. »Vielleicht, sagt er, dürfte man zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, daß sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzählung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fünften, nicht das geringste vorkömmt, welches einigen historischen Grund hätte. Doch, fährt er fort, mich dünkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beibehalten, so sind alle vorläufigen Umstände, alle Einleitungen zu diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wüßte ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausübung der Alten ist völlig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles mit der Elektra des Euripides, und sehe, ob sie mehr mit einander gemein haben, als das bloße Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigentümliche Mittel gelanget, so daß wenigstens eine davon notwendig ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muß. Oder man werfe nur die Augen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Aristoteles zum Muster einer vollkommenen Tragödie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, daß sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloß auf das Vorgeben gründet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entrückt, und ein Reh an ihrer Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten, als die Auflösung, gänzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben.«
Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umständen nach Gutdünken verfahren. Er durfte, z. E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr Unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben müßten, noch in ihrer Kindheit gewesen wären. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel älter, als sich die Söhne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafür verifizieren wollte!
Zwei und dreißigstes Stück
Den 18ten August, 1767
Mit den Beispielen der Alten hätte Corneille noch weiter zurück gehen können. Viele stellen sich vor, daß die Tragödie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens großer und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; daß ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fußtapfen der Geschichte zu treten, und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis ließ sich um die historische Richtigkeit ganz unbekümmert.(16) Es ist wahr, er zog sich darüber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, daß Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so läßt sich den Folgerungen, die man aus seiner Mißbilligung ziehen könnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht würdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich, noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nützlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu führen, leicht von übeln Folgen sein könnte.
Ich fürchte sehr, Solon dürfte auch die Erdichtungen des großen Corneille nichts als leidige Lügen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit überladet, das geringste wahrscheinlicher? Sie sind nicht einmal für sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er hätte doch wohl wissen sollen, daß nicht das bloße Erdichten, sondern das zweckmäßige Erdichten, einen schöpfrischen Geist beweise.
Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Söhne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragödie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieses ist eben so gräßlich als außerordentlich. Es gibt höchstens drei Szenen, und da es von allen nähern Umständen entblößt ist, drei unwahrscheinliche Szenen. – Was tut also der Poet?
So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kürze der größere Mangel seines Stückes scheinen.
Ist er in dem erstern Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen. Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahin reißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahin reißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben. – Und schlägt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, daß er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kürze seiner Fabel verschwunden; es bekümmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfällen fünf Akte füllen wolle; ihm ist nur bange, daß fünf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergrößert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen, und sie zu entwickeln verstehet.
Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstößig sein, daß er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern dürfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug häufen zu können glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den außerordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Freveltaten, nehmen zu müssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Cleopatra, eine Mörderin ihres Gemahls und ihrer Söhne, aufgejagt, so sieht er, um eine Tragödie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Lücken zwischen beiden Verbrechen auszufüllen, und sie mit Dingen auszufüllen, die wenigstens eben so befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen, und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammen geknetet hat, als sich nur immer Häcksel und Mehl zusammen kneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, läßt erzählen und erzählen, läßt rasen und reimen, – und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankömmt, ist das Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel, – wird gedruckt und aufgeführt, – gelesen und angesehen, – bewundert oder ausgepfiffen, – beibehalten oder vergessen, – so wie es das liebe Glück will. Denn et habent sua fata libelli.
Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen? – Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine Rodogune, nun länger als hundert Jahr, als das größte Meisterstück des größten tragischen Dichters, von ganz Frankreich, und gelegentlich mit von ganz Europa, bewundert worden. Kann eine hundertjährige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen, und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen?
O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die französischen Poeten; diesem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechszehnten Seculi voll, und er fand an der Rodogune gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war, und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlaßnen Enkelin dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie hübsche Verse machen, sammelte Almosen für sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen großen einträglichen Kommentar über die Werke ihres Großvaters u.s.w.) aber gleichwohl erklärte er die Rodogune für ein sehr ungereimtes Gedicht, und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so großer Mann, als der große Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben können. – Bei einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Ausländern über die Fehler eines Franzosen die Augen eröffnet. Diesem ganz gewiß betet er nach; – oder ist es nicht diesem, wenigstens dem Welschen, – wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn daß ein Deutscher selbst dächte, von selbst die Kühnheit hätte, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden?
Ich rede von diesen meinen Vorgängern mehr, bei der nächsten Wiederholung der Rodogune. Meine Leser wünschen aus der Stelle zu kommen; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Übersetzung, nach welcher dieses Stück aufgeführet worden. Es war nicht die alte Wolfenbüttelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schämen, und ist voller starken, glücklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiß ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack, als daß er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu übersetzen, muß man bessere Verse machen können, als er selbst.
Drei und dreißigstes Stück
Den 21sten August, 1767
Den sechs und dreißigsten Abend (Freitags, den 3ten Julius,) ward das Lustspiel des Herrn Favart, Solimann der Zweite, ebenfalls in Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, aufgeführet.
Ich mag nicht untersuchen, wie weit es die Geschichte bestätiget, daß Solimann II. sich in eine europäische Sklavin verliebt habe, die ihn so zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewußt, daß er, wider alle Gewohnheit seines Reichs, sich förmlich mit ihr verbinden und sie zur Kaiserin erklären müssen. Genug, daß Marmontel hierauf eine von seinen moralischen Erzählungen gegründet, in der er aber jene Sklavin, die eine Italienerin soll gewesen sein, zu einer Französin macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, daß irgend eine andere Schöne, als eine Französische, einen so seltnen Sieg über einen Großtürken erhalten können.
Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Erzählung des Marmontel sagen soll; nicht, daß sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Lächerlichen, ausgeführet, und mit der Eleganz und Anmut geschrieben wäre, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzählung sein, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schlüpfrig, so anstößig, als eine Erzählung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist?
Ein Sultan, der in dem Schoße der Wollüste gähnet, dem sie der alltägliche und durch nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und ekel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinierteste Zärtlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschöpft: dieser kranke Wollüstling ist der leidende Held in der Erzählung. Ich sage, der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Süßigkeiten den Magen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfällt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken würde, auf faule Eier, auf Rattenschwänze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die edelste, bescheidenste Schönheit, mit dem schmachtendsten Auge, groß und blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den Sultan, – bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestätischer in ihrer Form, blendender von Colorit, blühende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Töne, eine wahre Muse, nur verführerischer, wird – genossen, und vergessen. Endlich erscheinet ein weibliches Ding, flüchtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur Unverschämtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie wenig Schönheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses Ding, als es den Sultan erblickt, fällt mit der plumpesten Schmeichelei, wie mit der Türe ins Haus: Graces au ciel, voici une figure humaine! – (Eine Schmeichelei, die nicht bloß dieser Sultan, auch mancher deutscher Fürst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hören bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich enthält, zu fühlen.) Und so wie dieses Eingangscompliment, so das Übrige – Vous êtes beaucoup mieux, qu’il n’appartient à un Turc: vous avez même quelque chose d’un François – En vérité ces Turcs sont plaisans – Je me charge d’apprendre à vivre à ce Turc – Je ne désespère pas d’en faire quelque jour un François. – Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und schilt, es droht und spottet, es liebäugelt und mault, bis der Sultan, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Serraglio eine neue Gestalt gegeben zu haben, auch Reichsgesetze abändern, und Geistlichkeit und Pöbel wider sich aufzubringen Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr eben so glücklich sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Mühe!
Marmontel fängt seine Erzählung mit der Betrachtung an, daß große Staatsveränderungen oft durch sehr geringfügige Kleinigkeiten veranlaßt worden, und läßt den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst schließen: wie ist es möglich, daß eine kleine aufgestülpte Nase die Gesetze eines Reiches umstoßen können? Man sollte also fast glauben, daß er bloß diese Bemerkung, dieses anscheinende Mißverhältnis zwischen Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erläutern wollen. Doch diese Lehre wäre unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst, daß er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt. »Ich nahm mir vor, sagt er, die Torheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefälligkeit bringen wollen; ich wählte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als die zwei Extrema der Herrschaft und Abhängigkeit.« Allein Marmontel muß sicherlich auch diesen seinen Vorsatz während der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten Versuch einiger Gewaltsamkeiten von Seiten des Sultans; er ist gleich bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Französin sagt, der zurückhaltendste, nachgebendste, gefälligste, folgsamste, untertänigste Mann, la meilleure pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein würde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzählung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Käfer, wenn er alle Blumen durchschwärmt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen.
Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern läßt oder nicht; und also war die Erzählung des Marmontel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat Favart, und sehr glücklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus ähnlichen Erzählungen bereichern wollen, die Favartsche Ausführung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammen zu halten. Wenn sie die Gabe zu abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veränderungen, die dieser gelitten, und zum Teil leiden müssen, lehrreich sein, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation wohl unentdeckt geblieben wäre, den noch kein Kritikus zur Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der öfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stück bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama machen möchten.
Ich will nur bei einer von diesen Veränderungen stehen bleiben. Aber ich muß vorher das Urteil anführen, welches Franzosen selbst über das Stück gefällt haben.(17) Anfangs äußern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. »Solimann der Zweite, sagen sie, war einer von den größten Fürsten seines Jahrhunderts; die Türken haben keinen Kaiser, dessen Andenken ihnen teurer wäre, als dieses Solimanns; seine Siege, seine Talente und Tugenden, machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswürdig, über die er siegte: aber welche kleine, jämmerliche Rolle läßt ihn Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagene, ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kühnsten, schwärzesten Streiche fähig war, die den Sultan durch ihre Ränke und falsche Zärtlichkeit so weit zu bringen wußte, daß er wider sein eigenes Blut wütete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine närrische Coquette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als böse. Sind dergleichen Verkleidungen, fragen sie, wohl erlaubt? Darf ein Poet, oder ein Erzähler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn er Facta nach seinem Gutdünken verändern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt, und einen Sokrates galant schildern?«
Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich möchte die Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht übernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geäußert,(18) daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen können; da hingegen einerlei Factum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt. Zweitens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntnis bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Facta hervor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europäische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Factum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Factum wirklich geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden können, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er wählen will; ob die, welche die Historie bestätiget, oder eine andere, so wie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzählung verbindet, das eine oder das andere gemäßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere, als die historischen, oder wohl gar diesen völlig entgegen gesetzte wählet, auch der historischen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheint sie wenigstens zu vermehren, und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Facta betrachten wir als etwas zufälliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die Charaktere hingegen als etwas wesentliches und eigentümliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, so lange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung scheinet uns die Individualität aufzuheben, und andere Personen unterzuschieben, betrügerische Personen, die fremde Namen usurpieren, und sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind.
Vier und dreißigstes Stück
Den 25sten August, 1767
Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewählten Charakteren selbst, es sei von Seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervor zu bringen vermag, macht seinen Reichtum aus;(19) was es gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug darüber verwundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: »Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen können! – wie ist es möglich, daß ihm nicht beifiel! – überlegte er denn nicht?« O, laßt uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloß, daß wir fleißiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht vollkommne Dummköpfe bleiben wollten.
Marmontels Solimann hätte daher meinetwegen immer ein ganz anderer Solimann, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein mögen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden hätte, daß, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehören könnten; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch eben so genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz, zu der Welt eines Genies, das – (es sei mir erlaubt, den Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden sein, daß man ihm auch jenes nicht für genossen ausgehen läßt. Wer uns nicht schadlos halten kann, oder will, muß uns nicht vorsetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.
Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet, oder sich schaffet, Übereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden.
Übereinstimmung: – Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nach dem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von schwarz auf weiß zu ändern. Ein Türk und Despot muß, auch wenn er verliebt ist, noch Türk und Despot sein. Dem Türken, der nur die sinnliche Liebe kennt, müssen keine von den Raffinements beifallen, die eine verwöhnte Europäische Einbildungskraft damit verbindet. »Ich bin dieser liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts anzügliches, nichts schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu überwinden haben, und wenn ich sie überwunden habe, durch neue Schwierigkeiten in Atem erhalten sein:« so kann ein König von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal gibt, so kömmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entäußert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu genießen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: Solimann war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angelegenheiten seines Serraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeschäfte hätte treiben sollen. Sehr wohl; aber so hätte er auch am Ende wichtige Staatsgeschäfte nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten seines Serraglio treiben müssen. Denn zu einem großen Manne gehört beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen läßt, freie Herzen, die sich aus bloßer Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen ließen; er hätte ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zärtliche Elmire wird von einer wollüstigen Delia verdrängt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick über die Hörner wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen muß, ehe er die zweideutige Gunst genießet, die bisher immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein? Ich muß lachen über den guten Sultan, und er verdiente doch mein herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia, nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzückte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Augenblicke, für ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Krönung, noch der Mühe wert halten, ihr dieses Opfer gebracht zu haben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestülpte Nase. Mich dünkt, ich höre ihn ausrufen: Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!
