XVII
Aber, wird man einwenden, die Zeichen der Poesie sind nicht bloß auf einander folgend, sie sind auch willkürlich; und als willkürliche Zeichen sind sie allerdings fähig, Körper, so wie sie im Raume existieren, auszudrücken. In dem Homer selbst fänden sich hiervon Exempel, an dessen Schild des Achilles man sich nur erinnern dürfte, um das entscheidenste Beispiel zu haben, wie weitläuftig und doch poetisch, man ein einzelnes Ding nach seinen Teilen neben einander schildern könne.
Ich will auf diesen doppelten Einwurf antworten. Ich nenne ihn doppelt, weil ein richtiger Schluß auch ohne Exempel gelten muß, und Gegenteils das Exempel des Homers bei mir von Wichtigkeit ist, auch wenn ich es noch durch keinen Schluß zu rechtfertigen weiß.
Es ist wahr; da die Zeichen der Rede willkürlich sind, so ist es gar wohl möglich, daß man durch sie die Teile eines Körpers eben so wohl auf einander folgen lassen kann, als sie in der Natur neben einander befindlich sind. Allein dieses ist eine Eigenschaft der Rede und ihrer Zeichen überhaupt, nicht aber in so ferne sie der Absicht der Poesie am bequemsten sind. Der Poet will nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich sein; hiermit begnügt sich der Prosaist. Sondern er will die Ideen, die er in uns erweckte, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören. Hierauf lief oben die Erklärung des poetischen Gemäldes hinaus. Aber der Dichter soll immer malen; und nun wollen wir sehen, in wie ferne Körper nach ihren Teilen neben einander sich zu dieser Malerei schicken.
Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume? Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedene Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken, und diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wann wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen. Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung von einem Teile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns die Verbindung dieser Teile auch noch so klar zu machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben. Jedennoch sollen wir uns aus diesen Zügen ein Ganzes bilden. Dem Auge bleiben die betrachteten Teile beständig gegenwärtig; es kann sie abermals und abermals überlaufen: für das Ohr hingegen sind die vernommenen Teile verloren, wann sie nicht in dem Gedächtnisse zurückbleiben. Und bleiben sie schon da zurück: welche Mühe, welche Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf einmal zu überdenken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelangen!
Man versuche es an einem Beispiele, welches ein Meisterstück in seiner Art heißen kann.(103)
Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enziane
Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,
Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,
Sein blauer Bruder selbst bückt sich, und ehret ihn.
Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,
Türmt sich am Stengel auf, und krönt sein grau Gewand,
Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,
Strahlt von dem bunten Blitz von feuchtem Diamant.
Gerechtestes Gesetz! daß Kraft sich Zier vermähle,
In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.
Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem grauen Nebel,
Dem die Natur sein Blatt im Kreuze hingelegt;
Die holde Blume zeigt die zwei vergöldten Schnäbel,
Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt.
Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbet,
Auf einen hellen Bach den grünen Widerschein;
Der Blumen zarten Schnee, den matter Purpur färbet,
Schließt ein gestreifter Stern in weiße Strahlen ein.
Smaragd und Rosen blühn auch auf zertretner Heide,
Und Felsen decken sich mit einem Purpurkleide.
Es sind Kräuter und Blumen, welche der gelehrte Dichter mit großer Kunst und nach der Natur malet. Malet, aber ohne alle Täuschung malet. Ich will nicht sagen, daß wer diese Kräuter und Blumen nie gesehen, sich aus seinem Gemälde so gut als gar keine Vorstellung davon machen könne. Es mag sein, daß alle poetische Gemälde eine vorläufige Bekanntschaft mit ihren Gegenständen erfordern. Ich will auch nicht leugnen, daß demjenigen, dem eine solche Bekanntschaft hier zu statten kömmt, der Dichter nicht von einigen Teilen eine lebhaftere Idee erwecken könnte. Ich frage ihn nur, wie steht es um den Begriff des Ganzen? Wenn auch dieser lebhafter sein soll, so müssen keine einzelne Teile darin vorstechen, sondern das höhere Licht muß auf alle gleich verteilet scheinen; unsere Einbildungskraft muß alle gleich schnell überlaufen können, um sich das aus ihnen mit eins zusammen zu setzen, was in der Natur mit eins gesehen wird. Ist dieses hier der Fall? Und ist er es nicht, wie hat man sagen können, »daß die ähnlichste Zeichnung eines Malers gegen diese poetische Schilderei ganz matt und düster sein würde?«(104) Sie bleibet unendlich unter dem, was Linien und Farben auf der Fläche ausdrücken können, und der Kunstrichter, der ihr dieses übertriebene Lob erteilet, muß sie aus einem ganz falschen Gesichtspunkte betrachtet haben; er muß mehr auf die fremden Zierraten, die der Dichter darein verwäbet hat, auf die Erhöhung über das vegetative Leben, auf die Entwickelung der innern Vollkommenheiten, welchen die äußere Schönheit nur zur Schale dienet, als auf diese Schönheit selbst, und auf den Grad der Lebhaftigkeit und Ähnlichkeit des Bildes, welches uns der Maler, und welches uns der Dichter davon gewähren kann, gesehen haben. Gleichwohl kömmt es hier lediglich nur auf das letztere an, und wer da sagt, daß die bloßen Zeilen:
Der Blumen helles Gold in Strahlen umgebogen,
Türmt sich am Stengel auf, und krönt sein grau Gewand,
Der Blätter glattes Weiß mit tiefem Grün durchzogen,
Strahlt von dem bunten Blitz von feichtem Diamant –
daß diese Zeilen, in Ansehung ihres Eindrucks, mit der Nachahmung eines Huysum wetteifern können, muß seine Empfindung nie befragt haben, oder sie vorsetzlich verleugnen wollen. Sie mögen sich, wenn man die Blume selbst in der Hand hat, sehr schön dagegen rezitieren lassen; nur vor sich allein sagen sie wenig oder nichts. Ich höre in jedem Worte den arbeitenden Dichter, aber das Ding selbst bin ich weit entfernet zu sehen.
Nochmals also: ich spreche nicht der Rede überhaupt das Vermögen ab, ein körperliches Ganze nach seinen Teilen zu schildern; sie kann es, weil ihre Zeichen, ob sie schon auf einander folgen, dennoch willkürliche Zeichen sind: sondern ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich gehet; und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede dabei in Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.
Überall, wo es daher auf das Täuschende nicht ankömmt, wo man nur mit dem Verstande seiner Leser zu tun hat, und nur auf deutliche und so viel möglich vollständige Begriffe gehet: können diese aus der Poesie ausgeschlossene Schilderungen der Körper gar wohl Platz haben, und nicht allein der Prosaist, sondern auch der dogmatische Dichter (denn da wo er dogmatisieret, ist er kein Dichter), können sich ihrer mit vielem Nutzen bedienen. So schildert z.E. Virgil in seinem Gedichte vom Landbaue eine zur Zucht tüchtige Kuh:
– – – Optima torvae
Forma bovis, cui turpe caput, cui plurima cervix,
Et crurum tenus a mento palearia pendent.
Tum longo nullus lateri modus: omnia magna:
Pes etiam, et camuris hirtae sub cornibus aures.
Nec mihi displiceat maculis insignis et albo,
Aut juga detractans interdumque aspera cornu,
Et faciem tauro propior; quaeque ardua tota,
Et gradiens ima verrit vestigia cauda.
Oder ein schönes Füllen:
– – – – Illi ardua cervix
Argutumque caput, brevis alvus, obesaque terga:
Luxuriatque toris animosum pectus etc.(105)
Denn wer sieht nicht, daß dem Dichter hier mehr an der Auseinandersetzung der Teile, als an dem Ganzen gelegen gewesen? Er will uns die Kennzeichen eines schönen Füllens, einer tüchtigen Kuh zuzählen, um uns in den Stand zu setzen, nach dem wir deren mehrere oder wenigere antreffen, von der Güte der einen oder des andern urteilen zu können; ob sich aber alle diese Kennzeichen in ein lebhaftes Bild leicht zusammen fassen lassen, oder nicht, das konnte ihm sehr gleichgültig sein.
Außer diesem Gebrauche sind die ausführlichen Gemälde körperlicher Gegenstände, ohne den oben erwähnten Homerischen Kunstgriff, das Koexistierende derselben in ein wirkliches Sukzessives zu verwandeln, jederzeit von den feinsten Richtern für ein frostiges Spielwerk erkannt worden, zu welchem wenig oder gar kein Genie gehöret. Wenn der poetische Stümper, sagt Horaz, nicht weiter kann, so fängt er an, einen Hain, einen Altar, einen durch anmutige Fluren sich schlängelnden Bach, einen rauschenden Strom, einen Regenbogen zu malen:
– – – – – Lucus et ara Dianae,
Et properantis aquae per amoenos ambitus agros,
Aut flumen Rhenum, aut pluvius describitur arcus.(106)
Der männliche Pope sahe auf die malerischen Versuche seiner poetischen Kindheit mit großer Geringschätzung zurück. Er verlangte ausdrücklich, daß wer den Namen eines Dichters nicht unwürdig führen wolle, der Schilderungssucht so früh wie möglich entsagen müsse, und erklärte ein bloß malendes Gedichte für ein Gastgebot auf lauter Brühen.(107) Von dem Herrn von Kleist kann ich versichern, daß er sich auf seinen »Frühling« das wenigste einbildete. Hätte er länger gelebt, so würde er ihm eine ganz andere Gestalt gegeben haben. Er dachte darauf, einen Plan hinein zu legen, und sann auf Mittel, wie er die Menge von Bildern, die er aus dem unendlichen Raume der verjüngten Schöpfung, auf Geratewohl, bald hier bald da, gerissen zu haben schien, in einer natürlichen Ordnung vor seinen Augen entstehen und auf einander folgen lassen wolle. Er würde zugleich das getan haben, was Marmontel, ohne Zweifel mit auf Veranlassung seiner Eklogen, mehrern deutschen Dichtern geraten hat; er würde aus einer mit Empfindungen nur sparsam durchwebten Reihe von Bildern, eine mit Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen gemacht haben.(108)
XVIII
Und dennoch sollte selbst Homer in diese frostigen Ausmalungen körperlicher Gegenstände verfallen sein? –
Ich will hoffen, daß es nur sehr wenige Stellen sind, auf die man sich desfalls berufen kann; und ich bin versichert, daß auch diese wenige Stellen von der Art sind, daß sie die Regel, von der sie eine Ausnahme zu sein scheinen, vielmehr bestätigen.
Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.
Zwei notwendig entfernte Zeitpunkte in ein und eben dasselbe Gemälde bringen, so wie Fr. Mazzuoli den Raub der Sabinischen Jungfrauen, und derselben Aussöhnung ihrer Ehemänner mit ihren Anverwandten; oder wie Titian die ganze Geschichte des verlornen Sohnes, sein lüderliches Leben und sein Elend und seine Reue: heißt ein Eingriff des Malers in das Gebiete des Dichters, den der gute Geschmack nie billigen wird.
Mehrere Teile oder Dinge, die ich notwendig in der Natur auf einmal übersehen muß, wenn sie ein Ganzes hervorbringen sollen, dem Leser nach und nach zuzählen, um ihm dadurch ein Bild von dem Ganzen machen zu wollen: heißt ein Eingriff des Dichters in das Gebiete des Malers, wobei der Dichter viel Imagination ohne allen Nutzen verschwendet.
Doch, so wie zwei billige freundschaftliche Nachbarn zwar nicht verstatten, daß sich einer in des andern innerstem Reiche ungeziemende Freiheiten herausnehme, wohl aber auf den äußersten Grenzen eine wechselseitige Nachsicht herrschen lassen, welche die kleinen Eingriffe, die der eine in des andern Gerechtsame in der Geschwindigkeit sich durch seine Umstände zu tun genötiget siehet, friedlich von beiden Teilen kompensieret: so auch die Malerei und Poesie.
Ich will in dieser Absicht nicht anführen, daß in großen historischen Gemälden, der einzige Augenblick fast immer um etwas erweitert ist, und daß sich vielleicht kein einziges an Figuren sehr reiches Stück findet, in welchem jede Figur vollkommen die Bewegung und Stellung hat, die sie in dem Augenblicke der Haupthandlung haben sollte; die eine hat eine etwas frühere, die andere eine etwas spätere. Es ist dieses eine Freiheit, die der Meister durch gewisse Feinheiten in der Anordnung rechtfertigen muß, durch die Verwendung oder Entfernung seiner Personen, die ihnen an dem was vorgehet, einen mehr oder weniger augenblicklichen Anteil zu nehmen erlaubet. Ich will mich bloß einer Anmerkung bedienen, welche Herr Mengs über die Drapperie des Raphaels macht.(109) »Alle Falten, sagt er, haben bei ihm ihre Ursachen, es sei durch ihr eigen Gewichte, oder durch die Ziehung der Glieder. Manchmal siehet man in ihnen, wie sie vorher gewesen; Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. Man siehet an den Falten, ob ein Bein oder Arm vor dieser Regung, vor oder hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder gehet, oder ob es ausgestreckt gewesen, und sich krümmet.« Es ist unstreitig, daß der Künstler in diesem Falle zwei verschiedene Augenblicke in einen einzigen zusammen bringt. Denn da dem Fuße, welcher hinten gestanden und sich vor bewegt, der Teil des Gewands, welcher auf ihm liegt, unmittelbar folget, das Gewand wäre denn von sehr steifem Zeuge, der aber eben darum zur Malerei ganz unbequem ist: so gibt es keinen Augenblick, in welchem das Gewand im geringsten eine andere Falte machte, als es der itzige Stand des Gliedes erfodert; sondern läßt man es eine andere Falte machen, so ist es der vorige Augenblick des Gewandes und der itzige des Gliedes. Dem ohngeachtet, wer wird es mit dem Artisten so genau nehmen, der seinen Vorteil dabei findet, uns diese beiden Augenblicke zugleich zu zeigen? Wer wird ihn nicht vielmehr rühmen, daß er den Verstand und das Herz gehabt hat, einen solchen geringen Fehler zu begehen, um eine größere Vollkommenheit des Ausdruckes zu erreichen?
Gleiche Nachsicht verdienet der Dichter. Seine fortschreitende Nachahmung erlaubet ihm eigentlich, auf einmal nur eine einzige Seite, eine einzige Eigenschaft seiner körperlichen Gegenstände zu berühren. Aber wenn die glückliche Einrichtung seiner Sprache ihm dieses mit einem einzigen Worte zu tun verstattet; warum sollte er nicht auch dann und wann, ein zweites solches Wort hinzufügen dürfen? Warum nicht auch, wann es die Mühe verlohnet, ein drittes? Oder wohl gar ein viertes? Ich habe gesagt, dem Homer sei z.E. ein Schiff, entweder nur das schwarze Schiff, oder das hohle Schiff, oder das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff. Zu verstehen von seiner Manier überhaupt. Hier und da findet sich eine Stelle, wo er das dritte malende Epitheton hinzusetzet: Καμπυλα κυκλα, χαλκεα, οκτακνημα,(110)runde, eherne, achtspeichigte Räder. Auch das vierte: ασπιδα παντοσε ισην, καλην, χαλκειην, εξηλατον,(111) ein überall glattes, schönes, ehernes, getriebenes Schild. Wer wird ihn darum tadeln? Wer wird ihm diese kleine Üppigkeit nicht vielmehr Dank wissen, wenn er empfindet, welche gute Wirkung sie an wenigen schicklichen Stellen haben kann?
Des Dichters sowohl als des Malers eigentliche Rechtfertigung hierüber, will ich aber nicht aus dem vorangeschickten Gleichnisse von zwei freundschaftlichen Nachbarn hergeleitet wissen. Ein bloßes Gleichnis beweiset und rechtfertiget nichts. Sondern dieses muß sie rechtfertigen: so wie dort bei dem Maler die zwei verschiednen Augenblicke so nahe und unmittelbar an einander grenzen, daß sie ohne Anstoß für einen einzigen gelten können; so folgen auch hier bei dem Dichter die mehrern Züge für die verschiednen Teile und Eigenschaften im Raume in einer solchen gedrängten Kürze so schnell aufeinander, daß wir sie alle auf einmal zu hören glauben.
Und hierin, sage ich, kömmt dem Homer seine vortreffliche Sprache ungemein zu statten. Sie läßt ihm nicht allein alle mögliche Freiheit in Häufung und Zusammensetzung der Beiwörter, sondern sie hat auch für diese gehäufte Beiwörter eine so glückliche Ordnung, daß der nachteiligen Suspension ihrer Beziehung dadurch abgeholfen wird. An einer oder mehreren dieser Bequemlichkeiten fehlt es den neuern Sprachen durchgängig. Diejenigen, als die französische, welche z.E. jenes Καμπυλα κυκλα, χαλκεα, οκτακνημα umschreiben müssen: »die runden Räder, welche von Erzt waren und acht Speichen hatten«, drücken den Sinn aus, aber vernichten das Gemälde. Gleichwohl ist der Sinn hier nichts, das Gemälde alles; und jener ohne dieses macht den lebhaftesten Dichter zum langweiligsten Schwätzer. Ein Schicksal, das den guten Homer unter der Feder der gewissenhaften Frau Dacier oft betroffen hat. Unsere deutsche Sprache hingegen kann zwar die Homerischen Beiwörter meistens in eben so kurze gleichgeltende Beiwörter verwandeln, aber die vorteilhafte Ordnung derselben kann sie der griechischen nicht nachmachen. Wir sagen zwar »die runden, ehernen, achtspeichigten« – – aber »Räder« schleppt hinten nach. Wer empfindet nicht, daß drei verschiedne Prädikate, ehe wir das Subjekt erfahren, nur ein schwankes verwirrtes Bild machen können? Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem ersten Prädikate, und läßt die andern nachfolgen; er sagt: »runde Räder, eherne, achtspeichigte.« So wissen wir mit eins wovon er redet, und werden, der natürlichen Ordnung des Denkens gemäß, erst mit dem Dinge, und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt. Diesen Vorteil hat unsere Sprache nicht. Oder soll ich sagen, sie hat ihn, und kann ihn nur selten ohne Zweideutigkeit nutzen? Beides ist eins. Denn wenn wir Beiwörter hintennach setzen wollen, so müssen sie im statu absoluto stehen; wir müssen sagen: runde Räder, ehern und achtspeichigt. Allein in diesem statu kommen unsere Adjectiva völlig mit den Adverbiis überein, und müssen, wenn man sie als solche zu dem nächsten Zeitworte, das von dem Dinge prädizieret wird, ziehet, nicht selten einen ganz falschen, allezeit aber einen sehr schielenden Sinn verursachen.