Ich leugne nicht, daß bei alle den Widersprüchen, die uns diesen Solimann so armselig und verächtlich machen, er nicht wirklich sein könnte. Es gibt Menschen genug, die noch kläglichere Widersprüche in sich vereinigen. Aber diese können auch, eben darum, keine Gegenstände der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Solimann zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. – Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen, und verlangen, daß auch wir uns mit dem eben so geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen fängt das Genie an, zu lernen; es sind seine Vorübungen; auch braucht es sie in größern Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und größere Absichten; die Absicht uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; die Absicht uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und unglücklich selbst im Glücke, zu zeigen; die Absicht, bei Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns Statt hat, wenigstens unsere Begehrungs- und Verabscheuungskräfte mit solchen Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren.
Was ist nun von diesen allen in dem Charakter des Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchem ist gerade das Gegenteil darin; ein Paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abgefäumte Buhlerin, werden uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schönen als gefälligen Gattin überdrüssig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist.
Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angeführten französischen Kunstrichter Recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesündiget zu haben, als jener. »Die Wahrscheinlichkeit, sagen sie, auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich nötig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußerste verletzet. Der große Solimann spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur ganz vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Überlegung darüber kömmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche; sie widerspricht in allen seinem Geschmacke, und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar hätte sie das alles sagen können; wenn sie es nur mit gemessenern Ausdrücken gesagt hätte. Aber wer kann es aushalten, den großen Solimann von einer jungen Landstreicherin so hofmeistern zu hören? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmähten Schnupftuche ist hart; und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unerträglich.«
Fünf und dreißigstes Stück
Den 28sten August, 1767
Der letztere Zug, muß man wissen, gehört dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu gönnen, als sich selbst; sie scheinet es zu verschmähen: das ist Beleidigung. Beim Marmontel hingegen läßt sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben, und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen Willens ist, und das mit der uneigennützigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann sich über nichts beschweren, als daß sie seine Gesinnungen so schlecht errät, oder nicht besser erraten will.
Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Überladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen, besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, daß seine Roxelane noch unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewußt, als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das?
Eben auf diese Veränderung wollte ich oben(20) kommen; und mich dünkt, sie ist so glücklich und vorteilhaft, daß sie von den Franzosen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient hätte.
Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines närrisches, vermessenes Ding, dessen Glück es ist, daß der Sultan Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen, als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwäche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahin gebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, daß seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt, und ihm eine Erklärung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kömmt, aber ein Licht auf ihre vorige Aufführung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesöhnet werden. »Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzückt mich! Aber lerne nun auch, mich kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte, nimm meine Freiheit zurück; sei mein Sultan, mein Held, mein Gebieter! Ich würde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen müssen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget. Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erröten darf; sieh hier in Roxelanen – nichts, als deine untertänige Sklavin.(21)« So sagt sie, und uns wird auf einmal ganz anders; die Coquette verschwindet, und ein liebes, eben so vernünftiges als drolligtes Mädchen steht vor uns; Solimann höret auf, uns verächtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe würdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fürchten, er möchte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er möchte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber möchte den Despoten wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt, eine kalte Danksagung, daß sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritte zurück halten wollen, möchte anstatt einer feurigen Bestätigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind möchte durch ihre Großmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige Vermessenheiten so mühsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens, und das Stück schließt sich zu unserer völligen Zufriedenheit.
Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veränderung? Ist sie bloß willkürlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gattung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel seiner Erzählung diesen vergnügendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem, was dort eine Schönheit ist, hier ein Fehler?
Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der äsopischen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen Erzählung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollständige Handlung, die für sich ein wohlgeründetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausführen läßt, ist er unbekümmert, er hat uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses mag befriediget werden, oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fließende Lehre, keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glücksveränderungen seiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermögend sind, oder auf das Vergnügen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewähret; und beides erfordert eine gewisse Vollständigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der moralischen Erzählung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt.
Wenn es also wahr ist, daß Marmontel durch seine Erzählung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie müsse durch Nachsicht und Gefälligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er Recht so aufzuhören, wie er aufhört. Die unbändige Roxelane wird durch nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgültig, mögen wir sie doch immer für eine Närrin und ihn für nichts bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich sein, daß den Sultan seine blinde Gefälligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefälligkeit über das Frauenzimmer überhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekümmert, ob es eine solche Gefälligkeit wert sei, oder nicht.
Allein, als Favart diese Erzählung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes größten Teils verloren gehe, und daß, wenn sie auch vollkommen erhalten werden könne, das daraus erwachsende Vergnügen doch nicht so groß und lebhaft sei, daß man dabei ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren könne. Ich meine das Vergnügen, welches uns eben so rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewähren. Nicht beleidiget uns aber, von Seiten dieser, mehr, als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst damit betrogen hat, oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer Weisheit gibt, und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfährt unsere Überlegung; das häßliche Gesicht, das wir so schön geschminkt sehen, wird für noch einmal so häßlich erklärt, als es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu wählen, ob er von uns lieber für einen Giftmischer oder für einen Blödsinnigen will gehalten sein. So wäre es dem Favart, so wäre es seinen Charakteren des Solimanns und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere nicht von Anfang ändern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterrs zu sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun übrig, als was er tat. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnügt zu haben, was wir nicht auch hochachten könnten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama weit stärker ist, als einer bloßen Erzählung, so interessieren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnügen uns nicht, ihr Schicksal bloß für den gegenwärtigen Augenblick entschieden zu sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls zufrieden gestellet wissen.
Sechs und dreißigstes Stück
Den 1sten September, 1767
So unstreitig wir aber, ohne die glückliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Krönung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den lächerlichen Triumph einer Serva Padrona, würden betrachtet haben; so gewiß, ohne sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein kläglicher Pimpinello, und die neue Kaiserin nichts als eine häßliche, verschmitzte Serbinette gewesen wäre, von der wir voraus gesehen hätten, daß sie nun bald dem armen Sultan, Pimpinello dem Zweiten, noch ganz anders mitspielen werde: so leicht und natürlich dünkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir müssen uns wundern, daß sie, dem ohngeachtet, so manchem Dichter nicht beigefallen, und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische Erzählung, in der dramatischen Form darüber verunglücken müssen.
Zum Exempel, die Matrone von Ephesus. Man kennt dieses beißende Märchen, und es ist unstreitig die bitterste Satyre, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nach erzählt; und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte man, daß es ein eben so glücklicher Stoff auch für das Theater sein müsse. Houdar de la Motte, und andere, machten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefühl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzählung ein nicht unangenehmes höhnisches Lächeln über die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem Drama ekel und gräßlich. Wir finden hier die Überredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich Ernst ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwäche dünkt uns die Schwäche des ganzen Geschlechts zu sein; wir fassen also keinen besondern Haß gegen sie; was sie tut, glauben wir, würde ungefähr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu müssen; oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermutung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zusatz des hämischen Erzählers sei, der sein Märchen gern mit einer recht giftigen Spitze schließen wollen. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht Statt; was wir dort nur hören, daß es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln können, davon überzeugt uns unser eigener Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der bloßen Möglichkeit ergötzte uns das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre Schwärze; der Einfall vergnügte unsern Witz, aber die Ausführung des Einfalls empört unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Bühne den Rücken, und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus Imperator fuisset, debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere cruci. Und diese Strafe scheinet sei uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verführung angewendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib überhaupt, sondern ein vorzüglich leichtsinniges, lüderliches Weibsstück insbesondere. – Kurz, die petronische Fabel glücklich auf das Theater zu bringen, müßte sie den nämlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; müßte die Matrone so weit gehen, und auch nicht so weit gehen. – Die Erklärung hierüber anderwärts!
Den sieben und dreißigsten Abend (Sonnabends, den 4ten Julius,) wurden Nanine und der Advokat Patelin wiederholt.
Den acht und dreißigsten Abend (Dienstags, den 7ten Julius,) ward die Merope des Herrn von Voltaire aufgeführt.
Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der Merope des Maffei; vermutlich im Jahr 1737, und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania, der Marquise du Chatelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit, und als Verfasser des Theatre des Grecs, am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafür einzuflößen, und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemäß zu stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern mußte er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr geschmeichelt, von seinem lieben Sohne Voltaire über ein Trauerspiel, über eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden, ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darüber zurückschrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, jederzeit dem Stücke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin für eines von den vollkommensten Trauerspielen, für ein wahres Muster erklärt, und wir können uns nunmehr ganz zufrieden geben, daß das Stück des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses ist nun nicht länger verloren, Voltaire hat es uns wieder hergestellt.
So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein mußte, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht übereilen zu wollen; welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von seiner staatsklugen Verzögerung auch alle die Früchte, die er sich nur immer davon versprechen konnte. Merope fand den außerordentlichsten Beifall, und das Parterr erzeigte dem Dichter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille sehr vorzüglich; sein Stuhl auf dem Theater ward beständig frei gelassen, wenn der Zulauf auch noch so groß war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Geblüte gewürdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als daß ihm die Gäste ihre Höflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr ward begierig den Mann von Angesicht zu kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen, und rufte, und schrie und lärmte, bis der Herr von Voltaire heraustreten, und sich begaffen und beklatschen lassen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet hätte, ob die kindische Neugierde des Publikums, oder die eitele Gefälligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dichter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfüllet uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber vergessen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es wäre Sünde in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so überschwenglich, daß es dem rohern Menschen zu verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, daß er an den Schöpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlässiges von der Person und den Lebensumständen des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabei, es zu vergessen, daß Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzücket. Er bringt uns unter Götter und Helden; wir müßten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Türsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach sein, man muß wenig Natur, aber desto mehr Künstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Künstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde für einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, sein müßte: (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten dem besten Murmeltiere voraus, welches der Pöbel gesehen zu haben, eben so begierig ist?) so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der französischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser Parterr sahe, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Caressen werden könne: so machte es sich dieses Vergnügen öftrer, und selten ward nachher ein neues Stück aufgeführt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervor mußte, und auch ganz gern hervor kam. Von Voltairen bis zum Marmontel, und vom Marmontel bis tief herab zum Cordier, haben fast alle an diesem Pranger gestanden. Wie manches Armesündergesichte muß darunter gewesen sein! Der Posse ging endlich so weit, daß sich die Ernsthaftern von der Nation selbst darüber ärgerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kühn genug, das Parterr vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus nicht; sein Stück war mittelmäßig, aber dieses sein Betragen desto braver und rühmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Übelstand lieber abgeschafft, als durch zehn Meropen ihn veranlaßt haben.
Sieben und dreißigstes Stück
Den 4ten September, 1767
Ich habe gesagt, daß Voltairens Merope durch die Merope des Maffei veranlasset worden. Aber veranlasset, sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden; Fabel und Plan und Sitten gehören dem Maffei; Voltaire würde ohne ihn gar keine, oder doch sicherlich eine ganz andere Merope geschrieben haben.
Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, müssen wir zuvörderst das Original des Italieners kennen lernen; und um das poetische Verdienst des letztern gehörig zu schätzen, müssen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Facta werfen, auf die er seine Fabel gegründet hat.
Maffei selbst fasset diese Facta, in der Zueignungsschrift seines Stückes, folgender Gestalt zusammen. »Daß, einige Zeit nach der Eroberung von Troja, als die Herakliden, d. i. die Nachkommen des Herkules, sich in Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das Messenische Gebiete durch das Los zugefallen; daß die Gemahlin dieses Kresphonts Merope geheißen; daß Kresphont, weil er dem Volke sich allzu günstig erwiesen, von den Mächtigern des Staates, mit samt seinen Söhnen umgebracht worden, den jüngsten ausgenommen, welcher auswärts bei einem Anverwandten seiner Mutter erzogen ward; daß dieser jüngste Sohn, Namens Aepytus, als er erwachsen, durch Hülfe der Arkader und Dorier, sich des väterlichen Reiches wieder bemächtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Mördern gerächet habe: dieses erzählet Pausanias. Daß, nachdem Kresphont mit seinen zwei Söhnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; daß dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; daß der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet Apollodorus. Daß Merope selbst den geflüchteten Sohn unbekannter Weise töten wollen; daß sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, daß der, den sie für den Mörder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; daß der nun erkannte Sohn bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses meldet Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes führet.«
Es wäre zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Glückswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis wäre genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Mörder ihres Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf eben dieses Stück,(22) wenn er sich auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, daß der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen könne. Aristoteles erwähnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber, bei dem Cicero und mehrern Alten, einen Kresphont des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes, als das Werk dieses Dichters gemeinet haben.
Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: »Aristoteles, dieser weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des sujets tragiques.) Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet, daß, so oft der Kresphont des Euripides auf dem Theater des witzigen Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstücke so gewöhnte Volk ganz außerordentlich sei betroffen, gerührt und entzückt worden.« – Hübsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt, und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber über dieses verlohnet es der Mühe, ein Paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles eben so unrecht verstanden haben. Die Sache verhält sich, wie folget. Aristoteles untersucht, in dem vierzehnten Kapitel seiner Dichtkunst, durch was eigentlich für Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten, sagt er, müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichgültigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind tötet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausführung der Tat sonst weiter einiges Mitleid, als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerzlichen und Verderblichen überhaupt, verbunden ist. Und so ist es auch bei gleichgültigen Personen. Folglich müssen die tragischen Begebenheiten sich unter Freunden eräugnen; ein Bruder muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter töten, oder töten wollen, oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln, oder mißhandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit, oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollführt oder nicht vollführt werden muß: so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die erste: wenn die Tat wissentlich, mit völliger Kenntnis der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes, unternommen und vollzogen wird, und der Täter die Person, an der er sie vollzogen, zu spät kennen lernet. Die vierte: wenn die unwissend unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug; und da er die Handlung der Merope, in dem Kresphont, davon zum Beispiele anführet: so haben Tournemine, und andere, dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels überhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu sein erkläre.
Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß eine gute tragische Fabel sich nicht glücklich, sondern unglücklich enden müsse. Wie kann dieses beides bei einander bestehen? Sie soll sich unglücklich enden, und gleichwohl läuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, glücklich ab. Widerspricht sich nicht also der große Kunstrichter offenbar?
Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel überhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln könne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu verändern, und welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemnestra durch den Orest, der Inhalt des Stückes sein sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, nämlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter müsse nun überlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen müsse, und durch den Orest geschehen müsse. Nach der zweiten, darum nicht: weil sie zu gräßlich sei. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemnestra dadurch abermals gerettet würde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klasse übrig.
Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht bloß in einzeln Fällen, nach Maßgebung der Umstände, sondern überhaupt. Der ehrliche Dacier macht es öftrer so: Aristoteles behält bei ihm Recht, nicht weil er Recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Blöße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben so schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener, in diese zu stoßen: so ist es ja doch um die Untrüglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm, im Grunde noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Übereinstimmung der Geschichte ankömmt, wenn der Dichter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gänzlich verändern darf: wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweiten Plane behandelt werden müssen? Die Ermordung der Klytemnestra müßte eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten wählen, weil dieser tragischer ist, und der Geschichte doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z. E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen als den zweiten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein bekannt. Was für eine Rangordnung kann also unter diesen Planen Statt finden? Der in einem Falle der vorzüglichste ist, kömmt in einem andern gar nicht in Betrachtung. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung, nicht auf historische, sondern auf bloß erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordnung der Klytemnestra wäre von dieser letztern Art, und es hätte dem Dichter frei gestanden, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne völlige Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan hätte er dann wählen müssen, um eine so viel als möglich vollkommene Tragödie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten; denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschähe es bloß aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich glücklich schließt? Aber die besten Tragödien, sagt eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen erteilet, sind ja die, welche sich unglücklich schließen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestätiget hat er ihn vielmehr.
Acht und dreißigstes Stück
Den 8ten September, 1767
Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genüge leistet. Unsern deutschen Übersetzer der Aristotelischen Dichtkunst,(23) hat sie eben so wenig befriediget. Er trägt seine Gründe dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug dünken, um seinen Autor lieber gänzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. »Ich überlasse, schließt er, einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklärung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe.«
Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten können, was ihm diesen Widerspruch gewissermaßen unvermeidlich machen müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anscheinend ist. Denn sonst würde er dem Verfasser, der seine Materie so oft überdenken müssen, gewiß am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeübterm Leser, der ich ihn zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurück, ponderiere ein jedes Wort, und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber daß er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sichs auch. Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Erklärung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. – Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer größern Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnügen.
Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, πραξεως; und eine Handlung ist ihm eine Verknüpfung von Begebenheiten, συνϑεσις πραγματων. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie die Güte eines jeden Ganzen, auf der Güte seiner einzeln Teile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, nach dem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede für sich und alle zusammen, den Absichten der Tragödie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der tragischen Handlung Statt haben können, unter drei Hauptstücke: des Glückswechsels, περιπετειας; der Erkennung, αναγνωρισμου; und des Leidens, παϑους. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles zusammen, was den handelnden Personen verderbliches und schmerzliches widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der Glückswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch die verwickelte Fabel, μυϑος πεπλεγμενος, von der einfachen, άπλω, unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stücke der Fabel; sie machen die Handlung nur mannichfaltiger, und dadurch schöner und interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre völlige Einheit und Rundung und Größe haben. Ohne das dritte hingegen läßt sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Leidens, παϑη, muß jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glückswechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem höhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstücke gebrachten Teile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, welches der beste Glückswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern, daß derjenige Glückswechsel der beste, das ist, der fähigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befördern, sei, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, daß diejenige Behandlung des Leidens die beste in dem nämlichen Verstande sei, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt.
Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die Gedanken haben muß, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten müssen? Ist denn die mögliche Vollkommenheit des einen, notwendig auch die Vollkommenheit des andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Glückswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmöglich, daß ein Ganzes Teile von entgegen gesetzten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, daß die beste Tragödie nichts als die Vorstellung einer Veränderung des Glückes in Unglück sei? Oder, wo sagt er, daß die beste Tragödie auf nichts, als auf die Erkennung dessen, hinauslaufen müsse, an dem eine grausam widernatürliche Tat verübet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der Tragödie überhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Glückswechsel kann sich mitten in dem Stücke eräugnen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z. E. der Glückswechsel im Ödip, der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts äußert, zu dem aber noch mancherlei Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stück schließet. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stücke zur Vollziehung gelangen sollen, und in dem nämlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so daß durch diese Erkennung das Stück nichts weniger als geendet ist; wie in der zweiten Iphigenia des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glückswechsel mit der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben Fabel verbinden lasse, kann man an der Merope selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch den erstern haben könnte, wenn nämlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte? Warum könnte sich dieses Stück nicht eben sowohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schließen? Warum sollte es einem Dichter nicht frei stehen können, um unser Mitleiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Würde eine solche Merope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem Kunstrichter so widersprechend findet?
Ich merke wohl, was das Mißverständnis veranlasset haben kann. Man hat sich einen Glückswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne Glückswechsel denken können. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere sein; nicht zu erwähnen, daß auch nicht beides eben die nämliche Person treffen muß, und wenn es die nämliche Person trifft, daß eben nicht beides sich zu der nämlichen Zeit eräugnen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu überlegen, hat man nur an solche Fälle und Fabeln gedacht, in welchen beide Teile entweder zusammen fließen, oder der eine den andern notwendig ausschließt. Daß es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der möglichsten Allgemeinheit abfaßt, ohne sich um die Fälle zu bekümmern, in welchen seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen, und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit sein; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, daß jede Fabel diese Teile alle notwendig haben müsse? Genug für ihn, daß es Fabeln gibt, die sie alle haben können. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser glücklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glückswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten überhaupt fahren würdet, und wählet. Das ist alles!
Neun und dreißigstes Stück
Den 11ten September, 1767
Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen, oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden, oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der Merope ist weder in dem einen, noch in dem andern Falle, so schlechterdings für eine vollkommene tragische Fabel zu erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er eben so wohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muß erst untersucht werden, wo er das größere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklärung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln Teile derselben. Vielleicht war der Mißbrauch seines Ansehens bei dem Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, daß eine so vollkommene Fabel von einem so großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstück werden müssen.
Doch Tournemine und Tournemine – Ich fürchte, meine Leser werden fragen: »Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine.« Denn viele dürften ihn wirklich nicht kennen; und manche dürften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu.(24)
Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns, von dem verlornen Stücke des Euripides, die nämlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei. Auch er sagt, daß Aristoteles diesem Coup de Théatre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, daß er dieses Stück des Euripides für das rührendste von allen Stücken desselben gehalten habe.(25) Dieses letztere ist nun gänzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stücke, aus welchem er die Situation der Merope anführt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder wie es heißt, noch wer der Verfasser desselben sei; geschweige, daß er es für das rührendste von allen Stücken des Euripides erkläre.
Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei! Welche Ausdrücke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick, der ganzen griechischen Bühne! Sollte man hieraus nicht schließen: Aristoteles gehe mit Fleiß alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben könne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, unter einander ab, und tue endlich so dreist als sicher den Ausspruch für diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beispiele anführet; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand ähnliche Beispiele in der Iphigenia, wo die Schwester den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu vergehen.
Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermutet, auch die Helle ein Werk dieses Dichters gewesen: so wäre es doch sonderbar, daß Aristoteles alle drei Beispiele von einer solchen glücklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter gefunden hätte, der sich der unglücklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht ausschließt; und obschon in der Iphigenia die glückliche Erkennung auf die unglückliche Peripetie folgt, und das Stück überhaupt also glücklich sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine unglückliche Peripetie auf die glückliche Erkennung folgte, und sie also völlig in der Manier schlossen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern verdiente?
Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art möglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, läßt sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem Kresphontes übrig sind, nicht schließen. Sie enthalten nichts als Sittensprüche und moralische Gesinnungen, von spätern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und werfen nicht das geringste Licht auf die Ökonomie des Stückes.(26) Aus dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Göttin des Friedens ist, scheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem Messenischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein Paar andern sollte man fast schließen, daß die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei ältern Söhne, entweder einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe, oder doch nur kurz vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des jüngern Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brüder zu rächen kam, nicht wohl zusammen reimet. Die größte Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des jüngern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen: wie konnte das Stück Kresphontes heißen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus, und nach andern Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte, und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde führte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muß längst tot sein, wenn sich der Sohn des väterlichen Reiches wieder bemächtiget. Hat man jemals gehört, daß ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkömmt? Corneille und Dacier haben sich geschwind über diese Schwierigkeit hinweg zu setzen gewußt, indem sie angenommen, daß der Sohn gleichfalls Kresphont geheißen;(27) aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? aus welchem Grunde?
Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so können wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn nämlich bei dem Hyginus, in der hundert und vier und achtzigsten Fabel, gefunden zu haben.(28) Denn er hält die Fabeln des Hyginus überhaupt, größten Teils für nichts, als für die Argumente alter Tragödien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius gewesen war; und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rat ist nicht übel, und zu befolgen. Auch hat ihn mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, daß er ihn gegeben. Herr Weiß hat den Stoff zu seinem Thyest aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verständiges Auge. Nur möchte es nicht der größte, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Teil sein, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragödien zusammen gesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragödienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation gemacht, scheinet selbst, die Tragödien als abgeleitete verdorbene Bäche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwürdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdrücklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzählt er, z. E. die Fabel von der Ino, und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser, und darauf in einem besondern Abschnitte, nach der Behandlung des Euripides.
Vierzigstes Stück
Den 15ten September, 1767
Damit will ich jedoch nicht sagen, daß, weil über der hundert und vier und achtzigsten Fabel der Name des Euripides nicht stehe, sie auch nicht aus dem Kresphont desselben könne gezogen sein. Vielmehr bekenne ich, daß sie wirklich den Gang und die Verwickelung eines Trauerspieles hat; so daß, wenn sie keines gewesen ist, sie doch leicht eines werden könnte, und zwar eines, dessen Plan der alten Simplizität weit näher käme, als alle neuere Meropen. Man urteile selbst: die Erzählung des Hyginus, die ich oben nur verkürzt angeführt, ist nach allen ihren Umständen folgende.