Doch ich halte mich bei Kleinigkeiten auf, und scheine das Schild vergessen zu wollen, das Schild des Achilles; dieses berühmte Gemälde, in dessen Rücksicht vornehmlich, Homer vor Alters als ein Lehrer der Malerei(112) betrachtet wurde. Ein Schild, wird man sagen, ist doch wohl ein einzelner körperlicher Gegenstand, dessen Beschreibung nach seinen Teilen neben einander, dem Dichter nicht vergönnet sein soll? Und dieses Schild hat Homer, in mehr als hundert prächtigen Versen, nach seiner Materie, nach seiner Form, nach allen Figuren, welche die ungeheure Fläche desselben füllten, so umständlich, so genau beschrieben, daß es neuern Künstlern nicht schwer gefallen, eine in allen Stücken übereinstimmende Zeichnung darnach zu machen.
Ich antworte auf diesen besondern Einwurf, – daß ich bereits darauf geantwortet habe. Homer malet nämlich das Schild nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat also auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffes bedienet, das Koexistierende seines Vorwurfs in ein Konsekutives zu verwandeln, und dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers, das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen. Wir sehen nicht das Schild, sondern den göttlichen Meister, wie er das Schild verfertiget. Er tritt mit Hammer und Zange vor seinen Amboß, und nachdem er die Platten aus dem gröbsten geschmiedet, schwellen die Bilder, die er zu dessen Auszierung bestimmet, vor unsern Augen, eines nach dem andern, unter seinen feinern Schlägen aus dem Erzte hervor. Eher verlieren wir ihn nicht wieder aus dem Gesichte, bis alles fertig ist. Nun ist es fertig, und wir erstaunen über das Werk, aber mit dem gläubigen Erstaunen eines Augenzeugens, der es machen sehen.
Dieses läßt sich von dem Schilde des Aeneas beim Virgil nicht sagen. Der römische Dichter empfand entweder die Feinheit seines Musters hier nicht, oder die Dinge, die er auf sein Schild bringen wollte, schienen ihm von der Art zu sein, daß sie die Ausführung vor unsern Augen nicht wohl verstatteten. Es waren Prophezeiungen, von welchen es freilich unschicklich gewesen wäre, wenn sie der Gott in unserer Gegenwart eben so deutlich geäußert hätte, als sie der Dichter hernach ausleget. Prophezeiungen, als Prophezeiungen, verlangen eine dunkelere Sprache, in welche die eigentlichen Namen der Personen aus der Zukunft, die sie betreffen, nicht passen. Gleichwohl lag an diesen wahrhaften Namen, allem Ansehen nach, dem Dichter und Hofmanne hier das meiste.(113) Wenn ihn aber dieses entschuldiget, so hebt es darum nicht auch die üble Wirkung auf, welche seine Abweichung von dem Homerischen Wege hat. Leser von einem feinern Geschmacke, werden mir Recht geben. Die Anstalten, welche Vulcan zu seiner Arbeit macht, sind bei dem Virgil ungefähr eben die, welche ihn Homer machen läßt. Aber anstatt daß wir bei dem Homer nicht bloß die Anstalten zur Arbeit, sondern auch die Arbeit selbst zu sehen bekommen, läßt Virgil, nachdem er uns nur den geschäftigen Gott mit seinen Cyklopen überhaupt gezeiget,
Ingentem Clypeum informant – –
– – Alii ventosis follibus auras
Accipiunt, redduntque: alii stridentia tingunt
Aera lacu. Gemit impositis incudibus antrum.
Illi inter sese multa vi brachia tollunt
In numerum, versantque tenaci forcipe massam.(114)
den Vorhang auf einmal niederfallen, und versetzt uns in eine ganz andere Szene, von da er uns allmählig in das Tal bringt, in welchem die Venus mit den indes fertig gewordenen Waffen bei dem Aeneas anlangt. Sie lehnet sie an den Stamm einer Eiche, und nachdem sie der Held genug begaffet, und bestaunet, und betastet, und versuchet, hebt sich die Beschreibung, oder das Gemälde des Schildes an, welches durch das ewige: Hier ist, und Da ist, Nahe dabei stehet, und Nicht weit davon siehet man – so kalt und langweilig wird, daß alle der poetische Schmuck, den ihm ein Virgil geben konnte, nötig war, um es uns nicht unerträglich finden zu lassen. Da dieses Gemälde hiernächst nicht Aeneas macht, als welcher sich an den bloßen Figuren ergötzet, und von der Bedeutung derselben nichts weiß,
– – rerumque ignarus imagine gaudet;
auch nicht Venus, ob sie schon von den künftigen Schicksalen ihrer lieben Enkel vermutlich eben so viel wissen mußte, als der gutwillige Ehemann; sondern da es aus dem eigenen Munde des Dichters kömmt: so bleibet die Handlung offenbar während demselben stehen. Keine einzige von seinen Personen nimmt daran Teil; es hat auch auf das Folgende nicht den geringsten Einfluß, ob auf dem Schilde dieses, oder etwas anders, vorgestellet ist; der witzige Hofmann leuchtet überall durch, der mit allerlei schmeichelhaften Anspielungen seine Materie aufstutzet, aber nicht das große Genie, daß sich auf die eigene innere Stärke seines Werks verläßt, und alle äußere Mittel, interessant zu werden, verachtet. Das Schild des Aeneas ist folglich ein wahres Einschiebsel, einzig und allein bestimmt, dem Nationalstolze der Römer zu schmeicheln; ein fremdes Bächlein, das der Dichter in seinen Strom leitet, um ihn etwas reger zu machen. Das Schild des Achilles hingegen ist Zuwachs des eigenen fruchtbaren Bodens; denn ein Schild mußte gemacht werden, und da das Notwendige aus der Hand der Gottheit nie ohne Anmut kömmt; so mußte das Schild auch Verzierungen haben. Aber die Kunst war, diese Verzierungen als bloße Verzierungen zu behandeln, sie in den Stoff einzuweben, um sie uns nur bei Gelegenheit des Stoffes zu zeigen; und dieses ließ sich allein in der Manier des Homers tun. Homer läßt den Vulcan Zierraten künsteln, weil und indem er ein Schild machen soll, das seiner würdig ist. Virgil hingegen scheinet ihn das Schild wegen der Zierraten machen zu lassen, da er die Zierraten für wichtig gnug hält, um sie besonders zu beschreiben, nachdem das Schild lange fertig ist.
XIX
Die Einwürfe, welche der ältere Scaliger, Perrault, Terrasson und andere gegen das Schild des Homers machen, sind bekannt. Eben so bekannt ist das, was Dacier, Boivin und Pope darauf antworten. Mich dünkt aber, daß diese letztern sich manchmal zu weit einlassen, und in Zuversicht auf ihre gute Sache, Dinge behaupten, die eben so unrichtig sind, als wenig sie zur Rechtfertigung des Dichters beitragen.
Um dem Haupteinwurfe zu begegnen, daß Homer das Schild mit einer Menge Figuren anfülle, die auf dem Umfange desselben unmöglich Raum haben könnten, unternahm Boivin, es mit Bemerkung der erforderlichen Maße, zeichnen zu lassen. Sein Einfall mit den verschiedenen konzentrischen Zirkeln ist sehr sinnreich, obschon die Worte des Dichters nicht den geringsten Anlaß dazu geben, auch sich sonst keine Spur findet, daß die Alten auf diese Art abgeteilte Schilder gehabt haben. Da es Homer selbst σακος παντιοσε δεδαιδαλμενον, ein auf allen Seiten künstlich ausgearbeitetes Schild nennet, so würde ich lieber, um mehr Raum auszusparen, die konkave Fläche mit zu Hülfe genommen haben; denn es ist bekannt, daß die alten Künstler diese nicht leer ließen, wie das Schild der Minerva vom Phidias beweiset.(115) Doch nicht genug, daß sich Boivin dieses Vorteils nicht bedienen wollte; er vermehrte auch ohne Not die Vorstellungen selbst, denen er auf dem sonach um die Hälfte verringerten Raume Platz verschaffen mußte, indem er das, was bei dem Dichter offenbar nur ein einziges Bild ist, in zwei bis drei besondere Bilder zerteilte. Ich weiß wohl, was ihn dazu bewog; aber es hätte ihn nicht bewegen sollen: sondern, anstatt daß er sich bemühte, den Forderungen seiner Gegner ein Gnüge zu leisten, hätte er ihnen zeigen sollen, daß ihre Forderungen unrechtmäßig wären.
Ich werde mich an einem Beispiele faßlicher erklären können. Wenn Homer von der einen Stadt sagt:(116)
Δαοι δ’ ειν αγρη οεσαν αϑροοι ενϑα δε νεικος
Ωρωρει δυο δ’ανδρες ενεικεον έινεκα ποινης
Ανδρος αποφϑιμενου ό μεν ευχετο, παντ’ αποδουναι,
Δημω πιφαυσκων ό δ’ αναινετο, μηδεν έλεσϑαι
Αμφω δ’ ίεσϑην επι ίσορι πειραρ έλεσϑαι.
Δαοι δ’ αμφοτεροισιν επηπυον, αμφις αρωγοι
Κηρυκες δ’αρα λαον ερητυον όι δε γεροντες
Ειατ’ επι ξεσοισι λιϑοις, ίερω, ενι κυκλω
Σκηπτρα δε κηρυκων εν χερσ’ εχον ηεροφωνων.
Τοισιν επειτ’ ηισσον, αμοιβηδις δ’ εδικαζον.
Κειτο δ’ αρ’ εν μεσσοισι δυο χρυσοιο ταλαντα –
so, glaube ich, hat er nicht mehr als ein einziges Gemälde angeben wollen: das Gemälde eines öffentlichen Rechtshandels über die streitige Erlegung einer ansehnlichen Geldbuße für einen verübten Totschlag. Der Künstler, der diesen Vorwurf ausführen soll, kann sich auf einmal nicht mehr als einen einzigen Augenblick desselben zu Nutze machen; entweder den Augenblick der Anklage, oder der Abhörung der Zeugen, oder des Urtelspruches, oder welchen er sonst, vor oder nach, oder zwischen diesen Augenblicken für den bequemsten hält. Diesen einzigen Augenblick macht er so prägnant wie möglich, und führt ihn mit allen den Täuschungen aus, welche die Kunst in Darstellung sichtbarer Gegenstände vor der Poesie voraus hat. Von dieser Seite aber unendlich zurückgelassen, was kann der Dichter, der eben diesen Vorwurf mit Worten malen soll, und nicht gänzlich verunglücken will, anders tun, als daß er sich gleichfalls seiner eigentümlichen Vorteile bedienet? Und welches sind diese? Die Freiheit sich sowohl über das Vergangene als über das Folgende des einzigen Augenblickes in dem Kunstwerke auszubreiten, und das Vermögen, sonach uns nicht allein das zu zeigen, was uns der Künstler zeiget, sondern auch das, was uns dieser nur kann erraten lassen. Durch diese Freiheit, durch dieses Vermögen allein, kömmt der Dichter dem Künstler wieder bei, und ihre Werke werden einander alsdenn am ähnlichsten, wenn die Wirkung derselben gleich lebhaft ist; nicht aber, wenn das eine der Seele durch das Ohr nicht mehr oder weniger beibringet, als das andere dem Auge darstellen kann. Nach diesem Grundsatze hätte Boivin die Stelle des Homers beurteilen sollen, und er würde nicht so viel besondere Gemälde daraus gemacht haben, als verschiedene Zeitpunkte er darin zu bemerken glaubte. Es ist wahr, es konnte nicht wohl alles, was Homer sagt, in einem einzigen Gemälde verbunden sein; die Beschuldigung und Ableugnung, die Darstellung der Zeugen und der Zuruf des geteilten Volkes, das Bestreben der Herolde den Tumult zu stillen und die Äußerungen der Schiedesrichter, sind Dinge, die auf einander folgen, und nicht neben einander bestehen können. Doch was, um mich mit der Schule auszudrücken, nicht actu in dem Gemälde enthalten war, das lag virtute darin, und die einzige wahre Art, ein materielles Gemälde mit Worten nachzuschildern ist die, daß man das Letztere mit dem wirklich Sichtbaren verbindet, und sich nicht in den Schranken der Kunst hält, innerhalb welchen der Dichter zwar die Data zu einem Gemälde herzählen, aber nimmermehr ein Gemälde selbst hervorbringen kann.
Gleicherweise zerteilt Boivin das Gemälde der belagerten Stadt(117) in drei verschiedene Gemälde. Er hätte es eben sowohl in zwölfe teilen können, als in drei. Denn da er den Geist des Dichters einmal nicht faßte und von ihm verlangte, daß er den Einheiten des materiellen Gemäldes sich unterwerfen müsse: so hätte er weit mehr Übertretungen dieser Einheiten finden können, daß es fast nötig gewesen wäre, jedem besondern Zuge des Dichters ein besonderes Feld auf dem Schilde zu bestimmen. Meines Erachtens aber hat Homer überhaupt nicht mehr als zehn verschiedene Gemälde auf dem ganzen Schilde; deren jedes er mit einem εν μεν ετευξε, oder εν δε ποιησε, oder εν δ’ ετιϑει, oder εν δε ποικιλλε Αμφιγυηεις anfängt.(118) Wo diese Eingangsworte nicht stehen, hat man kein Recht, ein besonderes Gemälde anzunehmen; im Gegenteil muß alles, was sie verbinden, als ein einziges betrachtet werden, dem nur bloß die willkürliche Konzentration in einen einzigen Zeitpunkt mangelt, als welchen der Dichter mit anzugeben, keinesweges gehalten war. Vielmehr, hätte er ihn angegeben, hätte er sich genau daran gehalten, hätte er nicht den geringsten Zug einfließen lassen, der in der wirklichen Ausführung nicht damit zu verbinden wäre; mit einem Worte, hätte er so verfahren, wie seine Tadler es verlangen: es ist wahr, so würden diese Herren hier an ihm nichts auszusetzen, aber in der Tat auch kein Mensch von Geschmack etwas zu bewundern gefunden haben.
Pope ließ sich die Einteilung und Zeichnung des Boivin nicht allein gefallen, sondern glaubte noch etwas ganz besonders zu tun, wenn er nunmehr auch zeigte, daß ein jedes dieser so zerstückten Gemälde nach den strengsten Regeln der heutiges Tages üblichen Malerei angegeben sei. Kontrast, Perspektiv, die drei Einheiten; alles fand er darin auf das beste beobachtet. Und ob er schon gar wohl wußte, daß zu Folge guter glaubwürdiger Zeugnisse, die Malerei zu den Zeiten des Trojanischen Krieges noch in der Wiege gewesen, so mußte doch entweder Homer, vermöge seines göttlichen Genies, sich nicht sowohl an das, was die Malerei damals oder zu seiner Zeit leisten konnte, gehalten, als vielmehr das erraten haben, was sie überhaupt zu leisten im Stande sei; oder auch jene Zeugnisse selbst mußten so glaubwürdig nicht sein, daß ihnen die augenscheinliche Aussage des künstlichen Schildes nicht vorgezogen zu werden verdiene. Jenes mag annehmen, wer da will; dieses wenigstens wird sich niemand überreden lassen, der aus der Geschichte der Kunst etwas mehr, als die bloßen Data der Historienschreiber weiß. Denn daß die Malerei zu Homers Zeiten noch in ihrer Kindheit gewesen, glaubt er nicht bloß deswegen, weil es ein Plinius oder so einer sagt, sondern vornehmlich weil er aus den Kunstwerken, deren die Alten gedenken, urteilet, daß sie viele Jahrhunderte nachher noch nicht viel weiter gekommen, und z.E. die Gemälde eines Polygnotus noch lange die Probe nicht aushalten, welche Pope die Gemälde des Homerischen Schildes bestehen zu können glaubt. Die zwei großen Stücke dieses Meisters zu Delphi, von welchen uns Pausanias eine so umständliche Beschreibung hinterlassen,(119) waren offenbar ohne alle Perspektiv. Dieser Teil der Kunst ist den Alten gänzlich abzusprechen, und was Pope beibringt, um zu beweisen, daß Homer schon einen Begriff davon gehabt habe, beweiset weiter nichts, als daß ihm selbst nur ein sehr unvollständiger Begriff davon beigewohnet.(120) »Homer, sagt er, kann kein Fremdling in der Perspektiv gewesen sein, weil er die Entfernung eines Gegenstandes von dem andern ausdrücklich angibt. Er bemerkt, z.E. daß die Kundschafter wenig weiter als die andern Figuren gelegen, und daß die Eiche, unter welcher den Schnittern das Mahl zubereitet worden, bei Seite gestanden. Was er von dem mit Herden und Hütten und Ställen übersäeten Tale sagt, ist augenscheinlich die Beschreibung einer großen perspektivischen Gegend. Ein allgemeiner Beweisgrund dafür kann auch schon aus der Menge der Figuren auf dem Schilde gezogen werden, die nicht alle in ihrer vollen Größe ausgedruckt werden konnten; woraus es denn gewissermaßen unstreitig, daß die Kunst, sie nach der Perspektiv zu verkleinern, damaliger Zeit schon bekannt gewesen.« Die bloße Beobachtung der optischen Erfahrung, daß ein Ding in der Ferne kleiner erscheinet, als in der Nähe, macht ein Gemälde noch lange nicht perspektivisch. Die Perspektiv erfordert einen einzigen Augenpunkt, einen bestimmten natürlichen Gesichtskreis, und dieses war es was den alten Gemälden fehlte. Die Grundfläche in den Gemälden des Polygnotus war nicht horizontal, sondern nach hinten zu so gewaltig in die Höhe gezogen, daß die Figuren, welche hinter einander zu stehen scheinen sollten, über einander zu stehen schienen. Und wenn diese Stellung der verschiednen Figuren und ihrer Gruppen allgemein gewesen, wie aus den alten Basreliefs, wo die hintersten allezeit höher stehen als die vodersten, und über sie wegsehen, sich schließen läßt: so ist es natürlich, daß man sie auch in der Beschreibung des Homers annimmt, und diejenigen von seinen Bildern, die sich nach selbiger in ein Gemälde verbinden lassen, nicht unnötiger Weise trennet. Die doppelte Szene der friedfertigen Stadt, durch deren Straßen der fröhliche Aufzug einer Hochzeitfeier ging, indem auf dem Markte ein wichtiger Prozeß entschieden ward, erfordert diesem zu Folge kein doppeltes Gemälde, und Homer hat es gar wohl als ein einziges denken können, indem er sich die ganze Stadt aus einem so hohen Augenpunkte vorstellte, daß er die freie Aussicht zugleich in die Straßen und auf den Markt dadurch erhielt.
Ich bin der Meinung, daß man auf das eigentliche Perspektivische in den Gemälden nur gelegentlich durch die Szenenmalerei gekommen ist; und auch als diese schon in ihrer Vollkommenheit war, muß es noch nicht so leicht gewesen sein, die Regeln derselben auf eine einzige Fläche anzuwenden, indem sich noch in den spätern Gemälden unter den Altertümern des Herculanums so häufige und mannigfaltige Fehler gegen die Perspektiv finden, als man itzo kaum einem Lehrlinge vergeben würde.(121)
Doch ich entlasse mich der Mühe, meine zerstreuten Anmerkungen über einen Punkt zu sammeln, über welchen ich in des Herrn Winckelmanns versprochener Geschichte der Kunst die völligste Befriedigung zu erhalten hoffen darf.(122)
XX
Ich lenke mich vielmehr wieder in meinen Weg, wenn ein Spaziergänger anders einen Weg hat.
Was ich von körperlichen Gegenständen überhaupt gesagt habe, das gilt von körperlichen schönen Gegenständen um so viel mehr.
Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erfodert also, daß diese Teile neben einander liegen müssen; und da Dinge, deren Teile neben einander liegen, der eigentliche Gegenstand der Malerei sind; so kann sie, und nur sie allein, körperliche Schönheit nachahmen.
Der Dichter der die Elemente der Schönheit nur nach einander zeigen könnte, enthält sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit, gänzlich. Er fühlt es, daß diese Elemente nach einander geordnet, unmöglich die Wirkung haben können, die sie, neben einander geordnet, haben; daß der konzentrierende Blick, den wir nach ihrer Enumeration auf sie zugleich zurück senden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewähret; daß es über die menschliche Einbildung gehet, sich vorzustellen, was dieser Mund, und diese Nase, und diese Augen zusammen für einen Effekt haben, wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Komposition solcher Teile erinnern kann.
Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: Nireus war schön; Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständlichere Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet. Wie sehr würde ein neuerer Dichter darüber luxuriert haben!
Schon ein Constantinus Manasses wollte seine kahle Chronike mit einem Gemälde der Helena auszieren. Ich muß ihn für seinen Versuch danken. Denn ich wüßte wirklich nicht, wo ich sonst ein Exempel auftreiben sollte, aus welchem augenscheinlicher erhelle, wie törigt es sei, etwas zu wagen, das Homer so weislich unterlassen hat. Wenn ich bei ihm lese:(123)
Ην έ γυνη περικαλλης, ευοφρυς, ευχρουσατη,
Ευπαρειος, ευπροσωπος, βοωπις, χιονοχρους,
Ελικοβλεφαρος, άβρα, χαριτων γεμον αλσος,
Δευκοβραχιων, τρυφερα, καλλος αντικρυς εμπνουν,
Το προσωπον καταλευκον, έ παρεια ρόδοχρους,
Το προσωπον επιχαρι, το βλεφαρον ώραιον,
Καλλος ανεπιτηδευτον, αβαπτισον, αυτοχρουν,
Εβαπτε την λευκοτητα ροδοχρια πυρινη,
Ως ει τις τον ελεφαντα βαψει λαμπρα πορφυρα.
Δειρη μακρα, καταλευκος, όϑεν εμυϑουργηϑη
Κυκνογενη την ευοπτον Ελενην χρηματιζειν. – –
so dünkt mich, ich sehe Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der Spitze desselben ein prächtiges Gebäude aufgeführet werden soll, die aber alle auf der andern Seite von selbst wieder herabrollen. Was für ein Bild hinterläßt er, dieser Schwall von Worten? Wie sahe Helena nun aus? Werden nicht, wenn tausend Menschen dieses lesen, sich alle tausend eine eigene Vorstellung von ihr machen?
Doch es ist wahr, politische Verse eines Mönches sind keine Poesie. Man höre also den Ariost, wenn er seine bezaubernde Alcina schildert:(124)
Di persona era tanto ben formata,
Quanto mai finger san Pittori industri:
Con bionda chioma, lunga e annodata,
Oro non è, che piu risplenda, e lustri,
Spargeasi per la guancia delicata
Misto color di rose e di ligustri.
Di terso avorio era la fronte lieta,
Che lo spazio finia con giusta meta.
Sotto due negri, e sottilissimi archi
Son due negri occhi, anzi due chiari soli,
Pietosi à riguardar, à mover parchi,
Intorno à cui par ch’ Amor scherzi, e voli,
E ch’ indi tuta la faretra scarchi,
E che visibilmente i cori involvi.
Quindi il naso per mezo il viso scende
Che non trova l’invidia ove l’emende.
Sotto quel sta, quasi fra due vallette.
La bocca sparsa di natio cinabro,
Quivi due filze son di perle elette,
Che chiude, ed apre un bello e dolce labro;
Quindi escon le cortesi parolette,
Da render molle ogni cor rozo e scabro;
Quivi si forma quel soave riso,
Ch’ apre a sua posta in terra il paradiso.
Bianca neve è il bel collo, e’l petto latte,
Il collo è tondo, il petto colmo e largo;
Due pome acerbe, é pur d’avorio fatte,
Vengono e van, come onda al primo margo.
Quando piacevole aura il mar combatte.
Non potria l’ altre parti veder Argo,
Ben si può giudicar, che corrisponde,
A quel ch’ appar di fuor, quel che s’asconde.
Monstran le braccia sua misura giusta,
Et la candida man spesso si vede.
Lunghetta alquanto, e di larghezza angusta,
Dove nè nodo appar, nè vena eccede.
Si vede al fin de la persona augusta
Il breve, asciutto, e ritondetto piede.
Gli angelici sembianti nati in cielo
Non si ponno celar sotto alcun velo.
Milton sagt bei Gelegenheit des Pandämoniums: einige lobten das Werk, andere den Meister des Werks. Das Lob des einen ist also nicht allezeit auch das Lob des andern. Ein Kunstwerk kann allen Beifall verdienen, ohne daß sich zum Ruhme des Künstlers viel besonders sagen läßt. Wiederum kann ein Künstler mit Recht unsere Bewunderung verlangen, auch wenn sein Werk uns die völlige Gnüge nicht tut. Dieses vergesse man nie, und es werden sich öfters ganz widersprechende Urteile vergleichen lassen. Eben wie hier. Dolce, in seinem Gespräche von der Malerei, läßt den Aretino von den angeführten Stanzen des Ariost ein außerordentliches Aufheben machen;(125) ich hingegen, wähle sie als ein Exempel eines Gemäldes ohne Gemälde. Wir haben beide Recht. Dolce bewundert darin die Kenntnisse, welche der Dichter von der körperlichen Schönheit zu haben zeiget; ich aber sehe bloß auf die Wirkung, welche diese Kenntnisse, in Worte ausgedrückt, auf meine Einbildungskraft haben können. Dolce schließt aus jenen Kenntnissen, daß gute Dichter nicht minder gute Maler sind; und ich aus dieser Wirkung, daß sich das, was die Maler durch Linien und Farben am besten ausdrücken können, durch Worte grade am schlechtesten ausdrücken läßt. Dolce empfiehlet die Schilderung des Ariost allen Malern als das vollkommenste Vorbild einer schönen Frau; und ich empfehle es allen Dichtern als die lehrreichste Warnung, was einem Ariost mißlingen müssen, nicht noch unglücklicher zu versuchen. Es mag sein, daß wenn Ariost sagt:
Di persona era tanto ben formata
Quanto mai finger san Pittori industri,
er die Lehre von den Proportionen, so wie sie nur immer der fleißigste Künstler in der Natur und aus den Antiken studieret, vollkommen verstanden zu haben, dadurch beweiset.(126) Er mag sich immer hin, in den bloßen Worten:
Spargeasi per la guancia delicata
Misto color di rose e di ligustri,
als den vollkommensten Koloristen, als einen Titian, zeigen.(127) Man mag daraus, daß er das Haar der Alcina nur mit dem Golde vergleicht, nicht aber güldenes Haar nennet, noch so deutlich schließen, da er den Gebrauch des wirklichen Goldes in der Farbengebung gemißbilliget.(128) Man mag sogar in seiner herabsteigenden Nase,
Quindi il naso per mezo il viso scende,
das Profil jener alten griechischen, und von griechischen Künstlern auch Römern geliehenen Nasen finden.(129) Was nutzt alle diese Gelehrsamkeit und Einsicht uns Lesern, die wir eine schöne Frau zu sehen glauben wollen, die wir etwas von der sanften Wallung des Geblüts dabei empfinden wollen, die den wirklichen Anblick der Schönheit begleitet? Wenn der Dichter weiß, aus welchen Verhältnissen eine schöne Gestalt entspringet, wissen wir es darum auch? Und wenn wir es auch wüßten, läßt er uns hier diese Verhältnisse sehen? Oder erleichtert er uns auch nur im geringsten die Mühe, uns ihrer auf eine lebhafte anschauende Art zu erinnern? Eine Stirn, in die gehörigen Schranken geschlossen, la fronte,
Che lo spazio finia con giusta meta;
eine Nase, an welcher selbst der Neid nichts zu bessern findet,
Che non trova l’invidia, ove l’emende;
eine Hand, etwas länglich und schmal in ihrer Breite,
Lunghetta alquanto, et di larghezza angusta:
was für ein Bild geben diese allgemeine Formeln? In dem Munde eines Zeichenmeisters, der seine Schüler auf die Schönheiten des akademischen Modells aufmerksam machen will, möchten sie noch etwas sagen; denn ein Blick auf dieses Modell, und sie sehen die gehörigen Schranken der fröhlichen Stirne, sie sehen den schönsten Schnitt der Nase, die schmale Breite der niedlichen Hand. Aber bei dem Dichter sehe ich nichts, und empfinde mit Verdruß die Vergeblichkeit meiner besten Anstrengung, etwas sehen zu wollen.
In diesem Punkte, in welchem Virgil dem Homer durch Nichtstun nachahmen können, ist auch Virgil ziemlich glücklich gewesen. Auch seine Dido ist ihm weiter nichts als pulcherrima Dido. Wenn er ja umständlicher etwas an ihr beschreibet, so ist es ihr reicher Putz, ihr prächtiger Aufzug:
Tandem progreditur – – – –
Sidoniam picto chlamydem circumdata limbo:
Cui pharetra ex auro, crines nodantur in aurum,
Aurea purpuream subnectit fibula vestem.(130)
Wollte man darum auf ihn anwenden, was jener alte Künstler zu einem Lehrlinge sagte, der eine sehr geschmückte Helena gemalt hatte, »da du sie nicht schön malen können, hast du sie reich gemalt«: so würde Virgil antworten, »es liegt nicht an mir, daß ich sie nicht schön malen können; der Tadel trifft die Schranken meiner Kunst; mein Lob sei, mich innerhalb diesen Schranken gehalten zu haben.«
Ich darf hier die beiden Lieder des Anakreons nicht vergessen, in welchen er uns die Schönheit seines Mädchens und seines Bathylls zergliedert.(131) Die Wendung die er dabei nimmt, macht alles gut. Er glaubt einen Maler vor sich zu haben, und läßt ihn unter seinen Augen arbeiten. So, sagt er, mache mir das Haar, so die Stirne, so die Augen, so den Mund, so Hals und Busen, so Hüft und Hände! Was der Künstler nur Teilweise zusammen setzen kann, konnte ihm der Dichter auch nur Teilweise vorschreiben. Seine Absicht ist nicht, daß wir in dieser mündlichen Direktion des Malers, die ganze Schönheit der geliebten Gegenstände erkennen und fühlen sollen; er selbst empfindet die Unfähigkeit des wörtlichen Ausdrucks, und nimmt eben daher den Ausdruck der Kunst zu Hülfe, deren Täuschung er so sehr erhebet, daß das ganze Lied mehr ein Lobgedicht auf die Kunst, als auf sein Mädchen zu sein scheinet. Er sieht nicht das Bild, er sieht sie selbst, und glaubt, daß es nun eben den Mund zum Reden eröffnen werde:
Απεχει βλεπω γαρ αυτην.
Ταχα, κηρε, και λαλησεις.
Auch in der Angabe des Bathylls, ist die Anpreisung des schönen Knabens mit der Anpreisung der Kunst und des Künstlers so in einander geflochten, daß es zweifelhaft wird, wem zu Ehren Anakreon das Lied eigentlich bestimmt habe. Er sammelt die schönsten Teile aus verschiednen Gemälden, an welchen eben die vorzügliche Schönheit dieser Teile das Charakteristische war; den Hals nimmt er von einem Adonis, Brust und Hände von einem Merkur, die Hüfte von einem Pollux, den Bauch von einem Bacchus; bis er den ganzen Bathyll in einem vollendeten Apollo des Künstlers erblickt.
Μετα δε προσωπον εσω,
Τον Αδωνιδος παρελϑων.
Ελεφαντινος τραχηλος
Μειαμαζιον δε ποιει
Διδυμας τε χειρας Ερμου.
Ποσυδευκεος δε μηρους.
Διονυσιην δε νηδυν – –
Τον Απολλωνα δε τουτον
Καϑελων, ποιει Βαϑυλλον.
So weiß auch Lucian von der Schönheit der Panthea anders keinen Begriff zu machen, als durch Verweisung auf die schönsten weiblichen Bildsäulen alter Künstler.(132) Was heißt aber dieses sonst, als bekennen, daß die Sprache vor sich selbst hier ohne Kraft ist; daß die Poesie stammelt und die Beredsamkeit verstummet, wenn ihnen nicht die Kunst noch einigermaßen zur Dolmetscherin dienet?
XXI
Aber verliert die Poesie nicht zu viel, wenn man ihr alle Bilder körperlicher Schönheit nehmen will? – Wer will ihr die nehmen? Wenn man ihr einen einzigen Weg zu verleiden sucht, auf welchem sie zu solchen Bildern zu gelangen gedenket, indem sie die Fußtapfen einer verschwisterten Kunst aufsucht, in denen sie ängstlich herumirret, ohne jemals mit ihr das gleiche Ziel zu erreichen: verschließt man ihr darum auch jeden andern Weg, wo die Kunst hinwiederum ihr nachsehen muß?
Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderung körperlicher Schönheiten so geflissentlich enthält, von dem wir kaum einmal im Vorbeigehen erfahren, daß Helena weiße Arme(133) und schönes Haar(134) gehabt; eben der Dichter weiß dem ohngeachtet uns von ihrer Schönheit einen Begriff zu machen, der alles weit übersteiget, was die Kunst in dieser Absicht zu leisten im Stande ist. Man erinnere sich der Stelle, wo Helena in die Versammlung der Ältesten des Trojanischen Volkes tritt. Die ehrwürdigen Greise sehen sie, und einer sprach zu den andern:(135)
Ου νεμεσις, Τρωας και ευκνημιδας Αχαιους
Τοιηδ’ αμφι γυναικι πολυν χρονον αλγεα πασχειν
Αινως αϑανατησι ϑεης εις ωπα εοικεν.
Was kann eine lebhaftere Idee von Schönheit gewähren, als das kalte Alter sie des Krieges wohl wert erkennen lassen, der so viel Blut und so viele Tränen kostet?
Was Homer nicht nach seinen Bestandteilen beschreiben konnte, läßt er uns in seiner Wirkung erkennen. Malet uns, Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit verursachet, und ihr habt die Schönheit selbst gemalet. Wer kann sich den geliebten Gegenstand der Sappho, bei dessen Erblickung sie Sinne und Gedanken zu verlieren bekennet, als häßlich denken? Wer glaubt nicht die schönste vollkommenste Gestalt zu sehen, sobald er mit dem Gefühle sympathisieret, welches nur eine solche Gestalt erregen kann? Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia Teil vor Teil zeiget:
Quos humeros, quales vidi tetigique lacertos!
Forma papillarum quam fuit apta premi!
Quam castigato planus sub pectore venter!
Quantum et quale latus! quam juvenile femur!
sondern weil er es mit der wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht so leicht zu erwecken ist, glauben wir eben des Anblickes zu genießen, den er genoß.