Kresphontes war König von Messenien, und hatte mit seiner Gemahlin Merope drei Söhne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem er, nebst seinen beiden ältesten Söhnen, das Leben verlor. Polyphontes bemächtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche während dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, Namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Ätolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewärtigen, und versprach also demjenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege räumen würde. Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr fähig fühlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Ätolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephontes umgebracht habe, und verlangte die ihm dafür ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf, und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu bewirten, bis er ihn weiter ausfragen könne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Müdigkeit einschlief. Indes kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Ätolien weg sei, ohne daß man wisse, wo er hingekommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der angekommene Fremde rühmte, mit einer Axt nach dem Gastzimmer, und hätte ihn im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt, und die Mutter an der Freveltat verhindert hätte. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versöhnt. Polyphontes dünkte sich aller seiner Wünsche gewähret, und wollte den Göttern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, führte Telephontes den Streich, mit dem er das Opfertier fällen zu wollen sich stellte, auf den König; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines väterlichen Reiches.(29) Auch hatten, schon in dem sechszehnten Jahrhunderte, zwei italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Ponponio Torelli, den Stoff zu ihren Trauerspielen, Kresphont und Merope, aus dieser Fabel des Hyginus genommen, und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Überzeugung ohngeachtet, wollte Maffei selbst, sein Werk so wenig zu einer bloßen Divination über den Euripides machen, und den verlornen Kresphont in seiner Merope wieder aufleben lassen, daß er vielmehr mit Fleiß von verschiednen Hauptzügen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging, und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin gerührt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte.
Die Mutter nämlich, die ihren Sohn so feurig liebte, daß sie sich an dem Mörder desselben mit eigner Hand rächen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die mütterliche Zärtlichkeit überhaupt zu schildern, und mit Ausschließung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stück zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkommen zusprach, ward verändert; welches besonders die Umstände von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswärtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlin des Polyphonts sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes überlassen zu haben, in dem sie den Mörder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche nähere Ansprüche auf den Thron haben könnten, zu befreien. Der Sohn mußte nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines väterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemächlichkeit, in der völligen Kenntnis seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die mütterliche Liebe erkaltet natürlicher Weise, wenn sie nicht durch die beständigen Vorstellungen des Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der ausdrücklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu rächen; er muß nicht von Meropen für den Mörder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafür ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von Zufällen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bei der ersten mündlichen Erklärung aus, und ihr rührender Kummer, ihre zärtliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel genug.
Und diesen Veränderungen zu Folge, kann man sich den Maffeischen Plan ungefähr vorstellen. Polyphontes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fühlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Königes zugetan, und rechnet auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Mißvergnügten zu beruhigen, fällt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er trägt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht verhelfen können. Eben dringt er am schärfesten in sie; als ein Jüngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstraße über einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Jüngling, hatte nichts getan, als sein eignes Leben gegen einen Räuber verteidiget; sein Ansehen verrät so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, daß Merope, die noch außerdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den König für ihn zu bitten; und der König begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ihren jüngsten Sohn, den sie einem alten Diener, Namens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er für seinen Vater hält, heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstraße ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen wäre? So denkt sie, und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene Umstände, durch die Bereitwilligkeit des Königs, den Mörder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestärket, den man bei dem Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, daß ihn Aegisth dem Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls, den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhändigen, wenn er erwachsen, und es Zeit sein würde, ihm seinen Stand zu entdecken. Sogleich läßt sie den Jüngling, für den sie vorher selbst gebeten, an eine Säule binden, und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstoßen. Der Jüngling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Ältern; ihm entfährt der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort sorgfältig zu vermeiden; Merope verlangt hierüber Erklärung: indem kömmt der König dazu, und der Jüngling wird befreiet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfällt sie wiederum darein zurück, als sie siehet, wie höhnisch der König über ihre Verzweiflung triumphiert. Nun ist Aegisth unfehlbar der Mörder ihres Sohnes, und nichts soll ihn vor ihrer Rache schützen. Sie erfährt mit einbrechender Nacht, daß er in dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und kömmt mit einer Axt, ihm den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen, und den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme fällt. Aegisth erwacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Mörder ihres Sohnes. Sie will ihm nach, und würde ihn leicht durch ihre stürmische Zärtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zurück gehalten hätte. Mit frühem Morgen soll ihre Vermählung mit dem Könige vollzogen werden; sie muß zu dem Altare, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den Tempel, dränget sich durch das Volk, und – das Übrige wie bei dem Hyginus.
Ein und vierzigstes Stück
Den 18ten September, 1767
Je schlechter es, zu Anfange dieses Jahrhunderts, mit dem italienischen Theater überhaupt aussahe, desto größer war der Beifall und das Zujauchzen, womit die Merope des Maffei aufgenommen wurde.
Cedite Romani scriptores, cedite Graii,
Nescio quid majus nascitur Oedipode:
schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stück gespielt, als Merope; die ganze Welt wollte die neue Tragödie sehen und wieder sehen; und selbst die Operbühnen fanden sich darüber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechszehn Jahren (von 1714-1730) sind mehr als dreißig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie ward ins Französische, ins Englische, ins Deutsche übersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Übersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Französische war sie bereits zweimal übersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals darüber machen wollte, um sie auch wirklich auf die französische Bühne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieses durch eine eigentliche Übersetzung nicht geschehen könnte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen Merope vorsetzte, umständlich angibt.
»Der Ton, sagt er, sei in der italienischen Merope viel zu naiv und bürgerlich, und der Geschmack des französischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen könne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zügen der Kunst sehen; und diese Züge müßten zu Paris weit anders als zu Verona sein.« Das ganze Schreiben ist mit der äußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlässigkeiten und Mängel werden auf die Rechnung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schönheiten, aber leider nur Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann nicht höflicher kritisieren! Aber die verzweifelte Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet. Die Höflichkeit macht, daß wir liebenswürdig scheinen, aber nicht groß; und der Franzose will eben so groß, als liebenswürdig scheinen.
Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei eben so viel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist Schade, daß eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat, und übrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder sei wirklich Lindelle: wer einen französischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise lächelt, und hinten die hämischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich möchte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Höflichkeit bleibet Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener hätte freimütiger, und dieser gerechter sein müssen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten sollte, daß der nämliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe.
Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zärtlichste Interesse aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delicatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natürlichsten Mitteln, welche die Umstände zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hören will;(30) wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Es hat sehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Mensch, der sich für den Sohn gemeiner Ältern hält, und in dem Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen Mord verübt, dem ohngeachtet nicht soll für einen Räuber gehalten werden dürfen, weil es voraus sieht, daß er der Held des Stückes werden müsse;(31) wenn es beleidiget wird, daß man einem solchen Menschen keinen kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Fähndrich in des Königs Armee sei, der nicht de belles Nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich, hat in diesen und ähnlichen Fällen Unrecht: aber warum muß Voltaire auch in andern Fällen, wo es gewiß nicht Unrecht hat, dennoch lieber ihm, als dem Maffei Unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die französische Höflichkeit gegen Ausländer darin besteht, daß man ihnen auch in solchen Stücken Recht gibt, wo sie sich schämen müßten, Recht zu haben, so weiß ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanständiger sein kann, als diese französische Höflichkeit. Das Geschwätz, welches Maffei seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von prächtigen Krönungen, denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs höchste gestiegen und die Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschäftiget ist: dieses Nestorische, aber am unrechten Orte Nestorische, Geschwätz, kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen kultivierten Völkern, entschuldiget werden; hier muß der Geschmack überall der nämliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht eben sowohl dabei gähnet und darüber unwillig wird, als der Franzose. »Sie haben, sagt Voltaire zu dem Marquis, in Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Vergleichung des Virgils:
Qualis populea moerens Philomela sub umbra
Amissos queritur foetus – – –
übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen wollte, so würde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen müssen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, daß in der Tragödie überall der Held, und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bei kritischen Vorfällen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr, kein König, kein Minister poetische Vergleichungen zu machen pflege.« Aber verlangt denn dieses Publikum etwas unrechts, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum eben dieses verlangen? eben dieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freimütigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu sagen, daß er hier und an mehrern Stellen luxuriere, und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausführliche Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden können, hätte er anmerken sollen, daß jenes Virgilische von dem Maffei äußerst gemißbrauchet worden. Bei dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon es das Bild sein soll, triumphieret, und müßte nach der Gesinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere, und auf das Ganze noch größern Einfluß habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener überhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Last zu legen, und dünkt sich von der allerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation wären; daß aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler wären, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und für sich gut oder schlecht sei, sondern was die Nation dafür wolle gelten lassen. »Wie hätte ich es wagen dürfen,« fährt er mit einem tiefen Bücklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis fort, »bloße Nebenpersonen so oft mit einander sprechen zu lassen, als Sie getan haben? Sie dienen bei Ihnen die interessanten Szenen zwischen den Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugänge zu einem schönen Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Palaste befinden. Wir müssen uns also schon nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches sich an Meisterstücken satt gesehen hat, und also äußerst verwöhnt ist.« Was heißt dieses anders, als: »Mein Herr Marquis, Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Szenen. Aber es sei fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnützen Szenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiße gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich wünschte, daß ich auch so wohlfeil davon kommen könnte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter sein muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr übersieht« – Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; denn sonst,
Desinit in piscem mulier formosa superne:
aus der Höflichkeit wird Persiflage, (ich brauche dieses französische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen) und aus der Persiflage, dummer Stolz.
Zwei und vierzigstes Stück
Den 22sten September, 1767
Es ist nicht zu leugnen, daß ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire als Eigentümlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgänger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen Nation überhaupt zur Last zu legen, daß, sage ich, diese, und noch mehrere, und noch größere, sich in der Merope des Maffei befinden.
Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der berühmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen für das eigentliche Genie, welches zur Tragödie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Altertümer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung für das tragische Genie sind. Er war unter Kirchenväter und Diplomen vergraben, und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche Veranlassung, seine Merope vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwei Monaten zu Stande brachte. Wenn dieser Mann, unter solchen Beschäftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstück gemacht hätte, so müßte er der außerordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragödie überhaupt ist ein sehr geringfügiges Ding. Was indes ein Gelehrter, von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als glücklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Büchern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeigt von mehr Phantasie, als Gefühl; der Literator und der Versificateur läßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und der Dichter.
Als Versificateur läuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemälde, die in seinem Munde nicht genug bewundert werden könnten; aber in dem Munde seiner Personen unerträglich sind, und in die lächerlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es, z. E. zwar sehr schicklich, daß Aegisth seinen Kampf mit dem Räuber, den er umgebracht, umständlich beschreibet, denn auf diesen Umständen beruhet seine Verteidigung; daß er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu haben bekennet, alle, selbst die allerkleinsten, Phänomena malet, die den Fall eines schweren Körpers ins Wasser begleiten, wie er hinein schießt, mit welchem Geräusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie sich die Flut wieder über ihn zuschließt:(32) das würde man auch nicht einmal einem kalten geschwätzigen Advokaten, der für ihn spräche, verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet, und sein Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als daß er in seiner Erzählung so kindisch genau sein könnte.
Als Literator hat er zu viel Achtung für die Simplizität der alten griechischen Sitten, und für das Costume bezeigt, mit welchem wir sie bei dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Costume näher gebracht werden muß, wenn es der Rührung im Trauerspiele nicht mehr schädlich, als zuträglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schöne Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was für einer Art von Werken er sie entlehnt, und in was für eine Art von Werken er sie überträgt. Nestor ist in der Epopee ein gesprächiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragödie ein alter ekler Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides hätte folgen wollen: so würde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er hätte es sodann für seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes übrig sind, zu nutzen, und seinem Werke getreulich einzuflechten.(33) Wo er also geglaubt hätte, daß sie sich hinpaßten, hätte er sie als Pfähle aufgerichtet, nach welchen sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen müssen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprüche, womit man seine Lücken füllet, so sind es andere.
Dem ohngeachtet möchten sich wiederum Stellen finden, wo man wünschen dürfte, daß sich der Literator weniger vergessen hätte. Z. E. Nachdem die Erkennung vorgegangen, und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so läßt er die Ismene, voller Erstaunen ausrufen: »Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie jemals auf einer Bühne erdichtet worden!«
Con cosi strani avvenimenti uom forse
Non vide mai favoleggiar le scene.