Ein andrer Weg, auf welchem die Poesie die Kunst in Schilderung körperlicher Schönheit wiederum einholet, ist dieser, daß sie Schönheit in Reiz verwandelt. Reiz ist Schönheit in Bewegung, und eben darum dem Maler weniger bequem als dem Dichter. Der Maler kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren ohne Bewegung. Folglich wird der Reiz bei ihm zur Grimasse. Aber in der Poesie bleibt er was er ist; ein transitorisches Schönes, das wir wiederholt zu sehen wünschen. Es kömmt und geht; und da wir uns überhaupt einer Bewegung leichter und lebhafter erinnern können, als bloßer Formen oder Farben: so muß der Reiz in dem nämlichen Verhältnisse stärker auf uns wirken, als die Schönheit. Alles was noch in dem Gemälde der Alcina gefällt und rühret, ist Reiz. Der Eindruck, den ihre Augen machen, kömmt nicht daher, daß sie schwarz und feurig sind, sondern daher, daß sie,
Pietosi à riguardar, à mover parchi.
mit Holdseligkeit um sich blicken, und sich langsam drehen, daß Amor sie umflattert und seinen ganzen Köcher aus ihnen abschießt. Ihr Mund entzücket, nicht weil von eigentümlichem Zinnober bedeckte Lippen zwei Reihen auserlesener Perlen verschließen; sondern weil hier das liebliche Lächeln gebildet wird, welches, für sich schon, ein Paradies auf Erden eröffnet; weil er es ist, aus dem die freundlichen Worte tönen, die jedes rauhe Herz erweichen. Ihr Busen bezaubert, weniger weil Milch und Helfenbein und Äpfel, uns seine Weiße und niedliche Figur vorbilden, als vielmehr weil wir ihn sanft auf und nieder wallen sehen, wie die Wellen am äußersten Rande des Ufers, wenn ein spielender Zephyr die See bestreitet:
Due pome acerbe, e pur d’avorio fatte,
Vengono e van, come onda al primo margo,
Quando piacevole aura il mar combatte.
Ich bin versichert, daß lauter solche Züge des Reizes in eine oder zwei Stanzen zusammen gedränget, weit mehr tun würden als die fünfe alle, in welche sie Ariost zerstreuet und mit kalten Zügen der schönen Form, viel zu gelehrt für unsere Empfindungen, durchflochten hat.
Selbst Anakreon wollte lieber in die anscheinende Unschicklichkeit verfallen, eine Untulichkeit von dem Maler zu verlangen, als das Bild seines Mädchens nicht mit Reiz beleben.
Τρυφερου δ’εσω γενειου,
Περι λυγδινω τραχηλω
Χαριτες πετοιντο πασαι.
Ihr sanftes Kinn, befiehlt er dem Künstler, ihren marmornen Nacken laß alle Grazien umflattern! Wie das? Nach dem genauesten Wortverstande? Der ist keiner malerischen Ausführung fähig. Der Maler konnte dem Kinne die schönste Ründung, das schönste Grübchen, Amoris digitulo impressum, (denn das εσω scheinet mir ein Grübchen andeuten zu wollen) – er konnte dem Halse die schönste Karnation geben; aber weiter konnte er nichts. Die Wendungen dieses schönen Halses, das Spiel der Muskeln, durch das jenes Grübchen bald mehr bald weniger sichtbar wird, der eigentliche Reiz, war über seine Kräfte. Der Dichter sagte das Höchste, wodurch uns seine Kunst die Schönheit sinnlich zu machen vermag, damit auch der Maler den höchsten Ausdruck in seiner Kunst suchen möge. Ein neues Beispiel zu der obigen Anmerkung, daß der Dichter, auch wenn er von Kunstwerken redet, dennoch nicht verbunden ist, sich mit seiner Beschreibung in den Schranken der Kunst zu halten.
XXII
Zeuxis malte eine Helena, und hatte das Herz, jene berühmte Zeilen des Homers, in welchen die entzückten Greise ihre Empfindung bekennen, darunter zu setzen. Nie sind Malerei und Poesie in einen gleichern Wettstreit gezogen worden. Der Sieg blieb unentschieden, und beide verdienten gekrönet zu werden.
Denn so wie der weise Dichter uns die Schönheit, die er nach ihren Bestandteilen nicht schildern zu können fühlte, bloß in ihrer Wirkung zeigte: so zeigte der nicht minder weise Maler uns die Schönheit nach nichts als ihren Bestandteilen, und hielt es seiner Kunst für unanständig, zu irgend einem andern Hülfsmittel Zuflucht zu nehmen. Sein Gemälde bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend da stand. Denn es ist wahrscheinlich, daß es eben die Helena war, welche er für die zu Crotona malte.(136)
Man vergleiche hiermit, Wundershalber, das Gemälde welches Caylus dem neuern Künstler aus jenen Zeilen des Homers vorzeichnet: »Helena, mit einem weißen Schleier bedeckt, erscheinet mitten unter verschiedenen alten Männern, in deren Zahl sich auch Priamus befindet, der an den Zeichen seiner königlichen Würde zu erkennen ist. Der Artist muß sich besonders angelegen sein lassen, uns den Triumph der Schönheit in den gierigen Blicken und in allen den Äußerungen einer staunenden Bewunderung auf den Gesichtern dieser kalten Greise, empfinden zu lassen. Die Szene ist über einem von den Toren der Stadt. Die Vertiefung des Gemäldes kann sich in den freien Himmel, oder gegen höhere Gebäude der Stadt verlieren; jenes würde kühner lassen, eines aber ist so schicklich wie das andere.«
Man denke sich dieses Gemälde von dem größten Meister unserer Zeit ausgeführet, und stelle es gegen das Werk des Zeuxis. Welches wird den wahren Triumph der Schönheit zeigen? Dieses, wo ich ihn selbst fühle, oder jenes, wo ich ihn aus den Grimassen gerührter Graubärte schließen soll? Turpe senilis amor; ein gieriger Blick macht das ehrwürdigste Gesicht lächerlich, und ein Greis der jugendliche Begierden verrät, ist sogar ein ekler Gegenstand. Den Homerischen Greisen ist dieser Vorwurf nicht zu machen; denn der Affekt den sie empfinden, ist ein augenblicklicher Funke, den ihre Weisheit sogleich erstickt; nur bestimmt, der Helena Ehre zu machen, aber nicht, sie selbst zu schänden. Sie bekennen ihr Gefühl, und fügen sogleich hinzu:
Αλλα και ως, τοιη περ εουσ’, εν νηυσι νεεσϑω,
Μηδ’ ήμιν τεκεεσσι τ’ οπισσω πημα λιποιτο.
Ohne diesen Entschluß wären es alte Gecke; wären sie das, was sie in dem Gemälde des Caylus erscheinen. Und worauf richten sie denn da ihre gierigen Blicke? Auf eine vermummte, verschleierte Figur. Das ist Helena? Es ist mir unbegreiflich, wie ihr Caylus hier den Schleier lassen können. Zwar Homer gibt ihr denselben ausdrücklich:
Αυτικα δ’ αργεννησι καλυψαμενη οϑονησιν
Ωρματ’ εκ ϑαλαμοιο – –
aber, um über die Straßen damit zu gehen; und wenn auch schon bei ihm die Alten ihre Bewunderung zeigen, noch ehe sie den Schleier wieder abgenommen oder zurückgeworfen zu haben scheinet, so war es nicht das erstemal, daß sie die Alten sahen; ihr Bekenntnis durfte also nicht aus dem itzigen augenblicklichen Anschauen entstehen, sondern sie konnten schon oft empfunden haben, was sie zu empfinden, bei dieser Gelegenheit nur zum erstenmal bekannten. In dem Gemälde findet so etwas nicht Statt. Wenn ich hier entzückte Alte sehe, so will ich auch zugleich sehen, was sie in Entzückung setzt; und ich werde äußerst betroffen, wenn ich weiter nichts, als, wie gesagt, eine vermummte, verschleierte Figur wahrnehme, die sie brünstig angaffen. Was hat dieses Ding von der Helena? Ihren weißen Schleier, und etwas von ihrem proportionierten Umrisse, so weit Umriß unter Gewändern sichtbar werden kann. Doch vielleicht war es auch des Grafen Meinung nicht daß ihr Gesicht verdeckt sein sollte, und er nennet den Schleier bloß als ein Stück ihres Anzuges. Ist dieses (seine Worte sind einer solchen Auslegung zwar nicht wohl fähig: Helene couverte d’un voile blanc) so entstehet eine andere Verwunderung bei mir: er empfiehlt dem Artisten so sorgfältig den Ausdruck auf den Gesichtern der Alten; nur über die Schönheit in dem Gesichte der Helena verliert er kein Wort. Diese sittsame Schönheit, im Auge den feuchten Schimmer einer reuenden Träne, furchtsam sich nähernd – Wie? Ist die höchste Schönheit unsern Künstlern so etwas geläufiges, daß sie auch nicht daran erinnert zu werden brauchen? Oder ist Ausdruck mehr als Schönheit? Und sind wir auch in Gemälden schon gewohnt, so wie auf der Bühne, die häßlichste Schauspielerin für eine entzückende Prinzessin gelten zu lassen, wenn ihr Prinz nur recht warme Liebe gegen sie zu empfinden äußert?
In Wahrheit; das Gemälde des Caylus würde sich gegen das Gemälde des Zeuxis, wie Pantomime zur erhabensten Poesie verhalten.
Homer ward vor Alters ohnstreitig fleißiger gelesen, als itzt. Dennoch findet man so gar vieler Gemälde nicht erwähnet, welche die alten Künstler aus ihm gezogen hätten.(137) Nur den Fingerzeig des Dichters auf besondere körperliche Schönheiten, scheinen sie fleißig genutzt zu haben; diese malten sie; und in diesen Gegenständen, fühlten sie wohl, war es ihnen allein vergönnet, mit dem Dichter wetteifern zu wollen. Außer der Helena, hatte Zeuxis auch die Penelope gemalt; und des Apelles Diana war die Homerische in Begleitung ihrer Nymphen. Bei dieser Gelegenheit will ich erinnern, daß die Stelle des Plinius, in welcher von der letztern die Rede ist, einer Verbesserung bedarf.(138) Handlungen aber aus dem Homer zu malen, bloß weil sie eine reiche Komposition, vorzügliche Kontraste, künstliche Beleuchtungen darbieten, schien der alten Artisten ihr Geschmack nicht zu sein; und konnte es nicht sein, so lange sich noch die Kunst in den engern Grenzen ihrer höchsten Bestimmung hielt. Sie nährten sich dafür mit dem Geiste des Dichters; sie füllten ihre Einbildungskraft mit seinen erhabensten Zügen; das Feuer seines Enthusiasmus entflammte den ihrigen; sie sahen und empfanden wie er: und so wurden ihre Werke Abdrücke der Homerischen, nicht in dem Verhältnisse eines Portraits zu seinem Originale, sondern in dem Verhältnisse eines Sohnes zu seinem Vater; ähnlich aber verschieden. Die Ähnlichkeit liegt öfters nur in einem einzigen Zuge; die übrigen alle haben unter sich nichts gleiches, als daß sie mit dem ähnlichen Zuge, in dem einen sowohl als in dem andern harmonieren.
Da übrigens die Homerischen Meisterstücke der Poesie älter waren, als irgend ein Meisterstück der Kunst; da Homer die Natur eher mit einem malerischen Auge betrachtet hatte, als ein Phidias und Apelles: so ist es nicht zu verwundern, daß die Artisten verschiedene ihnen besonders nützliche Bemerkungen, ehe sie Zeit hatten, sie in der Natur selbst zu machen, schon bei dem Homer gemacht fanden, wo sie dieselben begierig ergriffen, um durch den Homer die Natur nachzuahmen. Phidias bekannte, daß die Zeilen:(139)
Η, και κυανεησιν επ’ οφρυσι νευσε Κρονιων
Αμβροσιαι δ’ αρα χαιται επερρώσαντο ανακτος,
Κρατος απ’ αϑανατοιο μεγαν δ’ ελελιξεν Ολυμπον
ihm bei seinem Olympischen Jupiter zum Vorbilde gedienet, und daß ihm nur durch ihre Hülfe ein göttliches Antlitz, propemodum ex ipso coelo petitum, gelungen sei. Wem dieses nichts mehr gesagt heißt, als daß die Phantasie des Künstlers durch das erhabene Bild des Dichters befeuert, und eben so erhabener Vorstellungen fähig gemacht worden, der, dünkt mich, übersieht das Wesentlichste, und begnügt sich mit etwas ganz allgemeinem, wo sich, zu einer weit gründlichern Befriedigung, etwas sehr spezielles angeben läßt. So viel ich urteile, bekannte Phidias zugleich, daß er in dieser Stelle zuerst bemerkt habe, wie viel Ausdruck in den Augenbraunen liege, quanta pars animi(140) sich in ihnen zeige. Vielleicht, daß sie ihn auch auf das Haar mehr Fleiß zu wenden bewegte, um das einigermaßen auszudrücken, was Homer ambrosisches Haar nennet. Denn es ist gewiß, daß die alten Künstler vor dem Phidias das Sprechende und Bedeutende der Mienen wenig verstanden, und besonders das Haar sehr vernachlässiget hatten. Noch Myron war in beiden Stücken tadelhaft, wie Plinius anmerkt,(141) und nach eben demselben, war Pythagoras Leontinus der erste, der sich durch ein zierliches Haar hervortat.(142) Was Phidias aus dem Homer lernte, lernten die andern Künstler aus den Werken des Phidias.
Ich will noch ein Beispiel dieser Art anführen, welches mich allezeit sehr vergnügt hat. Man erinnere sich, was Hogarth über den Apollo zu Belvedere anmerkt.(143) »Dieser Apollo, sagt er, und der Antinous sind beide in eben demselben Palaste zu Rom zu sehen. Wenn aber Antinous den Zuschauer mit Verwunderung erfüllet, so setzet ihn der Apollo in Erstaunen; und zwar, wie sich die Reisenden ausdrücken, durch einen Anblick, welcher etwas mehr als menschliches zeiget, welches sie gemeiniglich gar nicht zu beschreiben im Stande sind. Und diese Wirkung ist, sagen sie, um desto bewunderswürdiger, da, wenn man es untersucht, das Unproportionierliche daran auch einem gemeinen Auge klar ist. Einer der besten Bildhauer, welche wir in England haben, der neulich dahin reisete, diese Bildsäule zu sehen, bekräftigte mir das, was itzo gesagt worden, besonders, daß die Füße und Schenkel, in Ansehung der obern Teile, zu lang und zu breit sind. Und Andreas Sacchi, einer der größten italiänischen Maler, scheinet eben dieser Meinung gewesen zu sein, sonst würde er schwerlich (in einem berühmten Gemälde, welches itzo in England ist) seinem Apollo, wie er den Tonkünstler Pasquilini krönet, das völlige Verhältnis des Antinous gegeben haben, da er übrigens wirklich eine Kopie von dem Apollo zu sein scheinet. Ob wir gleich an sehr großen Werken oft sehen, daß ein geringerer Teil aus der Acht gelassen worden, so kann dieses doch hier der Fall nicht sein. Denn an einer schönen Bildsäule ist ein richtiges Verhältnis eine von ihren wesentlichen Schönheiten. Daher ist zu schließen, daß diese Glieder mit Fleiß müssen sein verlängert worden, sonst würde es leicht haben können vermieden werden. Wenn wir also die Schönheiten dieser Figur durch und durch untersuchen, so werden wir mit Grunde urteilen, daß das, was man bisher für unbeschreiblich vortrefflich an ihrem allgemeinen Anblicke gehalten, von dem hergerühret hat, was ein Fehler in einem Teile derselben zu sein geschienen.« – Alles dieses ist sehr einleuchtend; und schon Homer, füge ich hinzu, hat es empfunden und angedeutet, daß es ein erhabenes Ansehen gibt, welches bloß aus diesem Zusatze von Größe in den Abmessungen der Füße und Schenkel entspringet. Denn wenn Antenor die Gestalt des Ulysses mit der Gestalt des Menelaus vergleichen will, so läßt er ihn sagen:(144)
Σταντων μεν, Μενελαος ύπειρεχεν ευρεας ωμους,
Αμφω δ’ εζομενω, γεραρωτερος ηεν Οδυσσευς.
»Wann beide standen, ragte Menelaus mit den breiten Schultern hoch hervor; wann aber beide saßen, war Ulysses der ansehnlichere.« Da Ulysses also das Ansehen im Sitzen gewann, welches Menelaus im Sitzen verlor, so ist das Verhältnis leicht zu bestimmen, welches beider Oberleib zu den Füßen und Schenkeln gehabt. Ulysses hatte einen Zusatz von Größe in den Proportionen des erstern, Menelaus in den Proportionen der letztern.
XXIII
Ein einziger unschicklicher Teil kann die übereinstimmende Wirkung vieler zur Schönheit stören. Doch wird der Gegenstand darum noch nicht häßlich. Auch die Häßlichkeit erfodert mehrere unschickliche Teile, die wir ebenfalls auf einmal müssen übersehen können, wenn wir dabei das Gegenteil von dem empfinden sollen, was uns die Schönheit empfinden läßt.
Sonach würde auch die Häßlichkeit, ihrem Wesen nach, kein Vorwurf der Poesie sein können; und dennoch hat Homer die äußerste Häßlichkeit in dem Thersites geschildert, und sie nach ihren Teilen neben einander geschildert. Warum war ihm bei der Häßlichkeit vergönnet, was er bei der Schönheit so einsichtsvoll sich selbst untersagte? Wird die Wirkung der Häßlichkeit, durch die aufeinanderfolgende Enumeration ihrer Elemente, nicht eben sowohl gehindert, als die Wirkung der Schönheit durch die ähnliche Enumeration ihrer Elemente vereitelt wird?
Allerdings wird sie das; aber hierin liegt auch die Rechtfertigung des Homers. Eben weil die Häßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu einer minder widerwärtigen Erscheinung körperlicher Unvollkommenheiten wird, und gleichsam, von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu sein aufhöret, wird sie dem Dichter brauchbar; und was er vor sich selbst nicht nutzen kann, nutzt er als ein Ingrediens, um gewisse vermischte Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken, mit welchen er uns, in Ermangelung reinangenehmer Empfindungen, unterhalten muß.
Diese vermischte Empfindungen sind das Lächerliche, und das Schreckliche.
Homer macht den Thersites häßlich, um ihn lächerlich zu machen. Er wird aber nicht durch seine bloße Häßlichkeit lächerlich; denn Häßlichkeit ist Unvollkommenheit, und zu dem Lächerlichen wird ein Kontrast von Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten erfodert.(145) Dieses ist die Erklärung meines Freundes, zu der ich hinzusetzen möchte, daß dieser Kontrast nicht zu krall und zu schneidend sein muß, daß die Opposita, um in der Sprache der Maler fortzufahren, von der Art sein müssen, daß sie sich in einander verschmelzen lassen. Der weise und rechtschaffene Äsop wird dadurch, daß man ihm die Häßlichkeit des Thersites gegeben, nicht lächerlich. Es war eine alberne Mönchsfratze, das Γελοιον seiner lehrreichen Märchen, vermittelst der Ungestaltheit auch in seine Person verlegen zu wollen. Denn ein mißgebildeter Körper und eine schöne Seele, sind wie Öl und Essig, die wenn man sie schon in einander schlägt, für den Geschmack doch immer getrennet bleiben. Sie gewähren kein Drittes; der Körper erweckt Verdruß, die Seele Wohlgefallen; jedes das seine für sich. Nur wenn der mißgebildete Körper zugleich gebrechlich und kränklich ist, wenn er die Seele in ihren Wirkungen hindert, wenn er die Quelle nachteiliger Vorurteile gegen sie wird: alsdenn fließen Verdruß und Wohlgefallen in einander; aber die neue daraus entspringende Erscheinung ist nicht Lachen, sondern Mitleid, und der Gegenstand, den wir ohne dieses nur hochgeachtet hätten, wird interessant. Der mißgebildete gebrechliche Pope mußte seinen Freunden weit interessanter sein, als der schöne und gesunde Wicherley den seinen. – So wenig aber Thersites durch die bloße Häßlichkeit lächerlich wird, eben so wenig würde er es ohne dieselbe sein. Die Häßlichkeit; die Übereinstimmung dieser Häßlichkeit mit seinem Charakter; der Widerspruch, den beide mit der Idee machen, die er von seiner eigenen Wichtigkeit heget; die unschädliche, ihn allein demütigende Wirkung seines boshaften Geschwätzes: alles muß zusammen zu diesem Zwecke wirken. Der letztere Umstand ist das Ουφϑαρτικον, welches Aristoteles(146) unumgänglich zu dem Lächerlichen verlanget; so wie es auch mein Freund zu einer notwendigen Bedingung macht, daß jener Kontrast von keiner Wichtigkeit sein, und uns nicht sehr interessieren müsse. Denn man nehme auch nur an, daß dem Thersites selbst seine hämische Verkleinerung des Agamemnons teurer zu stehen gekommen wäre, daß er sie, anstatt mit ein paar blutigen Schwielen, mit dem Leben bezahlen müssen: und wir würden aufhören über ihn zu lachen. Denn dieses Scheusal von einem Menschen ist doch ein Mensch, dessen Vernichtung uns stets ein größeres Übel scheinet, als alle seine Gebrechen und Laster. Um die Erfahrung hiervon zu machen, lese man sein Ende bei dem Quintus Calaber.(147) Achilles betauert die Penthesilea getötet zu haben: die Schönheit in ihrem Blute, so tapfer vergossen, fodert die Hochachtung und das Mitleid des Helden; und Hochachtung und Mitleid werden Liebe. Aber der schmähsüchtige Thersites macht ihm diese Liebe zu einem Verbrechen. Er eifert wider die Wollust, die auch den wackersten Mann zu Unsinnigkeiten verleite,
– – – έτ’ αφρονα φωτα τιϑησι
Και πινυτον περ εοντα. – – – –
Achilles ergrimmt, und ohne ein Wort zu versetzen, schlägt er ihn so unsanft zwischen Back und Ohr, daß ihm Zähne, und Blut und Seele mit eins aus dem Halse stürzen. Zu grausam! Der jachzornige mörderische Achilles wird mir verhaßter, als der tückische knurrende Thersites; das Freudengeschrei, welches die Griechen über diese Tat erheben, beleidiget mich; ich trete auf die Seite des Diomedes, der schon das Schwerd zucket, seinen Anverwandten an dem Mörder zu rächen: denn ich empfinde es, daß Thersites auch mein Anverwandter ist, ein Mensch.
Gesetzt aber gar, die Verhetzungen des Thersites wären in Meuterei ausgebrochen, das aufrührerische Volk wäre wirklich zu Schiffe gegangen und hätte seine Heerführer verräterisch zurückgelassen, die Heerführer wären hier einem rachsüchtigen Feinde in die Hände gefallen, und dort hätte ein göttliches Strafgerichte über Flotte und Volk ein gänzliches Verderben verhangen: wie würde uns alsdenn die Häßlichkeit des Thersites erscheinen? Wenn unschädliche Häßlichkeit lächerlich werden kann, so ist schädliche Häßlichkeit allezeit schrecklich. Ich weiß dieses nicht besser zu erläutern, als mit ein paar vortrefflichen Stellen des Shakespeare. Edmund, der Bastard des Grafen von Gloster, im »König Lear«, ist kein geringerer Bösewicht, als Richard, Herzog von Glocester, der sich durch die abscheulichsten Verbrechen den Weg zum Throne bahnte, den er unter dem Namen, Richard der Dritte, bestieg. Aber wie kömmt es, daß jener bei weitem nicht so viel Schaudern und Entsetzen erwecket, als dieser? Wenn ich den Bastard sagen höre:(148)
Thou, Nature, art my Goddess, to thy Law
My services are bound; wherefore should I
Stand in the Plague of Custom, and permit
The curtesie of Nations to deprive me,
For that I am some twelve, or fourteen Moonshines
Lag of a Brother? Why Bastard? wherefore base?
When my dimensions are as well compact,
My mind as gen’rous, and my shape as true
As honest Madam’s Issue? Why brand they thus
With base? with baseness? bastardy? base? base?
Who, in the lusty stealth of Nature, take
More composition and fierce quality,
Than doth, within a dull, stale, tired Bed,
Go to creating a whole tribe of Fops,
Got ’tween a-sleep and wake?
so höre ich einen Teufel, aber ich sehe ihn in der Gestalt eines Engels des Lichts. Höre ich hingegen den Grafen von Glocester sagen:(149)
But I, that am not shap’d for sportive Tricks,
Nor made to court an am’rous looking-glass,
I, that am rudely stampt, and want Love’s Majesty,
To strut before a wanton, ambling Nymph;
I, that am curtail’d of this fair proportion,
Cheated of feature by dissembling nature,
Deform’d, unfinish’d, sent before my time
Into this breathing world, scarce half made up,
And that so lamely and unfashionably,
That dogs bark at me, as I halt by them:
Why I (in this weak piping time of Peace)
Have no delight to pass away the time;
Unless to spy my shadow in the sun,
And descant on mine own deformity.
And therefore, since I cannot prove a Lover.
To entertain these fair well-spoken days,
I am determined, to prove a Villain!
so höre ich einen Teufel, und sehe einen Teufel; in einer Gestalt, die der Teufel allein haben sollte.
XXIV
So nutzt der Dichter die Häßlichkeit der Formen: welchen Gebrauch ist dem Maler davon zu machen vergönnet?
Die Malerei, als nachahmende Fertigkeit, kann die Häßlichheit ausdrücken: die Malerei, als schöne Kunst, will sie nicht ausdrücken. Als jener, gehören ihr alle sichtbare Gegenstände zu: als diese, schließt sie sich nur auf diejenigen sichtbaren Gegenstände ein, welche angenehme Empfindungen erwecken.
Aber gefallen nicht auch die unangenehmen Empfindungen in der Nachahmung? Nicht alle. Ein scharfsinniger Kunstrichter(150) hat dieses bereits von dem Ekel bemerkt. »Die Vorstellungen der Furcht«, sagt er, »der Traurigkeit, des Schreckens, des Mitleids u.s.w. können nur Unlust erregen, in so weit wir das Übel für wirklich halten. Diese können also durch die Erinnerung, daß es ein künstlicher Betrug sei, in angenehme Empfindungen aufgelöset werden. Die widrige Empfindung des Ekels aber erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf die bloße Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für wirklich gehalten werden, oder nicht. Was hilfts dem beleidigten Gemüte also, wenn sich die Kunst der Nachahmung noch so sehr verrät? Ihre Unlust entsprang nicht aus der Voraussetzung, daß das Übel wirklich sei, sondern aus der bloßen Vorstellung desselben, und diese ist wirklich da. Die Empfindungen des Ekels sind also allezeit Natur, niemals Nachahmung.«
Eben dieses gilt von der Häßlichkeit der Formen. Diese Häßlichkeit beleidiget unser Gesichte, widerstehet unserm Geschmacke an Ordnung und Übereinstimmung, und erwecket Abscheu, ohne Rücksicht auf die wirkliche Existenz des Gegenstandes, an welchem wir sie wahrnehmen. Wir mögen den Thersites weder in der Natur noch im Bilde sehen; und wenn schon sein Bild weniger mißfällt, so geschieht dieses doch nicht deswegen, weil die Häßlichkeit seiner Form in der Nachahmung Häßlichkeit zu sein aufhöret, sondern weil wir das Vermögen besitzen, von dieser Häßlichkeit zu abstrahieren, und uns bloß an der Kunst des Malers zu vergnügen. Aber auch dieses Vergnügen wird alle Augenblicke durch die Überlegung unterbrochen, wie übel die Kunst angewendet worden, und diese Überlegung wird selten fehlen, die Geringschätzung des Künstlers nach sich zu ziehen.
Aristoteles gibt eine andere Ursache an,(151) warum Dinge, die wir in der Natur mit Widerwillen erblicken, auch in der getreuesten Abbildung Vergnügen gewähren; die allgemeine Wißbegierde des Menschen. Wir freuen uns, wenn wir entweder aus der Abbildung lernen können, τι έκασον, was ein jedes Ding ist, oder wenn wir daraus schließen können, ότι όυτος εκεινος, daß es dieses oder jenes ist. Allein auch hieraus folget, zum Besten der Häßlichkeit in der Nachahmung, nichts. Das Vergnügen, welches aus der Befriedigung unserer Wißbegierde entspringt, ist momentan, und dem Gegenstande, über welchen sie befriediget wird, nur zufällig: das Mißvergnügen hingegen, welches den Anblick der Häßlichkeit begleitet, permanent, und dem Gegenstande, der es erweckt, wesentlich. Wie kann also jenes diesem das Gleichgewicht halten? Noch weniger kann die kleine angenehme Beschäftigung, welche uns die Bemerkung der Ähnlichkeit macht, die unangenehme Wirkung der Häßlichkeit besiegen. Je genauer ich das häßliche Nachbild mit dem häßlichen Urbilde vergleiche, desto mehr stelle ich mich dieser Wirkung bloß, so daß das Vergnügen der Vergleichung gar bald verschwindet, und mir nichts als der widrige Eindruck der verdoppelten Häßlichkeit übrig bleibet. Nach den Beispielen, welche Aristoteles gibt, zu urteilen, scheinet es, als habe er auch selbst die Häßlichkeit der Formen nicht mit zu den mißfälligen Gegenständen rechnen wollen, die in der Nachahmung gefallen können. Diese Beispiele sind, reißende Tiere und Leichname. Reißende Tiere erregen Schrecken, wenn sie auch nicht häßlich sind; und dieses Schrecken, nicht ihre Häßlichkeit, ist es, was durch die Nachahmung in angenehme Empfindung aufgelöset wird. So auch mit den Leichnamen; das schärfere Gefühl des Mitleids, die schreckliche Erinnerung an unsere eigene Vernichtung ist es, welche uns einen Leichnam in der Natur zu einem widrigen Gegenstande macht; in der Nachahmung aber verlieret jenes Mitleid, durch die Überzeugung des Betrugs, das Schneidende, und von dieser fatalen Erinnerung kann uns ein Zusatz von schmeichelhaften Umständen entweder gänzlich abziehen, oder sich so unzertrennlich mit ihr vereinen, daß wir mehr wünschenswürdiges als schreckliches darin zu bemerken glauben.
Da also die Häßlichkeit der Formen, weil die Empfindung, welche sie erregt, unangenehm, und doch nicht von derjenigen Art unangenehmer Empfindungen ist, welche sich durch die Nachahmung in angenehme verwandeln, an und vor sich selbst kein Vorwurf der Malerei, als schöner Kunst, sein kann: so käme es noch darauf an, ob sie ihr, nicht eben so wohl wie der Poesie, als Ingrediens, um andere Empfindungen zu verstärken, nützlich sein könne.
Darf die Malerei, zu Erreichung des Lächerlichen und Schrecklichen, sich häßlicher Formen bedienen?
Ich will es nicht wagen, so grade zu, mit Nein hierauf zu antworten. Es ist unleugbar, daß unschädliche Häßlichkeit auch in der Malerei lächerlich werden kann; besonders wenn eine Affektation nach Reiz und Ansehen damit verbunden wird. Es ist eben so unstreitig, daß schädliche Häßlichkeit, so wie in der Natur, also auch im Gemälde Schrecken erwecket; und daß jenes Lächerliche und dieses Schreckliche, welches schon vor sich vermischte Empfindungen sind, durch die Nachahmung einen neuen Grad von Anzüglichkeit und Vergnügung erlangen.
Ich muß aber zu bedenken geben, daß demohngeachtet sich die Malerei hier nicht völlig mit der Poesie in gleichem Falle befindet. In der Poesie, wie ich angemerket, verlieret die Häßlichkeit der Form, durch die Veränderung ihrer koexistierenden Teile in sukzessive, ihre widrige Wirkung fast gänzlich; sie höret von dieser Seite gleichsam auf, Häßlichkeit zu sein, und kann sich daher mit andern Erscheinungen desto inniger verbinden, um eine neue besondere Wirkung hervorzubringen. In der Malerei hingegen hat die Häßlichkeit alle ihre Kräfte beisammen, und wirket nicht viel schwächer, als in der Natur selbst. Unschädliche Häßlichkeit kann folglich nicht wohl lange lächerlich bleiben; die unangenehme Empfindung gewinnet die Oberhand, und was in den ersten Augenblicken possierlich war, wird in der Folge bloß abscheulich. Nicht anders gehet es mit der schädlichen Häßlichkeit; das Schreckliche verliert sich nach und nach, und das Unförmliche bleibt allein und unveränderlich zurück.
Dieses überlegt, hatte der Graf Caylus vollkommen Recht, die Episode des Thersites aus der Reihe seiner Homerischen Gemälde wegzulassen. Aber hat man darum auch Recht, sie aus dem Homer selbst wegzuwünschen? Ich finde ungern, daß ein Gelehrter, von sonst sehr richtigem und feinem Geschmacke, dieser Meinung ist.(152) Ich verspare es auf einen andern Ort, mich weitläuftiger darüber zu erklären.
XXV
Auch der zweite Unterschied, welchen der angeführte Kunstrichter, zwischen dem Ekel und andern unangenehmen Leidenschaften der Seele findet, äußert sich bei der Unlust, welche die Häßlichkeit der Formen in uns erwecket.
»Andere unangenehme Leidenschaften, sagt er,(153) können auch außer der Nachahmung, in der Natur selbst, dem Gemüte öfters schmeicheln; indem sie niemals reine Unlust erregen, sondern ihre Bitterkeit allezeit mit Wollust vermischen. Unsere Furcht ist selten von aller Hoffnung entblößt; der Schrecken belebt alle unsere Kräfte, der Gefahr auszuweichen; der Zorn ist mit der Begierde sich zu rächen, die Traurigkeit mit der angenehmen Vorstellung der vorigen Glückseligkeit verknüpft, und das Mitleiden ist von den zärtlichen Empfindungen der Liebe und Zuneigung unzertrennlich. Die Seele hat die Freiheit, sich bald bei dem vergnüglichen, bald bei dem widrigen Teile einer Leidenschaft zu verweilen, und sich eine Vermischung von Lust und Unlust selbst zu schaffen, die reizender ist, als das lauterste Vergnügen. Es braucht nur sehr wenig Achtsamkeit auf sich selber, um dieses vielfältig beobachtet zu haben; und woher käme es denn sonst, daß dem Zornigen sein Zorn, dem Traurigen seine Unmut lieber ist, als alle freudige Vorstellungen, dadurch man ihn zu beruhigen gedenket? Ganz anders aber verhält es sich mit dem Ekel und den ihm verwandten Empfindungen. Die Seele erkennet in demselben keine merkliche Vermischung von Lust. Das Mißvergnügen gewinnet die Oberhand, und daher ist kein Zustand, weder in der Natur noch in der Nachahmung zu erdenken, in welchem das Gemüt nicht von diesen Vorstellungen mit Widerwillen zurückweichen sollte.«
Vollkommen richtig; aber da der Kunstrichter selbst, noch andere mit dem Ekel verwandten Empfindungen erkennet, die gleichfalls nichts als Unlust gewähren, welche kann ihm näher verwandt sein, als die Empfindung des Häßlichen in den Formen? Auch diese ist in der Natur ohne die geringste Mischung von Lust; und da sie deren eben so wenig durch die Nachahmung fähig wird, so ist auch von ihr kein Zustand zu erdenken, in welchem das Gemüt von ihrer Vorstellung nicht mit Widerwillen zurückweichen sollte.