Maffei hat sich nicht erinnert, daß die Geschichte seines Stücks in eine Zeit fällt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich würde diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede entschuldigen zu müssen glaubte, daß er den Namen Messene zu einer Zeit brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil Homer keiner erwähne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten halten, wie er will: nur verlangt man, daß er sich immer gleich bleibet, und daß er sich nicht einmal über etwas Bedenken macht, worüber er ein andermal kühnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, daß er den Anstoß vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen. Überhaupt würden mir die angeführten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob Maffei die Illusion eher noch bestärken wollen, indem er das Theater ausdrücklich außer dem Theater annehmen läßt; doch die bloßen Worte, Bühne und erdichten, sind der Sache schon nachteilig, und bringen uns geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegen zu setzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Täuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert.
Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnügt, was ihm sein Stoff von selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Würde; da ist so viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude des Harlekins zu dulden wäre; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulschnitzern. »Mit einem Worte, schließt er, das Werk des Maffei enthält einen schönen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stück. Alle Welt kömmt in Paris darin überein, daß man die Vorstellung desselben nicht würde haben aushalten können; und in Italien selbst wird von verständigen Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragödie zu übersetzen; er konnte leichter einen Übersetzer bezahlen, als sein Stück verbessern.«
So wie es selten Komplimente gibt, ohne alle Lügen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stücken wider den Maffei Recht, und möchte er doch höflich oder grob sein, wenn er sich begnügte, ihn bloß zu tadeln. Aber er will ihn unter die Füße treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke. Er schämt sich nicht, offenbare Lügen zu sagen, augenscheinliche Verfälschungen zu begehen, um nur ein recht hämisches Gelächter aufschlagen zu können. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum Teil gefühlt zu haben, und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an Lindellen, den Maffei in allen den Stücken zu verteidigen, in welchen er sich zugleich mit verteidigen zu müssen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit sich selbst, dünkt mich, fehlt das interessanteste Stück; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire hätte mitteilen wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum die Eigentümlichkeiten des französischen Geschmacks ins Licht zu stellen? ihm zu zeigen, warum die französische Merope eben so wenig in Italien, als die italienische in Frankreich gefallen könne? –
Drei und vierzigstes Stück
Den 25sten September, 1767
So etwas läßt sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben könnten.
Lindern, vors erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z. E., Aegisth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: O mein alter Vater! und die Königin werde durch dieses Wort, alter Vater, so gerühret, daß sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth könne wohl ihr Sohn sein. Ist das nicht, setzt er höhnisch hinzu, eine sehr gegründete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas sonderbares, daß ein junger Mensch einen alten Vater hat! »Maffei, fährt er fort, hat mir diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler verbessern wollen, den er in der erstern Ausgabe seines Stückes begangen hatte. Aegisth rief da: Ach, Polydor, mein Vater! Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen Polydor hätte die Königin gar nicht mehr zweifeln müssen, daß Aegisth ihr Sohn sei; und das Stück wäre aus gewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft; aber seine Stelle hat ein noch weit gröberer eingenommen.« Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Königin stutzt bloß bei dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das Messenische Gebiete zu setzen. Sie gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloß nähere Erklärung; und ehe sie diese erhalten kann, kömmt der König dazu. Der König läßt den Aegisth wieder los binden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht worden, billiget und rühmet, und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen verspricht: so muß wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurückfallen. Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluß muß notwendig bei ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß sie eines bloßen Namens wegen, den ja wohl mehrere führen können, mit der Vollziehung ihrer Rache gezaudert habe:
Che dubitar? misera, ed io da un nome
Trattener mi lasciai, quasi un tal nome
Altri aver non potesse –
und die folgenden Äußerungen des Tyrannen können sie nicht anders als in der Meinung vollends bestärken, daß er von dem Tode ihres Sohnes die allerzuverlässigste, gewisseste Nachricht haben müsse. Ist denn das also nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich gestehen, daß ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal für sehr nötig halte. Laßt es den Aegisth immerhin sagen, daß sein Vater Polydor heiße! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hieße, und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede, das für wahrscheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiß, daß er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der bloßen Übereinstimmung eines Namens schließen könnte. Freilich, wenn sie wüßte, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei der Mörder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung gründe: so wäre es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund zu glauben, daß er seiner Sache werde gewiß sein. – Es versteht sich, daß ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum nicht für schön ausgebe; der Poet hätte unstreitig seine Anlage viel feiner machen können. Sondern ich will nur sagen, daß auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und daß es gar wohl möglich und wahrscheinlich ist, daß Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren, und bei der ersten Gelegenheit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen können. Worüber ich mich also beleidiget finden möchte, wäre nicht dieses, daß sie zum zweitenmale, ihren Sohn als den Mörder ihres Sohnes zu ermorden, kömmt: sondern dieses, daß sie zum zweitenmale durch einen glücklichen ungefähren Zufall daran verhindert wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, könnte auch den Gründen der schwächern das Übergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es um so viel lieber glauben, je mehr uns die Überraschung gefällt. Aber daß er zum zweitenmale die nämliche Übereilung, auf die nämliche Weise, verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; eben dieselbe Überraschung wiederholt, hört auf Überraschung zu sein; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar eben so abenteurlich, aber nicht eben so mannichfaltig zu sein weiß, als der Zufall.
Von den augenscheinlichen und vorsetzlichen Verfälschungen des Lindelle, will ich nur zwei anführen. – »Der vierte Akt, sagt er, fängt mit einer kalten und unnötigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth, und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen wäre, ihn die Königin mit aller Gemächlichkeit umbringen könne. Er schläft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schön! und die Königin kömmt zum zweitenmale, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdrücklich deswegen schläft. Diese nämliche Situation, zweimal wiederholt, verrät die äußerste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so lächerlich, daß in der Welt nichts lächerlicher sein kann.« Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das lügt Lindelle.(34) Aegisth trifft die Vertraute und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Königin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschäfte rufe sie itzt wo anders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Königin in die Hände zu liefern; sie beredet ihn zu bleiben, aber nicht zu schlafen: und Aegisth, welcher, seinem Versprechen nach, bleibet, schläft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schläft, weil er müde ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen können, als hier.(35) – Die zweite Lüge des Lindelle ist von eben dem Schlage. »Merope, sagt er, nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was für eine Belohnung er dafür verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjüngen.« Bittet sie, ihn zu verjüngen? »Die Belohnung meines Dienstes, antwortet der Alte, ist dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnügt sehe. Was könntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines möchte ich mir wünschen; aber das stehet weder in deiner, noch in irgend eines Sterblichen Gewalt, mir zu gewähren; daß mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert würde, u.s.w.«(36) Heißt das: erleichtere Du mir diese Last? gib Du mir Stärke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Ungemächlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit, Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter, im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt. – Anlügt! Lügen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte? – Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu lügen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, daß er gelogen hat? –
Vier und vierzigstes Stück
Den 29sten September, 1767
Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war.
Ich übergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fühlte, daß der Wurf auf ihn zurückpralle. – Lindelle hatte gesagt, daß es sehr schwache und unedle Merkmale wären, aus welchen Merope bei dem Maffei schließe, daß Aegisth der Mörder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet: »Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, daß Maffei es viel künstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, daß ihr Sohn der Mörder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, würde das auf unserm Theater sehr klein scheinen.« Aber mußte denn Voltaire eben eine alte Rüstung anstatt des Ringes wählen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Rüstung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen wäre, sich keine neue Rüstung kaufen dürfe, und sich mit der alten seines Vaters behelfen könne? Der vorsichtige Alte! Ließ er sich nicht auch ein Paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah es, damit Aegisth einmal an dieser Rüstung erkannt werden könne? So eine Rüstung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienrüstung, die Vulkan selbst dem Großgroßvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Rüstung? Oder wenigstens mit schönen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist: so mußte sie der Alte freilich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, daß er unter den blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht hätte, auch zugleich an eine so nützliche Möbel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so mußte er doch nicht auch die Rüstung seines Vaters verlieren, in der er jenes wieder erobern konnte. – Zweitens hatte sich Lindelle über den Polyphont des Maffei aufgehalten, der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: »Weder Maffei, noch ich, haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen solchen Fehler für sehr gering halte, wenn das Interesse, welches er hervor bringt, beträchtlich ist.« Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff verändert. Was brauchte Voltaire diese Veränderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe? –
Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine ähnliche Rücksicht auf sich selbst hätte nehmen können: aber welcher Vater sieht alle Fehler seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, daß er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich wäre dieser Fremde!
Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er seine Szenen oft nicht verbinde, daß er das Theater oft leer lasse, daß seine Personen oft ohne Ursache aufträten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heut zu Tage auch dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe. – Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der französischen Kunstrichter überhaupt; die muß ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein mögen; wollen wir es Lindellen auf sein Wort glauben, daß sie bei den Dichtern seines Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der größten Regelmäßigkeit rühmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln eine solche Ausdehnung geben, daß es sich kaum mehr der Mühe verlohnet, sie als Regeln vorzutragen, oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beobachten, daß es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen, als gar nicht.(37) Besonders ist Voltaire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, daß er alle Freiheit behält, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer, und macht so ängstliche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Überwindung, ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es, bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern, noch so sehr Mode ist, es fast aus keinem andern, als aus diesem, zu betrachten; da es der ist, aus welchem die Bewunderer des französischen Theaters, das lauteste Geschrei erheben: so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit einstimme.
1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich Anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundsätzen und Beispielen der Alten, ein Hedelin verlangen zu können glaubte. Die Szene muß kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des Palastes sein, wie ihn das Auge aus einem und eben demselben Standorte zu übersehen fähig ist. Ob sie ein ganzer Palast, oder eine ganze Stadt, oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein ausdrückliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung, und wollte, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei. Wenn er seine besten Stücke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so mußte er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das muß Voltairen Recht sein. Ich sage also nichts dagegen, daß eigentlich die Szene bald in dem Zimmer der Königin, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vorhofe, bald nach dieser bald nach einer andern Aussicht, muß gedacht werden. Nur hätte er bei diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie müssen nicht in den nämlichen Akte, am wenigsten in der nämlichen Szene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muß durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in eben derselben Szene abändern, oder auch nur erweitern oder verengern, ist die äußerste Ungereimtheit von der Welt. – Der dritte Akt der Merope mag auf einem freien Platze, unter einem Säulengange, oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmahl des Kresphontes zu sehen, an welchem die Königin den Aegisth mit eigner Hand hinrichten will: was kann man sich armseliger vorstellen, als daß, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth wegführet, diese Vertiefung hinter sich zuschließen muß? Wie schließt er sie zu? Fällt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhängen überhaupt sagt, gepaßt hat, so ist es auf diesen;(38) besonders wenn man zugleich die Ursache erwägt, warum Aegisth so plötzlich abgeführt, durch diese Maschinerie so augenblicklich aus dem Gesichte gebracht werden muß, von der ich hernach reden will. – Eben so ein Vorhang wird in dem fünften Akte aufgezogen. Die ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der siebenden erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um einen toten Körper in einem blutigen Rocke sehen zu können. Durch welches Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen, die Türen dieses Tempels eröffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Königlichen Majestät Schloßkapelle, die gerade an den Saal stieß, und mit ihm Kommunikation hatte, damit Allerhöchstdieselben jederzeit trocknes Fußes zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen; wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat, und ja den kürzesten Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat schon vollbracht haben soll.