Ja dieser Widerwille, wenn ich anders mein Gefühl sorgfältig genug untersucht habe, ist gänzlich von der Natur des Ekels. Die Empfindung, welche die Häßlichkeit der Form begleitet, ist Ekel, nur in einem geringern Grade. Dieses streitet zwar mit einer andern Anmerkung des Kunstrichters, nach welcher er nur die allerdunkelsten Sinne, den Geschmack, den Geruch und das Gefühl, dem Ekel ausgesetzet zu sein glaubet. »Jene beide, sagt er, durch eine übermäßige Süßigkeit, und dieses durch eine allzugroße Weichheit der Körper, die den berührenden Fibern nicht genugsam widerstehen. Diese Gegenstände werden sodann auch dem Gesichte unerträglich, aber bloß durch die Assoziation der Begriffe, indem wir uns des Widerwillens erinnern, den sie dem Geschmacke, dem Geruche oder dem Gefühle verursachen. Denn eigentlich zu reden, gibt es keine Gegenstände des Ekels für das Gesicht.« Doch mich dünkt, es lassen sich dergleichen allerdings nennen. Ein Feuermal in dem Gesichte, eine Hasenscharte, eine gepletschte Nase mit vorragenden Löchern, ein gänzlicher Mangel der Augenbraunen, sind Häßlichkeiten, die weder dem Geruche, noch dem Geschmacke, noch dem Gefühle zuwider sein können. Gleichwohl ist es gewiß, daß wir etwas dabei empfinden, welches dem Ekel schon viel näher kömmt, als das, was uns andere Unförmlichkeiten des Körpers, ein krummer Fuß, ein hoher Rücken, empfinden lassen; je zärtlicher das Temperament ist, desto mehr werden wir von den Bewegungen in dem Körper dabei fühlen, welche vor dem Erbrechen vorhergehen. Nur daß diese Bewegungen sich sehr bald wieder verlieren, und schwerlich ein wirkliches Erbrechen erfolgen kann; wovon man allerdings die Ursache darin zu suchen hat, daß es Gegenstände des Gesichts sind, welches in ihnen, und mit ihnen zugleich, eine Menge Realitäten wahrnimmt, durch deren angenehme Vorstellungen jene unangenehme so geschwächt und verdunkelt wird, daß sie keinen merklichen Einfluß auf den Körper haben kann. Die dunkeln Sinne hingegen, der Geschmack, der Geruch, das Gefühl, können dergleichen Realitäten, indem sie von etwas Widerwärtigen gerühret werden, nicht mit bemerken; das Widerwärtige wirkt folglich allein und in seiner ganzen Stärke, und kann nicht anders als auch in dem Körper von einer weit heftigern Erschütterung begleitet sein.
Übrigens verhält sich auch zur Nachahmung das Ekelhafte vollkommen so, wie das Häßliche. Ja, da seine unangenehme Wirkung die heftigere ist, so kann es noch weniger als das Häßliche an und vor sich selbst ein Gegenstand weder der Poesie, noch der Malerei werden. Nur weil es ebenfalls durch den wörtlichen Ausdruck sehr gemildert wird, getrauete ich mich doch wohl zu behaupten, daß der Dichter, wenigstens einige ekelhafte Züge, als ein Ingrediens zu den nämlichen vermischten Empfindungen brauchen könne, die er durch das Häßliche mit so gutem Erfolge verstärket.
Das Ekelhafte kann das Lächerliche vermehren; oder Vorstellungen der Würde, des Anstandes, mit dem Ekelhaften in Kontrast gesetzet, werden lächerlich. Exempel hiervon lassen sich bei dem Aristophanes in Menge finden. Das Wiesel fällt mir ein, welches den guten Sokrates in seinen astronomischen Beschauungen unterbrach.(154)
ΜΑΤΗ. Πρωην δε γε γνωμην μεγαλην αφηρεϑη
Ψπ’ ασκαλαβωτου. ΣΤΡ. Τινα τροπον; κατειπε μοι.
ΜΑΤΗ. Ζητουντος αυτου της σεληνης τας όδους
Και τας περιφορας, ειτ’ ανω κεχηνοτος
Απο της οροφης νυκτωρ γαλεωτης κατεχεσεν.
ΣΤΡ. Ησϑην γαλεωτη καταχεσαντι Σωκρατους.
Man lasse es nicht ekelhaft sein, was ihm in den offenen Mund fällt, und das Lächerliche ist verschwunden. Die drolligsten Züge von dieser Art hat die Hottentottische Erzählung, Tquassouw und Knonmquaiha, in dem »Kenner«, einer englischen Wochenschrift voller Laune, die man dem Lord Chesterfield zuschreibet. Man weiß, wie schmutzig die Hottentotten sind; und wie vieles sie für schön und zierlich und heilig halten, was uns Ekel und Abscheu erwecket. Ein gequetschter Knorpel von Nase, schlappe bis auf den Nabel herabhangende Brüste, den ganzen Körper mit eine Schminke aus Ziegenfett und Ruß an der Sonne durchbeizet, die Haarlocken von Schmeer triefend, Füße und Arme mit frischem Gedärme umwunden: dies denke man sich an dem Gegenstande einer feurigen, ehrfurchtsvollen, zärtlichen Liebe; dies höre man in der edeln Sprache des Ernstes und der Bewunderung ausgedrückt, und enthalte sich des Lachens!(155)
Mit dem Schrecklichen scheinet sich das Ekelhafte noch inniger vermischen zu können. Was wir das Gräßliche nennen, ist nichts als ein ekelhaftes Schreckliche. Dem Longin(156) mißfällt zwar in dem Bilde der Traurigkeit beim Hesiodus,(157)das Της εκ μεν ρινων μυξαι ρεον; doch mich dünkt, nicht sowohl weil es ein ekler Zug ist, als weil es ein bloß ekler Zug ist, der zum Schrecklichen nichts beiträgt. Denn die langen über die Finger hervorragenden Nägel, (μακροι δ’ονυχες χειρεσσιν ύπησαν) scheinet er nicht tadeln zu wollen. Gleichwohl sind lange Nägel nicht viel weniger ekel, als eine fließende Nase. Aber die langen Nägel sind zugleich schrecklich; denn sie sind es, welche die Wangen zerfleischen, daß das Blut davon auf die Erde rinnet:
– – – – εκ δε παρειων
Αιμ’ απελειβετ’ εραζε – – –
Hingegen eine fließende Nase, ist weiter nichts als eine fließende Nase; und ich rate der Traurigkeit nur, das Maul zuzumachen. Man lese bei dem Sophokles die Beschreibung der öden Höhle des unglücklichen Philoktet. Da ist nichts von Lebensmitteln, nichts von Bequemlichkeiten zu sehen; außer eine zertretene Streu von dürren Blättern, ein unförmlicher hölzerner Becher, ein Feuergerät. Der ganze Reichtum des kranken verlassenen Mannes! Womit vollendet der Dichter dieses traurige fürchterliche Gemälde? Mit einem Zusatze von Ekel. »Ha!« fährt Neoptolem auf einmal zusammen, »hier trockenen zerrissene Lappen, voll Blut und Eiter!«(158)
ΝΕ. Ορω κενην οικησιν ανϑρωπων διχα.
ΟΔ. Ουδ’ ενδον οικοποιος εσι τις τροφη;
ΝΕ. Στειπτη γε φυλλας ώς εναυλιζοντι τω.
ΟΔ. Τα δ’ αλλ’ ερημα, κουδεν εσϑ’ ύποσεγον;
ΝΕ. Αυτοξυλον γ’εκπωμα, φαυλουργου τινος
Τεχνηματ’ ανδρος, και πυρει’ όμου ταδε.
ΟΔ. Κεινου το ϑησαυρισμα σημαινεις τοδε.
ΝΕ. Ιου, ιου και ταυτα γ’αλλα ϑαλπεται
Ρακη, βαρειας του νοσηλειας πλεα.
So wird auch beim Homer der geschleifte Hektor, durch das von Blut und Staub entstellte Gesicht, und zusammenverklebte Haar,
Squallentem barbam et concretos sanguine crines,
(wie es Virgil ausdrückt(159)) ein ekler Gegenstand, aber eben dadurch um so viel schrecklicher, um so viel rührender. Wer kann die Strafe des Marsyas, beim Ovid, sich ohne Empfindung des Ekels denken?(160)
Clamanti cutis est summos derepta per artus:
Nec quidquam, nisi vulnus erat: cruor undique manat:
Detectique patent nervi: trepidaeque sine ulla
Pelle micant venae: salientia viscera possis,
Et perlucentes numerare in pectore fibras.
Aber wer empfindet auch nicht, daß das Ekelhafte hier an seiner Stelle ist? Es macht das Schreckliche gräßlich; und das Gräßliche ist selbst in der Natur, wenn unser Mitleid dabei interessieret wird, nicht ganz unangenehm; wie viel weniger in der Nachahmung? Ich will die Exempel nicht häufen. Doch dieses muß ich noch anmerken, daß es eine Art von Schrecklichem gibt, zu dem der Weg dem Dichter fast einzig und allein durch das Ekelhafte offen stehet. Es ist das Schreckliche des Hungers. Selbst im gemeinen Leben drucken wir die äußerste Hungersnot nicht anders als durch die Erzählungen aller der unnahrhaften, ungesunden und besonders ekeln Dinge aus, mit welchen der Magen befriediget werden müssen. Da die Nachahmung nichts von dem Gefühle des Hungers selbst in uns erregen kann, so nimmt sie zu einem andern unangenehmen Gefühle ihre Zuflucht, welches wir im Falle des empfindlichsten Hungers für das kleinere Übel erkennen. Dieses sucht sie zu erregen, um uns aus der Unlust desselben schließen zu lassen, wie stark jene Unlust sein müsse, bei der wir die gegenwärtige gern aus der Acht schlagen würden. Ovid sagt von der Oreade, welche Ceres an den Hunger abschickte:(161)
Hanc (famem) procul ut vidit – –
– refert mandata deae; paulumque morata,
Quanquam aberat longe, quanquam modo venerat illuc.
Visa tamen sensisse famem – – –
Eine unnatürliche Übertreibung! Der Anblick eines Hungrigen, und wenn es auch der Hunger selbst wäre, hat diese ansteckende Kraft nicht; Erbarmen, und Greul, und Ekel, kann er empfinden lassen, aber keinen Hunger. Diesen Greul hat Ovid in dem Gemälde der Fames nicht gesparet, und in dem Hunger des Eresichthons sind, sowohl bei ihm, als bei dem Kallimachus,(162) die ekelhaften Züge die stärksten. Nachdem Eresichthon alles aufgezehret, und auch der Opferkuh nicht verschonet hatte, die seine Mutter der Vesta auffütterte, läßt ihn Kallimachus über Pferde und Katzen herfallen, und auf den Straßen die Brocken und schmutzigen Überbleibsel von fremden Tischen betteln:
Και ταν βων εφαγεν, ταν Εσια ετρεφε ματηρ,
Και τον αεϑλοφορον και τον πολεμηιον ίππον,
Και ταν αιλουρον, ταν ετρεμε ϑηρια μικκα –
Και τοϑ’ ό τω βασιληος ενι τριοδοισι καϑησο
Αιτιζων ακολως τε και εκβολα λυματα δαιτος –
Und Ovid läßt ihn zuletzt die Zähne in seine eigene Glieder setzen, um seinen Leib mit seinem Leibe zu nähren.
Vis tamen illa mali postquam consumserat omnem
Materiam – – – – –
Ipse suos artus lacero divellere morsu
Cœpit; et infelix minuendo corpus alebat.
Nur darum waren die häßlichen Harpyen so stinkend, so unflätig, daß der Hunger, welchen ihre Entführung der Speisen bewirken sollte, desto schrecklicher würde. Man höre die Klage des Phineus, beim Apollonius:(163)
Τυτϑον δ’ ην αρα δη ποτ’ εδητυος αμμι λιπωσι,
Πνει τοδε μυδαλεον τε και ου τλητον μενος οδμης.
Ου κε τις ουδε μινυνϑα βροτων ανσχοιτο πελασσας.
Ουδ’ ει όι αδαμαντος εληλαμενον κεαρ ειν.
Αλλα με πικρη δητα κε δαιτος επισχει αναγκη
Μιμνειν, και μιμνοντα κακη εν γασερι ϑεσϑαι.
Ich möchte gern aus diesem Gesichtspunkte die ekele Einführung der Harpyen beim Virgil entschuldigen; aber es ist kein wirklicher gegenwärtiger Hunger, den sie verursachen, sondern nur ein instehender, den sie prophezeien; und noch dazu löset sich die ganze Prophezeiung endlich in ein Wortspiel auf. Auch Dante bereitet uns nicht nur auf die Geschichte von der Verhungerung des Ugolino, durch die ekelhafteste, gräßlichste Stellung, in die er ihn mit seinem ehemaligen Verfolger in der Hölle setzet; sondern auch die Verhungerung selbst ist nicht ohne Züge des Ekels, der uns besonders da sehr merklich überfällt, wo sich die Söhne dem Vater zur Speise anbieten. In der Note will ich noch eine Stelle aus einem Schauspiele von Beaumont und Fletcher anführen, die statt aller andern Beispiele hätte sein können, wenn ich sie nicht für ein wenig zu übertrieben erkennen müßte.(164)
Ich komme auf die ekelhaften Gegenstände in der Malerei. Wenn es auch schon ganz unstreitig wäre, daß es eigentlich gar keine ekelhafte Gegenstände für das Gesicht gäbe, von welchen es sich von sich selbst verstünde, daß die Malerei, als schöne Kunst, ihrer entsagen würde: so müßte sie dennoch die ekelhaften Gegenstände überhaupt vermeiden, weil die Verbindung der Begriffe sie auch dem Gesichte ekel macht. Pordenone läßt, in einem Gemälde von dem Begräbnisse Christi, einen von den Anwesenden die Nase sich zuhalten. Richardson mißbilliget dieses deswegen,(165) weil Christus noch nicht so lange tot gewesen, daß sein Leichnam in Fäulung übergehen können. Bei der Auferweckung des Lazarus hingegen, glaubt er, sei es dem Maler erlaubt, von den Umstehenden einige so zu zeigen, weil es die Geschichte ausdrücklich sage, daß sein Körper schon gerochen habe. Mich dünkt diese Vorstellung auch hier unerträglich; denn nicht bloß der wirkliche Gestank, auch schon die Idee des Gestankes erwecket Ekel. Wir fliehen stinkende Orte, wenn wir schon den Schnupfen haben. Doch die Malerei will das Ekelhafte, nicht des Ekelhaften wegen; sie will es, so wie die Poesie, um das Lächerliche und Schreckliche dadurch zu verstärken. Auf ihre Gefahr! Was ich aber von dem Häßlichen in diesem Falle angemerkt habe, gilt von dem Ekelhaften um so viel mehr. Es verlieret in einer sichtbaren Nachahmung von seiner Wirkung ungleich weniger, als in einer hörbaren; es kann sich also auch dort mit den Bestandteilen des Lächerlichen und Schrecklichen weniger innig vermischen, als hier; sobald die Überraschung vorbei, sobald der erste gierige Blick gesättiget, trennet es sich wiederum gänzlich, und liegt in seiner eigenen cruden Gestalt da.
XXVI
Des Herrn Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz, zu seiner Beschämung, in den Werken der Kunst widerlegt findet. Auch die Alten kannten die Bande, welche die Malerei und Poesie mit einander verknüpfen, und sie werden sie nicht enger zugezogen haben, als es beiden zuträglich ist. Was ihre Künstler getan, wird mich lehren, was die Künstler überhaupt tun sollen; und wo so ein Mann die Fackel der Geschichte vorträgt, kann die Spekulation kühnlich nachtreten.
Man pfleget in einem wichtigen Werke zu blättern, ehe man es ernstlich zu lesen anfängt. Meine Neugierde war, vor allen Dingen des Verfassers Meinung von dem Laokoon zu wissen; nicht zwar von der Kunst des Werkes, über welche er sich schon anderwärts erkläret hat, als nur von dem Alter desselben. Wem tritt er darüber bei? Denen, welchen Virgil die Gruppe vor Augen gehabt zu haben scheinet? Oder denen, welche die Künstler dem Dichter nacharbeiten lassen?
Es ist sehr nach meinem Geschmacke, daß er von einer gegenseitigen Nachahmung gänzlich schweiget. Wo ist die absolute Notwendigkeit derselben? Es ist gar nicht unmöglich, daß die Ähnlichkeiten, die ich oben zwischen dem poetischen Gemälde und dem Kunstwerke in Erwägung gezogen habe, zufällige und nicht vorsetzliche Ähnlichkeiten sind; und daß das eine so wenig das Vorbild des andern gewesen, daß sie auch nicht einmal beide einerlei Vorbild gehabt zu haben brauchen. Hätte indes auch ihn ein Schein dieser Nachahmung geblendet, so würde er sich für die erstern haben erklären müssen. Denn er nimmt an, daß der Laokoon aus den Zeiten sei, da sich die Kunst unter den Griechen auf dem höchsten Gipfel ihrer Vollkommenheit befunden habe; aus den Zeiten Alexanders des Großen.
»Das gütige Schicksal, sagt er,(166) welches auch über die Künste bei ihrer Vertilgung noch gewachet, hat aller Welt zum Wunder ein Werk aus dieser Zeit der Kunst erhalten, zum Beweise von der Wahrheit der Geschichte von der Herrlichkeit so vieler vernichteten Meisterstücke. Laokoon, nebst seinen beiden Söhnen, vom Agesander, Apollodorus(167) und Athenodorus aus Rhodus gearbeitet, ist nach aller Wahrscheinlichkeit aus dieser Zeit, ob man gleich dieselbe nicht bestimmen, und wie einige getan haben, die Olympias, in welcher diese Künstler geblühet haben, angeben kann.«
In einer Anmerkung setzet er hinzu: »Plinius meldet kein Wort von der Zeit, in welcher Agesander und die Gehülfen an seinem Werke gelebet haben; Maffei aber, in der Erklärung alter Statuen, hat wissen wollen, daß diese Künstler in der acht und achtzigsten Olympias geblühet haben, und auf dessen Wort haben andere, als Richardson, nachgeschrieben. Jener hat, wie ich glaube, einen Athenodorus unter des Polycletus Schülern, für einen von unsern Künstlern genommen, und da Polycletus in der sieben und achtzigsten Olympias geblühet, so hat man seinen vermeinten Schüler eine Olympias später gesetzet: andere Gründe kann Maffei nicht haben.«
Er konnte ganz gewiß keine andere haben. Aber warum läßt es Herr Winckelmann dabei bewenden, diesen vermeinten Grund des Maffei bloß anzuführen? Widerlegt er sich von sich selbst? Nicht so ganz. Denn wenn er auch schon von keinen andern Gründen unterstützt ist, so macht er doch schon für sich selbst eine kleine Wahrscheinlichkeit, wo man nicht sonst zeigen kann, daß Athenodorus, des Polyklets Schüler, und Athenodorus der Gehülfe des Agesander und Polydorus, unmöglich eine und eben dieselbe Person können gewesen sein. Zum Glücke läßt sich dieses zeigen, und zwar aus ihrem verschiedenen Vaterlande. Der erste Athenodorus war, nach dem ausdrücklichen Zeugnisse des Pausanias,(168) aus Klitor in Arkadien; der andere hingegen, nach dem Zeugnisse des Plinius, aus Rhodus gebürtig.
Herr Winckelmann kann keine Absicht dabei gehabt haben, daß er das Vorgeben des Maffei, durch Beifügung dieses Umstandes, nicht unwidersprechlich widerlegen wollen. Vielmehr müssen ihm die Gründe, die er aus der Kunst des Werks, nach seiner unstreitigen Kenntnis, ziehet, von solcher Wichtigkeit geschienen haben, daß er sich unbekümmert gelassen, ob die Meinung des Maffei noch einige Wahrscheinlichkeit behalte oder nicht. Er erkennet, ohne Zweifel, in dem Laokoon zu viele von den argutiis,(169) die dem Lysippus so eigen waren, mit welchen dieser Meister die Kunst zuerst bereicherte, als daß er ihn für ein Werk vor desselben Zeit halten sollte.
Allein, wenn es erwiesen ist, daß der Laokoon nicht älter sein kann, als Lysippus, ist dadurch auch zugleich erwiesen, daß er ungefähr aus seiner Zeit sein müsse? daß er unmöglich ein weit späteres Werk sein könne? Damit ich die Zeiten, in welchen die Kunst in Griechenland, bis zum Anfange der römischen Monarchie, ihr Haupt bald wiederum empor hob, bald wiederum sinken ließ, übergehe: warum hätte nicht Laokoon die glückliche Frucht des Wetteifers sein können, welchen die verschwenderische Pracht der ersten Kaiser unter den Künstlern entzünden mußte? Warum könnten nicht Agesander und seine Gehülfen die Zeitverwandten eines Strongylion, eines Arkesilaus, eines Pasiteles, eines Posidonius, eines Diogenes sein? Wurden nicht die Werke auch dieser Meister zum Teil dem Besten, was die Kunst jemals hervorgebracht hatte, gleich geschätzet? Und wann noch ungezweifelte Stücke von selbigen vorhanden wären, das Alter ihrer Urheber aber wäre unbekannt, und ließe sich aus nichts schließen, als aus ihrer Kunst, welche göttliche Eingebung müßte den Kenner verwahren, daß er sie nicht eben sowohl in jene Zeiten setzen zu müssen glaubte, die Herr Winckelmann allein des Laokoons würdig zu sein achtet?
Es ist wahr, Plinius bemerkt die Zeit, in welcher die Künstler des Laokoons gelebt haben, ausdrücklich nicht. Doch wenn ich aus dem Zusammenhange der ganzen Stelle schließen sollte, ob er sie mehr unter die alten oder unter die neuern Artisten gerechnet wissen wollen: so bekenne ich, daß ich für das letztere eine größere Wahrscheinlichkeit darin zu bemerken glaube. Man urteile.
Nachdem Plinius von den ältesten und größten Meistern in der Bildhauerkunst, dem Phidias, dem Praxiteles, dem Scopas, etwas ausführlicher gesprochen, und hierauf die übrigen, besonders solche, von deren Werken in Rom etwas vorhanden war, ohne alle chronologische Ordnung namhaft gemacht: so fährt er folgender Gestalt fort:(170) Nec multo plurium fama est, quorundam claritati in operibus eximiis obstante numero artificum, quoniam nec unus occupat gloriam, nec plures pariter nuncupari possunt, sicut in Laocoonte, qui est in Titi Imperatoris domo, opus omnibus et picturae et statuariae artis praeponendum. Ex uno lapide eum et liberos draconumque mirabiles nexus de consilii sententia fecere summi artifices, Agesander et Polydorus et Athenodorus Rhodii. Similiter Palatinas domus Caesarum replevere probatissimis signis Craterus cum Pythodoro, Polydectes cum Hermolao, Pythodorus alius cum Artemone, et singularis Aphrodisius Trallianus. Agrippae Pantheum decoravit Diogenes Atheniensis, et Caryatides in columnis templi ejus probantur inter pauca operum: sicut in fastigio posita signa, sed propter altitudinem loci minus celebrata.
Von allen den Künstlern, welche in dieser Stelle genennet werden, ist Diogenes von Athen derjenige, dessen Zeitalter am unwidersprechlichsten bestimmt ist. Er hat das Pantheum des Agrippa ausgezieret; er hat also unter dem Augustus gelebt. Doch man erwäge die Worte des Plinius etwas genauer, und ich denke, man wird auch das Zeitalter des Craterus und Pythodorus, des Polydektes und Hermolaus, des zweiten Pythodorus und Artemons, so wie des Aphrodisius Trallianus, eben so unwidersprechlich bestimmt finden. Er sagt von ihnen: Palatinas domus Caesarum replevere probatissimis signis. Ich frage: kann dieses wohl nur so viel heißen, daß von ihren vortrefflichen Werken die Paläste der Kaiser angefüllet gewesen? In dem Verstande nämlich, daß die Kaiser sie überall zusammen suchen, und nach Rom in ihre Wohnungen versetzen lassen? Gewiß nicht. Sondern sie müssen ihre Werke ausdrücklich für diese Paläste der Kaiser gearbeitet, sie müssen zu den Zeiten dieser Kaiser gelebt haben. Daß es späte Künstler gewesen, die nur in Italien gearbeitet, läßt sich auch schon daher schließen, weil man ihrer sonst nirgends gedacht findet. Hätten sie in Griechenland in frühern Zeiten gearbeitet, so würde Pausanius ein oder das andere Werk von ihnen gesehen, und ihr Andenken uns aufbehalten haben. Ein Pythodorus kömmt zwar bei ihm vor(171), allein Harduin hat sehr Unrecht, ihn für den Pythodorus in der Stelle des Plinius zu halten. Denn Pausanias nennet die Bildsäule der Juno, die er von der Arbeit des erstern zu Koronea in Böotien sahe, αγαλμα αρχαιον, welche Benennung er nur den Werken derjenigen Meister gibet, die in den allerersten und rauhesten Zeiten der Kunst, lange vor einem Phidias und Praxiteles, gelebt hatten. Und mit Werken solcher Art werden die Kaiser gewiß nicht ihre Paläste ausgezieret haben. Noch weniger ist auf die andere Vermutung des Harduins zu achten, daß Artemon vielleicht der Maler gleiches Namens sei, dessen Plinius an einer andern Stelle gedenket. Name und Name geben nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, derenwegen man noch lange nicht befugt ist, der natürlichen Auslegung einer unverfälschten Stelle Gewalt anzutun.
Ist es aber sonach außer allem Zweifel, daß Craterus und Pythodorus, daß Polydektes und Hermolaus, mit den übrigen, unter den Kaisern gelebet, deren Paläste sie mit ihren trefflichen Werken angefüllet: so dünkt mich, kann man auch denjenigen Künstlern kein ander Zeitalter geben, von welchen Plinius auf jene durch ein Similiter übergehet. Und dieses sind die Meister des Laokoon. Man überlege es nur: wären Agesander, Polydorus und Athenodorus so alte Meister, als wofür sie Herr Winckelmann hält; wie unschicklich würde ein Schriftsteller, dem die Präzision des Ausdruckes keine Kleinigkeit ist, wenn er von ihnen auf einmal auf die allerneuesten Meister springen müßte, diesen Sprung mit einem Gleichergestalt tun?
Doch man wird einwenden, daß sich dieser Similiter nicht auf die Verwandtschaft in Ansehung des Zeitalters, sondern auf einen andern Umstand beziehe, welchen diese, in Betrachtung der Zeit so unähnliche Meister, miteinander gemein gehabt hätten. Plinius rede nämlich von solchen Künstlern, die in Gemeinschaft gearbeitet, und wegen dieser Gemeinschaft unbekannter geblieben wären, als sie verdienten. Denn da keiner sich die Ehre des gemeinschaftlichen Werks allein anmaßen können, alle aber, die daran Teil gehabt, jederzeit zu nennen, zu weitläuftig gewesen wäre: (quoniam nec unus occupat gloriam, nec plures pariter nuncupari possunt) so wären ihre sämtlichen Namen darüber vernachlässiget worden. Dieses sei den Meistern des Laokoons, dieses sei so manchen andern Meistern widerfahren, welche die Kaiser für ihre Paläste beschäftiget hätten.
Ich gebe dieses zu. Aber auch so noch ist es höchst wahrscheinlich, daß Plinius nur von neuern Künstlern sprechen wollen, die in Gemeinschaft gearbeitet. Denn hätte er auch von älteren reden wollen, warum hätte er nur allein der Meister des Laokoons erwähnet? Warum nicht auch anderer? Eines Onatas und Kalliteles; eines Timokles und Timarchides, oder der Söhne dieses Timarchides, von welchen ein gemeinschaftlich gearbeiteter Jupiter in Rom war.(172) Herr Winckelmann sagt selbst, daß man von dergleichen älteren Werken, die mehr als einen Vater gehabt, ein langes Verzeichnis machen könne.(173) Und Plinius sollte sich nur auf die einzigen Agesander, Polydorus und Athenodorus besonnen haben, wenn er sich nicht ausdrücklich nur auf die neuesten Zeiten hätte einschränken wollen?
Wird übrigens eine Vermutung um so viel wahrscheinlicher, je mehrere und größere Unbegreiflichkeiten sich daraus erklären lassen, so ist es die, daß die Meister des Laokoons unter den ersten Kaisern geblühet haben, gewiß in einem sehr hohem Grade. Denn hätten sie in Griechenland zu den Zeiten, in welche sie Herr Winckelmann setzet, gearbeitet; hätte der Laokoon selbst in Griechenland ehedem gestanden: so müßte das tiefe Stillschweigen, welches die Griechen von einem solchen Werke (opere omnibus et picturae et statuariae artis praeponendo) beobachtet hätten, äußerst befremden. Es müßte äußerst befremden, wenn so große Meister weiter gar nichts gearbeitet hätten, oder wenn Pausanias von ihren übrigen Werken in ganz Griechenland, eben so wenig wie von dem Laokoon, zu sehen bekommen hätte. In Rom hingegen konnte das größte Meisterstück lange im Verborgenen bleiben, und wenn Laokoon auch bereits unter dem Augustus wäre verfertiget worden, so dürfte es doch gar nicht sonderbar scheinen, daß erst Plinius seiner gedacht, seiner zuerst und zuletzt gedacht. Denn man erinnere sich nur, was er von einer Venus des Scopas sagt,(174) die zu Rom in einem Tempel des Mars stand, quemcunque alium locum nobilitatura. Romae quidem magnitudo operum eam obliterat. ac magni officiorum negotiorumque acervi omnes a contemplatione talium abducunt: quoniam otiosorum et in magno loci silentio apta admiratio talis est.
Diejenigen, welche in der Gruppe Laokoon so gern eine Nachahmung des Virgilischen Laokoons sehen wollen, werden, was ich bisher gesagt, mit Vergnügen ergreifen. Noch fiele mir eine Mutmaßung bei, die sie gleichfalls nicht sehr mißbilligen dürften. Vielleicht, könnten sie denken, war es Asinius Pollio, der den Laokoon des Virgils durch griechische Künstler ausführen ließ. Pollio war ein besonderer Freund des Dichters, überlebte den Dichter, und scheinet sogar ein eigenes Werk über die »Aeneis« geschrieben zu haben. Denn wo sonst, als in einem eigenen Werke über dieses Gedicht, können so leicht die einzeln Anmerkungen gestanden haben, die Servius aus ihm anführt?(175) Zugleich war Pollio ein Liebhaber und Kenner der Kunst, besaß eine reiche Sammlung der trefflichsten alten Kunstwerke, ließ von Künstlern seiner Zeit neue fertigen, und dem Geschmacke, den er in seiner Wahl zeigte, war ein so kühnes Stück als Laokoon, vollkommen angemessen:(176) ut fuit acris vehementiae sic quoque spectari monumenta sua voluit. Doch da das Cabinet des Pollio, zu den Zeiten des Plinius, als Laokoon in dem Palaste des Titus stand, noch ganz unzertrennet an einem besondern Orte beisammen gewesen zu sein scheinet: so möchte diese Mutmaßung von ihrer Wahrscheinlichkeit wiederum etwas verlieren. Und warum könnte es nicht Titus selbst getan haben, was wir dem Pollio zuschreiben wollen?
XXVII
Ich werde in meiner Meinung, daß die Meister des Laokoons unter den ersten Kaisern gearbeitet haben, wenigstens so alt gewiß nicht sein können, als sie Herr Winckelmann ausgibt, durch eine kleine Nachricht bestärket, die er selbst zuerst bekannt macht. Sie ist diese:(177)
»Zu Nettuno, ehemals Antium, hat der Herr Kardinal Alexander Albani, im Jahr 1717, in einem großen Gewölbe, welches im Meere versunken lag, eine Vase entdecket, welche von schwarz gräulichem Marmor ist, den man itzo Bigio nennet, in welche die Figur eingefüget war; auf derselben befindet sich folgende Inschrift:
ΑΤΗΑΝΟΔΩΡΟΣ ΑΓΗΣΑΝΔΡΟΨ
ΡΟΔΙΟΣ ΕΠΟΙΗΣΕ
Athanodorus des Agesanders Sohn, aus Rhodus, hat es gemacht. Wir lernen aus dieser Inschrift, daß Vater und Sohn am Laokoon gearbeitet haben, und vermutlich war auch Apollodorus (Polydorus) des Agesanders Sohn: denn dieser Athanodorus kann kein anderer sein, als der, welchen Plinius nennet. Es beweiset ferner diese Inschrift, daß sich mehr Werke der Kunst, als nur allein drei, wie Plinius will, gefunden haben auf welche die Künstler das Wort Gemacht in vollendeter und bestimmter Zeit gesetzet, nämlich εποιησε, fecit: er berichtet, daß die übrigen Künstler aus Bescheidenheit sich in unbestimmter Zeit ausgedrücket, εποιει, faciebat.«
Darin wird Herr Winckelmann wenig Widerspruch finden, daß der Athanodorus in dieser Inschrift kein anderer, als der Athenodorus sein könne, dessen Plinius unter den Meistern des Laokoons gedenket. Athanodorus und Athenodorus ist auch völlig ein Name; denn die Rhodier bedienten sich des Dorischen Dialekts. Allein über das, was er sonst daraus folgern will, muß ich einige Anmerkungen machen.
Das erste, daß Athenodorus ein Sohn des Agesanders gewesen sei, mag hingehen. Es ist sehr wahrscheinlich, nur nicht unwidersprechlich. Denn es ist bekannt, daß es alte Künstler gegeben, die, anstatt sich nach ihrem Vater zu nennen, sich lieber nach ihrem Lehrmeister nennen wollen. Was Plinius von den Gebrüdern Apollonius und Tauriscus saget, leidet nicht wohl eine andere Auslegung(178)
Aber wie? Diese Inschrift soll zugleich das Vorgeben des Plinius widerlegen, daß sich nicht mehr als drei Kunstwerke gefunden, zu welchen sich ihre Meister in der vollendeten Zeit, (anstatt des εποιει, durch εποιησε) bekannt hätten? Diese Inschrift? Warum sollen wir erst aus dieser Inschrift lernen, was wir längst aus vielen andern hätten lernen können? Hat man nicht schon auf der Statue des Germanicus Κλεομενης – εποιησε gefunden? Auf der sogenannten Vergötterung des Homers, Αρχελαος εποιησε? Auf der bekannten Vase zu Gatea, Σαλπιων εποιησε?(179)u.s.w.
Herr Winckelmann kann sagen: »Wer weiß dieses besser als ich? Aber, wird er hinzusetzen, desto schlimmer für den Plinius. Seinem Vorgeben ist also um so öfterer widersprochen; es ist um so gewisser widerlegt.«
Noch nicht. Denn wie, wenn Herr Winckelmann den Plinius mehr sagen ließe, als er wirklich sagen wollen? Wenn also die angeführten Beispiele, nicht das Vorgeben des Plinius, sondern bloß das Mehrere, welches Herr Winckelmann in dieses Vorgeben hineingetragen, widerlegten? Und so ist es wirklich. Ich muß die ganze Stelle anführen. Plinius will, in seiner Zueignungsschrift an den Titus, von seinem Werke mit der Bescheidenheit eines Mannes sprechen, der es selbst am besten weiß, wie viel demselben zur Vollkommenheit noch fehle. Er findet ein merkwürdiges Exempel einer solchen Bescheidenheit bei den Griechen, über deren prahlende, vielversprechende Büchertitel, (inscriptiones, propter quas vadimonium deseri possit) er sich ein wenig aufgehalten, und sagt:(180) Et ne in totum videar Graecos insectari, ex illis nos velim intelligi pingendi fingendique conditoribus, quos in libellis his invenies, absoluta opera, et illa quoque quae mirando non satiamur, pendenti titulo inscripsisse: ut Apelles Faciebat, aut Polycletus: tanquam inchoata semper arte et imperfecta: ut contra judiciorum varietates superesset artifici regressus ad veniam, velut emendaturo quidquid desideraretur, si non esset interceptus. Quare plenum verecundiae illud est, quod omnia opera tanquam novissima inscripsere, et tamquam singulis fato adempti. Tria non amplius, ut opinor, absolute traduntur inscripta, Ille Fecit, quae suis locis reddam: quo apparuit, summam artis securitatem auctori placuisse, et ob id magua invidia fuere omnia ea. Ich bitte auf die Worte des Plinius, pingendi fingendique conditoribus, aufmerksam zu sein. Plinius sagt nicht, daß die Gewohnheit in der unvollendeten Zeit sich zu seinem Werke zu bekennen, allgemein gewesen; daß sie von allen Künstlern, zu allen Zeiten beobachtet worden: er sagt ausdrücklich, daß nur die ersten alten Meister, jene Schöpfer der bildenden Künste, pingendi fingendique conditores, ein Apelles, ein Polyklet, und ihre Zeitverwandte, diese kluge Bescheidenheit gehabt hätten; und da er diese nur allein nennet, so gibt er stillschweigend, aber deutlich genug, zu verstehen, daß ihre Nachfolger, besonders in den spätern Zeiten, mehr Zuversicht auf sich selber geäußert.