Fünf und vierzigstes Stück
Den 2ten Oktober, 1767
2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner Merope vorgehen läßt, an einem Tage geschehen; und sage, wie viel Ungereimtheiten man sich dabei denken muß. Man nehme immer einen völligen, natürlichen Tag; man gebe ihm immer die dreißig Stunden, auf die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem Zeitraume nicht hätten geschehen können; aber desto mehr moralische. Es ist freilich nicht unmöglich, daß man innerhalb zwölf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders, wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, verlangt man nicht eine so gewaltsame Beschleunigung durch die allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen? Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch soll uns, was bloß physikalischer Weise möglich ist, denn wahrscheinlich werden? Der Staat will sich einen König wählen; Polyphont und der abwesende Aegisth können allein dabei in Betrachtung kommen; um die Ansprüche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben heiraten; an eben demselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich, und fällt für ihn aus; Polyphont ist also König, und man sollte glauben, Aegisth möge nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwählte König könne es, vors erste, mit ihm ansehen. Nichtsweniger; er bestehet auf der Heirat, und bestehet darauf, daß sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben des Tages, an dem er Meropen zum erstenmale seine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Könige ausgerufen. Ein so alter Soldat, und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik. Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so zu mißhandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht König war, als sie glauben mußte, daß ihn ihre Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen sollte; aber nun ist er König, und ist es geworden, ohne sich auf den Titel ihres Gemahls zu gründen; er wiederhole seinen Antrag, und vielleicht gibt sie es näher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewöhnen, ihn als ihres gleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu nötig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen? Wird es ihren Anhängern unbekannt bleiben, daß sie gezwungen worden? Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu müssen glauben? Werden sie nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten, und in seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben, sich für verbunden achten? Vergebens, daß das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr sonst so bedächtlich zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun selbst in die Hände liefert, und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Ansprüche zu besitzen, anbietet, das weit kürzer, weit unfehlbarer ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muß geheiratet sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue König will bei der alten Königin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man sich etwas komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn daß es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen könne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eräugnung ungefähr nicht viel mehr Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage tun läßt, kann zwar an einem Tage getan werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es an einem Tage tun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt daß die Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmöglichkeit involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstößig ist, weil diese Unmöglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stücke, von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen können es an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet, und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinem Vorteil, und opfert das Wesentlichere dem Zufälligen auf. – Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu Hülfe; und die Vermählung, die Polyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie übereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem Könige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfängt.
3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde öfters die Szenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heut zu Tage auch den geringsten Poeten nicht verzeihe. »Die Verbindung der Szenen, sagt Corneille, ist eine große Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie ist aber doch nur eine Zierde, und keine Regel; denn die Alten haben sich ihr nicht immer unterworfen u.s.w.« Wie? ist die Tragödie bei den Franzosen seit ihrem großen Corneille so viel vollkommener geworden, daß das, was dieser bloß für eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der Tragödie noch mehr verkennen gelernt, daß sie auf Dinge einen so großen Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Corneille immer wenigstens eben so glaubwürdig sein, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire aufgehen, nach welchem er das Theater öfters länger voll läßt, als es bleiben sollte. Wenn z. E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Königin kömmt, und die Königin mit der dritten Szene abgeht, mit was für Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Königin verweilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das Bedürfnis des Dichters verrät sich in der vierten Szene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen müssen, nur daß wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet hätten.
4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen oft gar nicht: – und Voltaire motiviert es eben so oft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie kömmt, man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen müssen. Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand, und keine Ursache. Wenn z. E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Königin zu versammeln; so müßte man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hören. Da wir aber nichts davon zu hören bekommen, so ist sein Vorgeben ein schülerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Lügen, die dem Knaben einfällt. Er geht nicht ab, um das zu tun, was er sagt, sondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu können, die der Poet durch keinen andern erteilen zu lassen wußte. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Coulisse hinein; worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfängt, und nicht etwa seinen Unwillen äußert, daß ihm die Königin nicht in den Tempel gefolgt ist, (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit,) sondern wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, über die er nicht hier, über die er zu Hause in seinem Gemache, mit ihm hätte schwatzen sollen. Nun schließt auch der vierte Akt, und schließt vollkommen wie der dritte. Polyphont zitiert die Königin nochmals nach dem Tempel, Merope selbst schreiet,
Courons tous vers le temple ou m’attend mon outrage;
und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie,
Vous venez à l’autel entrainer la victime.
Folglich werden sie doch gewiß zu Anfange des fünften Akts in dem Tempel sein, wo sie nicht schon gar wieder zurück sind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und kömmt noch einmal wieder, und schickt auch die Königin noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten und fünften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen sollte; sondern es geschieht auch, platter Dings, gar nichts, und der dritte und vierte Akt schließen bloß, damit der vierte und fünfte wieder anfangen können.
Sechs und vierzigstes Stück
Den 6ten Oktober, 1767
Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben.
Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben würden, als es jene notwendig erfordert hätte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen wäre. Da nämlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen haben mußten, und diese Menge immer die nämliche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch länger aus denselben wegbleiben konnte, als man gewöhnlichermaßen der bloßen Neugierde wegen zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und eben denselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben denselben Tag einschränken. Dieser Einschränkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß sie, unter neunmalen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren. Denn sie ließen sich diesen Zwang einen Anlaß sein, die Handlung selbst so zu simplifiieren, alles Überflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern, daß sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am glücklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umständen der Zeit und des Ortes verlangte.
Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intriguen der spanischen Stücke schon verwöhnt waren, ehe sie die griechische Simplizität kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, sondern als für sich zur Vorstellung einer Handlung unumgängliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen müßten, als es nur immer der Gebrauch des Chors erfordern könnte, dem sie doch gänzlich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmöglich öfters, dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren völligen Gehorsam aufzukündigen, nicht Mut genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes, führten sie einen unbestimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen, einbilden könne; genug, wenn diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit aus einander lägen, und keiner eine besondere Verzierung bedürfe, sondern die nämliche Verzierung ungefähr dem einen so gut als dem andern zukommen könne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne hörte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht öfterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin eräugnen, ließen sie für einen Tag gelten.
Niemand würde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreffliche Stücke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Brett, wo es am dünnsten ist. – Aber ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muß ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den astigsten Teil des Brettes zeigen, und schreien: Da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren! – Gleichwohl schreien die französischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stücke der Engländer kommen. Was für ein Aufhebens machen sie von der Regelmäßigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben! – Doch mir ekelt, mich bei diesen Elementen länger aufzuhalten.
Möchten meinetwegen Voltairens und Maffeis Merope acht Tage dauern, und an sieben Orten in Griechenland spielen! Möchten sie aber auch nur die Schönheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen!
Die strengste Regelmäßigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei öfters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat Recht über die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu räumen; das Volk in alle die Wollüste zu versenken, die es entkräften und weibisch machen können; die größten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der Gnade, ungestraft zu lassen u.s.w. wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen unsinnigen Weg zu regieren einschlägt, wird er sich dessen auch rühmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schulübung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen.(39) – Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig läßt Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber mit unter läßt er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiß kein Mann von dieser Art über die Zunge bringt. Z. E.
– Des Dieux quelquefois la longue patience
Fait sur nous à pas lents descendre la vengence –
Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert:
Eh bien, encor ce crime! – –
Wie unbesonnen, und in den Tag hinein, er gegen Meropen handelt, habe ich schon berührt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem eben so verschlagnen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger ähnlich. Aegisth hätte bei dem Opfer gerade nicht erscheinen müssen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwören? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?(40) Er hat sich für seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkühnen Aegisth läßt er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand fällt, ein Schwert werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht, und hält ihn für seinen Freund. Warum hätte Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht nähern dürfen? Niemand gab auf seine Bewegungen Acht; der Streich war geschehen, und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen einkommen konnte, den ersten zu rächen.
»Merope, sagt Lindelle, wenn sie bei dem Maffei erfährt, daß ihr Sohn ermordet sei, will dem Mörder das Herz aus dem Leibe reißen, und es mit ihren Zähnen zerfleischen.(41) Das heißt, sich wie eine Kannibalin, und nicht wie eine betrübte Mutter ausdrücken; das Anständige muß überall beobachtet werden.« Ganz recht; aber obgleich die französische Merope delikater ist, als daß sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beißen sollte: so dünkt mich doch, ist sie im Grunde eben so gut Kannibalin, als die Italienische. –
Sieben und vierzigstes Stück
Den 9ten Oktober, 1767
Und wie das? – Wenn es unstreitig ist, daß man den Menschen mehr nach seinen Taten, als nach seinen Reden richten muß; daß ein rasches Wort, in der Hitze der Leidenschaft ausgestoßen, für seinen moralischen Charakter wenig, eine überlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl Recht haben. Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überläßt, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie unglücklich ihr abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid über alle Unglückliche erstrecket: ist das schöne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit erfährt, von ihrem Schmerze betäubt dahin sinkt, und plötzlich, sobald sie den Mörder in ihrer Gewalt höret, wieder aufspringt, und tobet, und wütet, und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet, und wirklich vollziehen würde, wenn er sich eben unter ihren Händen befände: ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schönheit und Rührung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet, und selbst die Henkerin sein, nicht töten sondern martern, nicht strafen sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Bärin ist. – Diese Handlung der Merope gefalle wem da will; mir sage er es nur nicht, daß sie ihm gefällt, wenn ich ihn nicht eben so sehr verachten, als verabscheuen soll.
Vielleicht dürfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht dürfte er sagen, Merope müsse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze Coup de Théatre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser ehedem so sehr entzückt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire würde sich wiederum irren, und die willkürlichen Abweichungen des Maffei abermals für den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller Überlegung tun muß. Und so scheinet sie es auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus für den Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der Alte kömmt und sagt der Königin weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie gehört, daß ein Fremder angelangt sei, der sich rühme, ihn umgebracht zu haben, und daß dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Hände fällt, eilet voller Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natürlich, sehr rührend und menschlich! Die Athenienser zitterten für den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu dürfen. Sie zitterten für Meropen selbst, die durch die gutartigste Übereilung Gefahr lief, die Mörderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich bloß für den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß ich es ihr fast gönnen möchte, sie vollführte den Streich. Möchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so hätte sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Mörder was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Rüstung bei ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hülfe zu nehmen – O pfui, Madame! Ich müßte mich sehr irren, oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden.
Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, eben so wenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon berührt.(42) Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheiratet; und es ist sehr glaublich, daß selbst Euripides diesen Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben,(43) hätten sie auch vor funfzehn Jahren dazu vermögen können. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Mörder ihrer Männer überwanden und sie zu ihren zweiten Männern annahmen, wenn sie sahen, daß den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen könne. Ich erinnere mich etwas ähnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d’Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen trägt, auf eine sehr rührende Art darüber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angeführt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand. Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen wäre, die Aufführung seiner Merope zu rechtfertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingeführet hätte. Die kalten Szenen einer politischen Liebe wären dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter, und die Situationen noch weit intriguanter hätten werden können.
Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es einen bessern geben könne, daß dieser bessere eben der sei, der schon vor Alters befahren worden, so begnügte er sich auf jenem ein Paar Sandsteine aus dem Gleise zu räumen, über die er meinet, daß sein Vorgänger fast umgeschmissen hätte. Würde er wohl sonst auch dieses von ihm beibehalten haben, daß Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefähr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige Merkmale in den Verdacht kommen muß, daß er der Mörder seiner selbst sei? Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdrücklichen Vorsatze, sich zu rächen, nach Messene, und gab sich selbst für den Mörder des Aegisth aus; nur daß er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei aus Vorsicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was sonst für Ursache, an der es ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar oben(44) dem Maffei einige Gründe zu allen den Veränderungen, die er mit dem Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gründe für wichtig, und die Veränderungen für glücklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder Tritt, den er aus den Fußtapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß sich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefähr nach Messene kömmt, und per combinazione d’accidenti (wie Maffei es ausdrückt) für den Mörder des Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwächt auch das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er Aegisth sei, und je gewisser er es wußte, daß Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto größer mußte notwendig das Schrecken sein, das ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid, welches er voraus sahe, Falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert würde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuten wir es nur, daß der vermeinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhöret. Das schlimmste dabei ist noch dieses, daß die Gründe, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuten lassen, eben die Gründe sind, aus welchen es Merope selbst vermuten sollte; und daß wir ihn, besonders bei Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stücke näher und zuverlässiger kennen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gründen entweder eben so viel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben so viel, so halten wir den Jüngling mit ihr für einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr rühren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht besser darauf merket, und sich von weit seichtern Gründen hinreißen läßt. Beides aber taugt nicht.
Acht und vierzigstes Stück
Den 13ten Oktober, 1767
Es ist wahr, unsere Überraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Überraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muß, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.
Ich will, über diesen Punkt, den besten französischen Kunstrichter für mich sprechen lassen. »In den verwickelten Stücken, sagt Diderot,(45) ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stücken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß sich das Interesse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muß. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schürzen, ohne daß sie es wissen; für diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne daß sie es merken, der Auflösung immer näher und näher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zuschauer den nämlichen Bewegungen schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden müssen. – Weit gefehlt, daß ich mit den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man müsse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte nicht übersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorsetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Szene verraten würde, und aus diesem Umstande selbst das allerstärkeste Interesse entspränge. – Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll. – O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, so oft es ihm beliebt! – Meine Gedanken mögen so paradox scheinen, als sie wollen: so viel weiß ich gewiß, daß für eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich eräugnet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das Gegenteil erfodert. – Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis eine kurze Überraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht hätte! – Wer in einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick betauern. Aber wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet, und lange Zeit darüber verweilet? – Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennet. – Ja, ich wollte fast behaupten, daß der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen. – Warum haben gewisse Monologen eine so große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschläge einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfüllet. – Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessieren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat, und es fühlet, daß Handlung und Reden ganz anders sein würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann.«
Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, für welchen von beiden Planen sich Diderot erklären würde: ob für den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth eben so gut kennen, als er sich selbst; oder für den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Rätsel ist, und dadurch das ganze Stück »zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen« macht die weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorbringen.
Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine Gedanken über die Entbehrlichkeit und Geringfügigkeit aller ungewissen Erwartungen und plötzlichen Überraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, für eben so neu als gegründet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vorgänger nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgänger gehört weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Prädilection für dieses Gegenteil hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stücken der Alten abgesehen hatten.
Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Verteidigung seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kriticis so sehr mißfallen. »Nicht genug, sagt Hedelin, daß er meistenteils alles, was vor der Handlung des Stücks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhörern geradezu erzählen läßt, um ihnen auf diese Weise das Folgende verständlich zu machen: er nimmt auch wohl öfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen müssen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kund macht. Wir erfahren sonach gleich Anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe, und sehen jeden Zufall schon von weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beständig herrschen sollen, gänzlich zuwider ist, und alle Annehmlichkeiten des Stückes vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Überraschung beruhen.«(46) Nein: der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschätzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit höhern Vollkommenheit fähig wäre, und daß die Ergetzung einer kindischen Neugierde das geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. Folglich müßte den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstößig sein, als nur dieses, daß er uns die nötige Kenntis des Vergangnen und des Zukünftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht; daß er ein höheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Anteil nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieses höhere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzählenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann bloß hierauf einschränkten, was wäre denn ihr Tadel? Ist uns das Nützliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns verstohlner Weise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, daß wir sie durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau von einander ab, als möglich; aber wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch, und untersuche bloß, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder ganz Erzählung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser Zwitter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Geburten eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren?-
Neun und vierzigstes Stück
Den 16ten Oktober, 1767
Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermögen, oder aus Gemächlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als möglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde eben so regelmäßig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stücken eine Schönheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben.
Denn es ist klar, daß alle die Stücke, deren Prologe ihnen so viel Ärgernis machen, auch ohne diese Prologe, vollkommen ganz, und vollkommen verständlich sind. Streichet z. E. vor dem Jon den Prolog des Merkurs, vor der Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der Morgenandacht des Jon, und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstümmelt? Woher würdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da wäre? Behält nicht alles den nämlichen Gang, den nämlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, daß die Stücke, nach eurer Art zu denken, desto schöner sein würden, wenn wir aus den Prologen nicht wüßten, daß der Jon, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Jon von dem Altar zu einem schmählichen Tode reißen will, die Mutter dieses Jon ist; wenn wir nicht wüßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte unglückliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses würde die trefflichsten Überraschungen geben, und diese Überraschungen würden noch dazu vorbereitet genug sein: ohne daß ihr sagen könntet, sie brächen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, sondern sie entstünden; man wolle euch, nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wollüstigen Schößling schneidet der Gärtner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen, – es ist wahr, es heißt sehr viel annehmen, – daß Euripides vielleicht eben so viel Einsicht, eben so viel Geschmack könne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um so viel mehr, wie er bei dieser großen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen können: so tretet zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es so gut, als wir, daß z. E. sein Jon ohne den Prolog bestehen könne; daß er, ohne denselben, ein Stück sei, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zuschauers, bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewißheit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fünften Akte, daß Jon der Sohn der Kreusa sei: so ist es für ihn nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten Akte aus dem Wege räumen will; so ist es für ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher sich Jon in dem vierten Akte rächen will, sondern bloß die Meuchelmörderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? Die bloße Vermutung, die sich etwa aus übereintreffenden Umständen hätte ziehen lassen, daß Jon und Kreusa einander wohl näher angehen könnten, als sie meinen, würde dazu nicht hinreichend gewesen sein. Diese Vermutung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhörer diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht möglich war, daß er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter sie ihm auf die einzige mögliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragödie ist dadurch, was eine Tragödie sein soll; und wenn ihr noch unwillig seid, daß er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stücken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads Kreusa, wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides Jon: und ich werde euch nie beneiden!
Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht bloß darauf, daß die meisten seiner Stücke eine unglückliche Katastrophe haben; ob ich schon weiß, daß viele den Stagyriten so verstehen. Denn das Kunststück wäre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stümper, der brav würgen und morden, und keine von seinen Personen gesund oder lebendig von der Bühne kommen ließe, würde sich eben so tragisch dünken dürfen, als Euripides. Aristoteles hatte unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zu Folge er ihm diesen Charakter erteilte; und ohne Zweifel, daß die eben berührte mit dazu gehörte, vermöge der er nämlich den Zuschauern alle das Unglück, welches seine Personen überraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer auch dann schon mit Mitleiden für die Personen einzunehmen, wenn diese Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. – Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher dürfte der Meinung sein, daß der Dichter dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schönen Sittensprüchen, den er so verschwendrisch in seinen Stücken ausstreuet. Ich denke, daß er ihr weit mehr schuldig war; er hätte, ohne sie, eben so spruchreich sein können; aber vielleicht würde er, ohne sie, nicht so tragisch geworden sein. Schöne Sentenzen und Moralen sind überhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hören; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen, und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so einen Freund hat, – und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann! –
Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, daß es gut sein würde, wenn er uns mit dem Sohne der Merope gleich Anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Überzeugung, daß der liebenswürdige unglückliche Jüngling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Mörder ihres Aegisths hinrichten will, der nämliche Aegisth sei, sofort könne aussetzen lassen. Aber der Jüngling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn könnten kennen lernen. Was tut also der Dichter? Wie fängt er es an, daß wir es gewiß wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft? – O, das fängt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen! – Er läßt, sobald der unbekannte Jüngling auftritt, über das erste, was er sagt, mit großen, schönen, leserlichen Buchstaben, den ganzen, vollen Namen, Aegisth, setzen; und so weiter über jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan hätte, so dürften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht es lang und breit! Freilich ist es ein wenig lächerlich, wenn die Person, über deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen Aegisth gelesen haben, auf die Frage:
– – – Narbas vous est connu?
Le nom d’Egiste au moins jusqu’ à vous est venu?
Quel était votre état, votre rang, votre père?
antwortet:
Mon père est un vieillard accablé de misère;
Policlete est son nom; mais Egiste, Narbas,
Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas.
Freilich ist es sehr sonderbar, daß wir von diesem Aegisth, der nicht Aegisth heißt, auch keinen andern Namen hören; daß, da er der Königin antwortet, sein Vater heiße Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heiße so und so. Denn einen Namen muß er doch haben; und den hätte der Herr von Voltaire ja wohl schon mit erfinden können, da er so viel erfunden hat! Leser, die den Rummel einer Tragödie nicht recht gut verstehen, können leicht darüber irre werden. Sie lesen, daß hier ein Bursche gebracht wird, der auf der Landstraße einen Mord begangen hat; dieser Bursche, sehen sie, heißt Aegisth, aber er sagt, er heiße nicht so, und sagt doch auch nicht, wie er heiße: o, mit dem Burschen, schließen sie, ist es nicht richtig; das ist ein abgefäumter Straßenräuber, so jung er ist, so unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, daß es für die erfahrnen Leser besser ist, auch so, gleich Anfangs, zu erfahren, wer der unbekannte Jüngling ist, als gar nicht. Nur daß man mir nicht sage, daß diese Art sie davon zu unterrichten, im geringsten künstlicher und feiner sei, als ein Prolog, im Geschmacke des Euripides! –
Funfzigstes Stück
Den 20ten Oktober, 1767
Bei dem Maffei hat der Jüngling seine zwei Namen, wie es sich gehört; Aegisth heißt er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur unter jenem eingeführt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stücks als kein geringes Verdienst an, daß dieses Verzeichnis den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrate.(47) Das ist, die Italiener sind von den Überraschungen noch größere Liebhaber, als die Franzosen. –
Aber noch immer Merope! – Wahrlich, ich betaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stücke, in kleine lustige oder rührende Romane gebracht; anstatt beiläufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, närrischer Geschöpfe, wie die doch wohl sein müssen, die sich mit Komödienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandalöser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Sächelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken über alte bekannte Stücke; schwerfällige Untersuchungen über das, was in einer Tragödie sein sollte und nicht sein sollte; mit unter wohl gar Erklärungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich betauere sie; sie sind gewaltig angeführt! – Doch im Vertrauen: besser, daß sie es sind, als ich. Und ich würde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen müßte. Nicht daß ihre Erwartungen sehr schwer zu erfüllen wären; wirklich nicht; ich würde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten.
Über die Merope indes muß ich freilich einmal wegzukommen suchen. – Ich wollte eigentlich nur erweisen, daß die Merope des Voltaire im Grunde nichts als die Merope des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Auflösung machen, daß zwei oder mehrere Stücke für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier für weiter nichts, als für den Übersetzer und Nachahmer desselben zu erklären. Maffei hat die Merope des Euripides nicht bloß wieder hergestellet; er hat eine eigene Merope gemacht: denn er ging völlig von dem Plane des Euripides ab; und in dem Vorsatze ein Stück ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse bloß aus der mütterlichen Zärtlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut, oder übel, das ist hier die Frage nicht; genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Polyphont nicht vermählt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann, nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermählung dringen zu müssen glaubet; er entlehnte von ihm, daß der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeinten Vater entkömmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Mörder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung, durch die er für den Mörder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der mütterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Händen sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Auflösung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und vielleicht, daß er, bloß darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen ließ, um dieses Opfer desto natürlicher anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach.
Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umständen, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. Z. E. Anstatt daß, beim Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, läßt er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beim Maffei, Aegisth von einem Räuber auf der Straße angefallen wird, läßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten überfallen werden, die es ihm übel nehmen, daß er den Herkules für die Herakliden, den Gott des Tempels für die Nachkommen desselben, anfleht. Anstatt daß, beim Maffei, Aegisth durch einen Ring in Verdacht gerät, läßt Voltaire diesen Verdacht durch eine Rüstung entstehen, u.s.w. Aber alle diese Veränderungen betreffen die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle außer dem Stücke sind, und auf die Ökonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich sie Voltairen noch gern als Äußerungen seines schöpferischen Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hätte. Ich will mich an dem mittelsten von den angeführten Beispielen erklären. Maffei läßt seinen Aegisth von einem Räuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern einer Brücke über die Pamise; Aegisth erlegt den Räuber, und wirft den Körper in den Fluß, aus Furcht, wenn der Körper auf der Straße gefunden würde, daß man den Mörder verfolgen und ihn dafür erkennen dürfte. Ein Räuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist für mein feines, edles Parterr ein viel zu niedriges Bild; besser, aus Aegisth als einem Anhänger der Herakliden zu Leibe will diesem Räuber einen Mißvergnügten gemacht, der dem Und warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto größer, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem ältrern gemacht wird, kann hernach für den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Mißvergnügten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er trägt den toten Körper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstraße in den nahen Fluß; das ist ganz begreiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß, dieses auch? War denn außer ihnen niemand in diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die größte Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis Aegisth trägt den Körper in den Fluß, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fürchtet; weil er glaubt, wenn der Körper bei Seite geschafft sei, daß sodann nichts seine Tat verraten könne; daß diese sodann, mit samt dem Körper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite hätte nicht entkommen müssen. Wird sich dieser begnügen, sein Leben davon getragen zu haben? Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen, und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Mörder also, das Corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Mühe hätte er sparen, und dafür eilen sollen, je eher je lieber über die Grenze zu kommen. Freilich mußte der Körper, des Folgenden wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen eben so nötig als dem Maffei, daß Merope nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden konnte; nur daß, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er bei jenem bloß dem Dichter zu gefallen tun muß. Denn Voltaire korrigierte die Ursache weg, ohne zu überlegen, daß er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts, als von seiner Bedürfnis abhängt.
Eine einzige Veränderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die nämlich, durch welche er den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Mörder ihres Sohnes zu rächen, unterdrückt, und dafür die Erkennung von Seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen läßt. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz vortrefflich. Ich wünschte nur, daß die Erkennung überhaupt, die in der vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu müssen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst hätte geteilet werden können. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggeführet wird, und die Vertiefung sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die übereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem Maffei rettet, und über die Voltaire seinen Lindelle so spotten läßt. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natürlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht, und uns nicht gänzlich die ersten rührenden Ausbrüche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegen einander, vorenthalten hätte. Vielleicht würde Voltaire die Erkennung überhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht hätte dehnen müssen, um fünf Akte damit vollzumachen. Er jammert mehr als einmal über cette longue carrière de cinq actes qui est prodigieusement difficile à remplir sans episodes – Und nun für diesesmal genug von der Merope!
Ein und funfzigstes Stück
Den 23sten Oktober, 1767
Den neun und dreißigsten Abend (Mittewochs, den 8ten Julius,) wurden der verheiratete Philosoph und die neue Agnese, wiederholt.(48)
Chevrier sagt,(49) daß Destouches sein Stück aus einem Lustspiele des Campistron geschöpft habe, und daß, wenn dieser nicht seinen Jaloux desabusé geschrieben hätte, wir wohl schwerlich einen verheirateten Philosophen haben würden. Die Komödie des Campistron ist unter uns wenig bekannt; ich wüßte nicht, daß sie auf irgend einem deutschen Theater wäre gespielt worden; auch ist keine Übersetzung davon vorhanden. Man dürfte also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier sei.
Die Fabel des Campistronschen Stücks ist kurz diese: Ein Bruder hat das ansehnliche Vermögen seiner Schwester in Händen, und um dieses nicht herausgeben zu dürfen, möchte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um ihren Mann zu vermögen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf alle Weise eifersüchtig zu machen, indem sie verschiedne junge Mannspersonen sehr gütig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich um ihre Schwägerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt; der Mann wird eifersüchtig; und williget endlich, um seiner Frau den vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner Frau, dem zu gefallen sie die Rolle der Coquette gespielt hatte. Der Mann sieht sich berückt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem Ungrunde seiner Eifersucht überzeugt wird.
Was hat diese Fabel mit der Fabel des verheirateten Philosophen ähnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus dem zweiten Akte des Campistronschen Stücks, zwischen Dorante, so heißt der Eifersüchtige, und Dubois, seinem Sekretär. Diese wird gleich zeigen, was Chevrier gemeinet hat.
Dubois. Und was fehlt Ihnen denn?
Dorante. Ich bin verdrüßlich, ärgerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhören wird, mich zu martern, zu peinigen –
Dubois. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker?
Dorante. Meine Frau.
Dubois. Ihre Frau, mein Herr?
Dorante. Ja, meine Frau, meine Frau. – Sie bringt mich zur Verzweiflung.
Dubois. Hassen Sie sie denn?
Dorante. Wollte Gott! So wäre ich ruhig. – Aber ich liebe sie, und liebe sie so sehr – Verwünschte Qual!
Dubois. Sie sind doch wohl nicht eifersüchtig?
Dorante. Bis zur Raserei.
Dubois. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersüchtig? Sie, der Sie von je her über alles, was Eifersucht heißt, –
Dorante. Gelacht, und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der großen Welt so hinreißen zu lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich über die Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und ich stimmte nicht bloß ein; es währte nicht lange, so gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was für albernes Zeug habe ich nicht gesprochen! Eheliche Treue, beständige Liebe, pfui, wie schmeckt das nach dem kleinstädtischen Bürger! Der Mann, der seiner Frau nicht allen Willen läßt, ist ein Bär! Der es ihr übel nimmt, wenn sie auch andern gefällt und zu gefallen sucht, gehört ins Tollhaus. So sprach ich, und mich hätte man da sollen ins Tollhaus schicken. –
Dubois. Aber warum sprachen Sie so?
Dorante. Hörst du nicht? Weil ich ein Geck war, und glaubte, es ließe noch so galant und weise. – Inzwischen wollte mich meine Familie verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Mädchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben; die soll in meiner Denkungsart nicht viel ändern; ich liebe sie itzt nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgültiger gegen sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward täglich schöner, täglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie –
Dubois. Nun, das nenne ich gefangen werden!
Dorante. Denn ich bin so eifersüchtig! – Daß ich mich schäme, es auch nur dir zu bekennen. – Alle meine Freunde sind mir zuwider – und verdächtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause zu suchen? Was wollen die Müßiggänger? Wozu alle die Schmeicheleien, die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere erhebt ihr gefälliges Wesen bis in den Himmel. Den entzücken ihre himmlischen Augen, und den ihre schönen Zähne. Alle finden sie höchst reizend, höchst anbetenswürdig; und immer schließt sich ihr verdammtes Geschwätze mit der verwünschten Betrachtung, was für ein glücklicher, was für ein beneidenswürdiger Mann ich bin.
Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu.
Dorante. O, sie treiben ihre unverschämte Kühnheit wohl noch weiter! Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest du erst sehen und hören! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spötterei die andere, ein kützelndes Histörchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Mienen, mit Liebäugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich erwidert, daß – daß mich der Schlag oft rühren möchte! Kannst du glauben, Dubois? ich muß es wohl mit ansehen, daß sie ihr die Hand küssen.
Dubois. Das ist arg!
Dorante. Gleichwohl darf ich nicht muchsen. Denn was würde die Welt dazu sagen? Wie lächerlich würde ich mich machen, wenn ich meinen Verdruß auslassen wollte? Die Kinder auf der Straße würden mit Fingern auf mich weisen. Alle Tage würde ein Epigramm, ein Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen u.s.w.
Diese Situation muß es sein, in welcher Chevrier das Ähnliche mit dem verheirateten Philosophen gefunden hat. So wie der Eifersüchtige des Campistron sich schämet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich ehedem über diese Schwachheit allzulustig gemacht hat: so schämt sich auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil er ehedem über alle ernsthafte Liebe gespottet, und den ehelosen Stand für den einzigen erklärt hatte, der einem freien und weisen Manne anständig sei. Es kann auch nicht fehlen, daß diese ähnliche Scham sie nicht beide in mancherlei ähnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z. E., die, in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau verlangt, ihm die überlästigen Besucher von Halse zu schaffen, diese aber ihn bedeutet, daß das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen müsse, fast die nämliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, daß er sich auf Meliten keine Rechnung machen könne. Auch leidet dort der Eifersüchtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über die Eifersüchtigen spotten, und er selbst sein Wort dazu geben muß, ungefähr auf gleiche Weise, als hier der Philosoph, wenn er sich muß sagen lassen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sei, als daß er sich zu so einer Torheit, wie das Heiraten, sollte haben verleiten lassen.
Dem ohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stücke notwendig das Stück des Campistron vor Augen gehabt haben müßte; und mir ist es ganz begreiflich, daß wir jenes haben könnten, wenn dieses auch nicht vorhanden wäre. Die verschiedensten Charaktere können in ähnliche Situationen geraten; und da in der Komödie die Charaktere das Hauptwerk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich äußern zu lassen, und ins Spiel zu setzen: so muß man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stück Original oder Kopie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragödie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind, und Schrecken und Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Ähnliche Situationen geben also ähnliche Tragödien, aber nicht ähnliche Komödien. Hingegen geben ähnliche Charaktere ähnliche Komödien, anstatt daß sie in den Tragödien fast gar nicht in Erwägung kommen.
Der Sohn unsers Dichters, welcher die prächtige Ausgabe der Werke seines Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbänden aus der Königlichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu dieser Ausgabe, eine besondere dieses Stück betreffende Anekdote. Der Dichter nämlich habe sich in England verheiratet, und aus gewissen Ursachen seine Verbindung geheim halten müssen. Eine Person aus der Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis früher ausgeplaudert, als ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem verheirateten Philosophen gegeben. Wenn dieses wahr ist, – und warum sollten wir es seinem Sohne nicht glauben? – so dürfte die vermeinte Nachahmung des Campistron um so eher wegfallen.
Zwei und funfzigstes Stück
Den 27sten Oktober, 1767
Den vierzigsten Abend (Donnerstags, den 9ten Julius,) ward Schlegels Triumph der guten Frauen, aufgeführet.
Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es war, so viel ich weiß, das letzte komische Werk des Dichters, das seine frühern Geschwister unendlich übertrifft, und von der Reife seines Urhebers zeiget. Der geschäftige Müßiggänger war der erste jugendliche Versuch, und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen, und räche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin gefunden haben! Er enthält das kalteste, langweiligste Alltagsgewäsche, das nur immer in dem Hause eines Meißnischen Pelzhändlers vorfallen kann. Ich wüßte nicht, daß er jemals wäre aufgeführt worden, und ich zweifle, daß seine Vorstellung dürfte auszuhalten sein. Der Geheimnisvolle ist um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist, den Moliere in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß zu diesem Stücke wollte genommen haben.(50) Molieres Geheimnisvoller ist ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen will, um von den Wölfen nicht gefressen zu werden. Daher kömmt es auch, daß er so viel ähnliches mit dem Charakter des Mißtrauischen hat, den Cronegk hernach auf die Bühne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des nämlichen Charakters, können nicht anders als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen und häßlichen Seele sich finden, daß ihre Vorstellungen notwendig mehr Mitleiden oder Abscheu erwecken müssen, als Lachen. Der Geheimnisvolle ist wohl sonst hier aufgeführet worden; man versichert mich aber auch durchgängig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr begreiflich, daß man ihn läppischer gefunden habe, als lustig.
Der Triumph der guten Frauen hingegen hat, wo er noch aufgeführet worden, und so oft er noch aufgeführet worden, überall und jederzeit, einen sehr vorzüglichen Beifall erhalten; und daß sich dieser Beifall auf wahre Schönheiten gründen müsse, daß er nicht das Werk einer überraschenden blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach Lesung des Stücks, zurückgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen gesehen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es die strengesten Kunstrichter eben so sehr seinen übrigen Lustspielen, als diese überhaupt dem gewöhnlichen Prasse deutscher Komödien vorgezogen.
»Ich las, sagt einer von ihnen,(51) den geschäftigen Müßiggänger: die Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Müßiggänger, solche in ihre Kinder vernarrte Mütter, solche schalwitzige Besuche, und solche dumme Pelzhändler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gähnte vor Langeweile. – Ich las darauf den Triumph der guten Frauen. Welcher Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, echten Witz in ihren Gesprächen, und den Ton einer feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgange.«
Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, daß die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider, muß man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an fremde, und besonders an französische Sitten gewöhnt, als daß er eine besonders üble Wirkung auf uns haben könnte.
»Nikander, heißt es, ist ein französischer Abenteurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stürzen, aller Frauen Verführer und aller Männer Schrecken zu werden sucht, und der bei allem diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten und Grundsätze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! daß ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben muß. – Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit verlassen, und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, kömmt auf den Einfall ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson, und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Häuser nach, wo er Avanturen sucht. Philint ist witziger, flatterhafter und unverschämter als Nikander. Das Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen aber doch artigen Wesen sich sehen läßt, stehet Nikander da wie verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet, und glücklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petitmaitre ist gewiß kein Deutscher.«
»Was mir, fährt er fort, sonst an diesem Lustspiele mißfällt, ist der Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu häßlichen Seite. Er tyrannisieret seine unschuldige Juliane auf das unwürdigste, und hat recht seine Lust sie zu quälen. Grämlich, so oft er sich sehen läßt, spöttisch bei den Tränen seiner gekränkten Frau, argwöhnisch bei ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersüchtig, hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden können, in seiner Frauen Kammermädchen verliebt. – Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als daß wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen könnten. Der Dichter gibt ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswürdigen Herzens nicht genug entwickeln können. Er tobt, und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Eben so wenig hat der Dichter Raum gehabt, seine Besserung gehörig vorzubereiten und zu veranstalten. Er mußte sich begnügen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine, dieses edelmütige Kammermädchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: Die geschwindesten Bekehrungen sind nicht allemal die aufrichtigsten! Wenigstens so lange dieses Mädchen im Hause ist, möchte ich nicht für die Aufrichtigkeit stehen.«
Ich freue mich, daß die beste deutsche Komödie dem richtigsten deutschen Beurteiler in die Hände gefallen ist. Und doch war es vielleicht die erste Komödie, die dieser Mann beurteilte.
Ende des ersten Bandes