Dieses aber angenommen, wie man es annehmen muß, so kann die entdeckte Aufschrift von dem einen der drei Künstler des Laokoons, ihre völlige Richtigkeit haben, und es kann demohngeachtet wahr sein, daß, wie Plinius sagt, nur etwa drei Werke vorhanden gewesen, in deren Aufschriften sich ihre Urheber der vollendeten Zeit bedienet; nämlich unter den ältern Werken, aus den Zeiten des Apelles, des Polyklets, des Nikias, des Lysippus. Aber das kann sodann seine Richtigkeit nicht haben, daß Athenodorus und seine Gehülfen, Zeitverwandte des Apelles und Lysippus gewesen sind, zu welchen sie Herr Winckelmann machen will. Man muß vielmehr so schließen. Wenn es wahr ist, daß unter den Werken der ältern Künstler, eines Apelles, eines Polyklets und der übrigen aus dieser Klasse, nur etwa drei gewesen sind, in deren Aufschriften die vollendete Zeit von ihnen gebraucht worden; wenn es wahr ist, daß Plinius diese drei Werke selbst namhaft gemacht hat:(181) so kann Athenodorus, von dem keines dieser drei Werke ist, und der sich dem ohngeachtet auf seinen Werken der vollendeten Zeit bedienet, zu jenen alten Künstlern nicht gehören; er kann kein Zeitverwandter des Apelles, des Lysippus sein, sondern er muß in spätere Zeiten gesetzt werden.
Kurz; ich glaube, es ließe sich als ein sehr zuverlässiges Kriterium angeben, daß alle Künstler, die das εποιησε gebraucht, lange nach den Zeiten Alexanders des Großen, kurz vor oder unter den Kaisern, geblühet haben. Von dem Kleomenes ist es unstreitig; von dem Archelaus ist es höchst wahrscheinlich; und von dem Salpion kann wenigstens das Gegenteil auf keine Weise erwiesen werden. Und so von den übrigen; den Athenodorus nicht ausgeschlossen.
Herr Winckelmann selbst mag hierüber Richter sein! Doch protestiere ich gleich im voraus wider den umgekehrten Satz. Wenn alle Künstler, welche εποιησε gebraucht, unter die späten gehören: so gehören darum nicht alle, die sich des εποιει bedienet, unter die ältern. Auch unter den spätern Künstlern können einige diese einem großen Manne so wohl anstehende Bescheidenheit wirklich besessen, und andere sie zu besitzen sich gestellet haben.
XXVIII
Nach dem Laokoon war ich auf nichts neugieriger, als auf das, was Herr Winckelmann von dem sogenannten Borghesischen Fechter sagen möchte. Ich glaube eine Entdeckung über diese Statue gemacht zu haben, auf die ich mir alles einbilde, was man sich auf dergleichen Entdeckungen einbilden kann.
Ich besorgte schon, Herr Winckelmann würde mir damit zuvor gekommen sein. Aber ich finde nichts dergleichen bei ihm; und wenn nunmehr mich etwas mißtrauisch in ihre Richtigkeit machen könnte, so würde es eben das sein, daß meine Besorgnis nicht eingetroffen.
»Einige, sagt Herr Winckelmann,(182) machen aus dieser Statue einen Discobolus, das ist, der mit dem Disco, oder mit einer Scheibe von Metall, wirft, und dieses war die Meinung des berühmten Herrn von Stosch in einem Schreiben an mich, aber ohne genugsame Betrachtung des Standes, worin dergleichen Figur will gesetzt sein. Denn derjenige, welcher etwas werfen will, muß sich mit dem Leibe hinterwärts zurückziehen, und indem der Wurf geschehen soll, liegt die Kraft auf dem nächsten Schenkel, und das linke Bein ist müßig: hier aber ist das Gegenteil. Die ganze Figur ist vorwärts geworfen, und ruhet auf dem linken Schenkel, und das rechte Bein ist hinterwärts auf das äußerste ausgestrecket. Der rechte Arm ist neu, und man hat ihm in die Hand ein Stück von einer Lanze gegeben; auf dem linken Arme sieht man den Riem von dem Schilde, welchen er gehalten hat. Betrachtet man, daß der Kopf und die Augen aufwärts gerichtet sind, und daß die Figur sich mit dem Schilde vor etwas, das von oben her kommt, zu verwahren scheint, so könnte man diese Statue mit mehrerem Rechte für eine Vorstellung eines Soldaten halten, welcher sich in einem gefährlichen Stande besonders verdient gemacht hat: denn Fechtern in Schauspielen ist die Ehre einer Statue unter den Griechen vermutlich niemals widerfahren: und dieses Werk scheinet älter als die Einführung der Fechter unter den Griechen zu sein.«
Man kann nicht richtiger urteilen. Diese Statue ist eben so wenig ein Fechter, als ein Discobolus; es ist wirklich die Vorstellung eines Kriegers, der sich in einer solchen Stellung bei einer gefährlichen Gelegenheit hervortat. Da Herr Winckelmann aber dieses so glücklich erriet: wie konnte er hier stehen bleiben? Wie konnte ihm der Krieger nicht beifallen, der vollkommen in dieser nämlichen Stellung die völlige Niederlage eines Heeres abwandte, und dem sein erkenntliches Vaterland eine Statue vollkommen in der nämlichen Stellung setzen ließ?
Mit einem Worte: Die Statue ist Chabrias.
Der Beweis ist folgende Stelle des Nepos in dem Leben dieses Feldherrn.(183) Hic quoque in summis habitus est ducibus: resque multas memoria dignas gessit. Sed ex his elucet maxime inventum ejus in proelio, quod apud Thebas fecit, quum Boeotiis subsidio venisset. Namque in eo victoriae fidente summo duce Agesilao, fugatis jam ab eo conductitiis catervis, reliquam phalangem loco vetuit cedere, obnixoque genu scuto, projectaque hasta impetum excipere hostium docuit. Id novum Agesilaus contuens, progredi non est ausus, suosque jam incurrentes tuba revocavit. Hoc usque eo tota Graecia fama celebratum est, ut illo statu Chabrias sibi statuam fieri voluerit, quae publice ei ab Atheniensibus in foro constituta est. Ex quo factum est, ut postea athletae, ceterique artifices his statibus in statuis ponendis uterentur, in quibus victoriam essent adepti.
Ich weiß es, man wird noch einen Augenblick anstehen, mir Beifall zu geben; aber ich hoffe, auch wirklich nur einen Augenblick. Die Stellung des Chabrias scheine nicht vollkommen die nämliche zu sein, in welcher wir die Borghesische Statue erblicken. Die vorgeworfene Lanze, projecta hasta, ist beiden gemein, aber das obnixo genu scuto erklären die Ausleger durch obnixo in scutum, obfirmato genu ad scutum: Chabrias wies seinen Soldaten, wie sie sich mit dem Knie gegen das Schild stemmen, und hinter demselben den Feind abwarten sollten; die Statue hingegen hält das Schild hoch. Aber wie, wenn die Ausleger sich irrten? Wie, wenn die Worte obnixo genu scuto nicht zusammen gehörten, und man obnixo genu besonders, und scuto besonders, oder mit dem darauf folgendem projectaque hasta zusammen lesen müßte? Man mache ein einziges Komma, und die Gleichheit ist nunmehr so vollkommen als möglich. Die Statue ist ein Soldat, qui obnixo genu,(184) scuto projectaque hasta impetum hostis excipit: sie zeigt was Chabrias tat, und ist die Statue des Chabrias. Daß das Komma wirklich fehle, beweiset das dem projecta angehängte que, welches, wenn obnixo genu scuto zusammen gehörten, überflüssig sein würde, wie es denn auch wirklich einige Ausgaben daher weglassen.
Mit dem hohen Alter, welches dieser Statue sonach zukäme, stimmet die Form der Buchstaben in der darauf befindlichen Aufschrift des Meisters vollkommen überein; und Herr Winckelmann selbst hat aus derselben geschlossen, daß es die älteste von den gegenwärtigen Statuen in Rom sei, auf welchen sich der Meister angegeben hat. Seinem scharfsichtigen Blicke überlasse ich es, ob er sonst in Ansehung der Kunst etwas daran bemerket, welches mit meiner Meinung streiten könnte. Sollte er sie seines Beifalles würdigen, so dürfte ich mich schmeicheln, ein besseres Exempel gegeben zu haben, wie glücklich sich die klassischen Schriftsteller durch die alten Kunstwerke, und diese hinwiederum aus jenen aufklären lassen, als in dem ganzen Folianten des Spence zu finden ist.
XXIX
Bei der unermeßlichen Belesenheit, bei den ausgebreitesten feinsten Kenntnissen der Kunst, mit welchen sich Herr Winckelmann an sein Werk machte, hat er mit der edeln Zuversicht der alten Artisten gearbeitet, die allen ihren Fleiß auf die Hauptsache verwandten, und was Nebendinge waren, entweder mit einer gleichsam vorsetzlichen Nachlässigkeit behandelten, oder gänzlich der ersten besten fremden Hand überließen.
Es ist kein geringes Lob, nur solche Fehler begangen zu haben, die ein jeder hätte vermeiden können. Sie stoßen bei der ersten flüchtigen Lektüre auf, und wenn man sie anmerken darf, so muß es nur in der Absicht geschehen, um gewisse Leute, welche allein Augen zu haben glauben, zu erinnern, daß sie nicht angemerkt zu werden verdienen.
Schon in seinen Schriften über die Nachahmung der Griechischen Kunstwerke, ist Herr Winckelmann einigemal durch den Junius verführt worden. Junius ist ein sehr verfänglicher Autor; sein ganzes Werk ist ein Cento, und da er immer mit den Worten der Alten reden will, so wendet er nicht selten Stellen aus ihnen auf die Malerei an, die an ihrem Orte von nichts weniger als von der Malerei handeln. Wenn z. E. Herr Winckelmann lehren will, daß sich durch die bloße Nachahmung der Natur das Höchste in der Kunst, eben so wenig wie in der Poesie erreichen lasse, daß sowohl Dichter als Maler lieber das Unmögliche, welches wahrscheinlich ist, als das bloß mögliche wählen müsse: so setzt er hinzu: »die Möglichkeit und Wahrheit, welche Longin von einem Maler im Gegensatze des Unglaublichen bei dem Dichter fodert, kann hiermit sehr wohl bestehen.« Allein dieser Zusatz wäre besser weggeblieben; denn er zeiget die zwei größten Kunstrichter in einem Widerspruche, der ganz ohne Grund ist. Es ist falsch, daß Longin so etwas jemals gesagt hat. Er sagt etwas ähnliches von der Beredsamkeit und Dichtkunst, aber keinesweges von der Dichtkunst und Malerei. Ως δ’ έτερον τι ή ρήτορικη φαντασια βουλεται, και έτερον ή παρα ποιηταις, ουκ αν λαϑοι σε, schreibt er an seinen Terentian;(185) ουδ’ ότι της μεν εν ποιησει τελος εσιν εκπληξις, της δ’ εν λογοις εναργεια. Und wiederum: Ου μην αλλα τα μεν παρα τοις ποιηταις μυϑικωτεραν εχει την ύπερεκπτωσιν, και παντη το πισον ύπεραιρουσαν της δε ρητορικης φαντασιας, καλλισον δει το εμπρακτον και εναληϑες. Nur Junius schiebt, anstatt der Beredsamkeit, die Malerei hier unter; und bei ihm war es, nicht bei dem Longin, wo Herr Winckelmann gelesen hatte:(186) Praesertim cum Poeticae phantasiae finis sit εκπληξις. Pictoriae vero εναργεια. Και τα μεν παρα τοις ποιηταις, ut loquitur idem Longinus, u.s.w. Sehr wohl; Longins Worte, aber nicht Longins Sinn!
Mit folgender Anmerkung muß es ihm eben so gegangen sein: »Alle Handlungen, sagt er,(187) und Stellungen der griechischen Figuren, die mit dem Charakter der Weisheit nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler Parenthyrsus nannten.« Die alten Künstler? Das dürfte nur aus dem Junius zu erweisen sein. Denn Parenthyrsus war ein rhetorisches Kunstwort, und vielleicht, wie die Stelle des Longins zu verstehen zu geben scheinet, auch nur dem einzigen Theodor eigen.(188) Τουτω παρακειται τριτον τι κακιας ειδος εν τοις παϑητικοις, όπερ ό Θεοδωρος παρενϑυρσον εκαλει εσι δε παδος ακαιρον και κενον, ενϑα μη δει παϑους η αμετρον, ενϑα μετριου δει. Ja ich zweifle sogar, ob sich überhaupt dieses Wort in die Malerei übertragen läßt. Denn in der Beredsamkeit und Poesie gibt es ein Pathos, das so hoch getrieben werden kann als möglich, ohne Parenthyrsus zu werden; und nur das höchste Pathos an der unrechten Stelle, ist Parenthyrsus. In der Malerei aber würde das höchste Pathos allezeit Parenthyrsus sein, wenn es auch durch die Umstände der Person, die es äußert, noch so wohl entschuldigt werden könnte.
Dem Ansehen nach werden also auch verschiedene Unrichtigkeiten in der Geschichte der Kunst, bloß daher entstanden sein, weil Herr Winckelmann in der Geschwindigkeit nur den Junius und nicht die Quellen selbst zu Rate ziehen wollen. Z.E. Wenn er durch Beispiele zeigen will, daß bei den Griechen alles Vorzügliche in allerlei Kunst und Arbeit besonders geschätzet worden, und der beste Arbeiter in der geringsten Sache zur Verewigung seines Namens gelangen können: so führet er unter andern auch dieses an:(189) »Wir wissen den Namen eines Arbeiters von sehr richtigen Waagen, oder Waageschalen; er hieß Parthenius.« Herr Winckelmann muß die Worte des Juvenals, auf die er sich desfalls beruft, Lances Parthenio factas, nur in dem Catalogo des Junius gelesen haben. Denn hätte er den Juvenal selbst nachgesehen, so würde er sich nicht von der Zweideutigkeit des Wortes lanx haben verführen lassen, sondern sogleich aus dem Zusammenhange erkannt haben, daß der Dichter nicht Waagen oder Waageschalen, sondern Teller und Schüsseln meine. Juvenal rühmt nämlich den Catullus, daß er es bei einem gefährlichen Sturme zur See wie der Biber gemacht, welcher sich die Geilen abbeißt, um das Leben davon zu bringen; daß er seine kostbarsten Sachen ins Meer werfen lassen, um nicht mit samt dem Schiffe unter zu gehen. Diese kostbaren Sachen beschreibt er, und sagt unter andern:
Ille nec argentum dubitabat mittere, lances
Parthenio factas, urnae cratera capacem
Et dignum sitiente Pholo, vel conjuge Fusci.
Adde et bascaudas et mille escaria, multum
Caelati, biberet quo callidus emtor Olynthi.
Lances, die hier mitten unter Bechern und Schwenkkesseln stehen, was können es anders ein, als Teller und Schüsseln? Und was will Juvenal anders sagen, als daß Catull sein ganzes silbernes Eßgeschirr, unter welchem sich auch Teller von getriebener Arbeit des Parthenius befanden, ins Meer werfen lassen. Parthenius, sagt der alte Scholiast, caelatoris nomen. Wenn aber Grangäus, in seinen Anmerkungen, zu diesem Namen hinzusetzt: sculptor, de quo Plinius, so muß er dieses wohl nur auf gutes Glück hingeschrieben haben; denn Plinius gedenkt keines Künstlers dieses Namens.
»Ja, fährt Herr Winckelmann fort, es hat sich der Name des Sattlers, wie wir ihn nennen würden, erhalten, der den Schild des Ajax von Leder machte«. Aber auch dieses kann er nicht daher genommen haben, wohin er seine Leser verweiset; aus dem Leben des Homers, vom Herodotus. Denn hier werden zwar die Zeilen aus der Iliade angeführet, in welchen der Dichter diesem Lederarbeiter den Namen Tychius beilegt; es wird aber auch zugleich ausdrücklich gesagt, daß eigentlich ein Lederarbeiter von des Homers Bekanntschaft so geheißen, dem er durch Einschaltung seines Namens seine Freundschaft und Erkenntlichkeit bezeigen wollen:(190) Απεδωκε δε χαριν και Τυχιω τω σκυτει, ός εδεξατο αυτον εν τω Νεω τειχει, προσελϑοντα προς το σκυτειον, εν τοις επεσι καταζευξας εν τη Ιλιαδι τοισδε.
Αιας δ’ εγγυϑεν ηλϑε, φερων σακος ηυτε πυργον.
Χαλκεον, έπταβοειον ό όι Τυχιος καμε τευχων
Σκυτοτομων οχ’ αρισος, Ύλη ενι οικια ναιων.
Es ist also grade das Gegenteil von dem, was uns Herr Winckelmann versichern will; der Name des Sattlers, welcher das Schild des Ajax gemacht hatte, war schon zu des Homers Zeiten so vergessen, daß der Dichter die Freiheit hatte, einen ganz fremden Namen dafür unterzuschieben.
Verschiedene andere kleine Fehler, sind bloße Fehler des Gedächtnisses, oder betreffen Dinge, die er nur als beiläufige Erläuterungen anbringet. Z.E.:
Es war Herkules, und nicht Bacchus, von welchem sich Parrhasius rühmte, daß er ihm in der Gestalt erschienen sei, in welcher er ihn gemalt.(191)
Tauriscus war nicht aus Rhodus, sondern aus Tralles in Lydien.(192)
Die Antigone ist nicht die erste Tragödie des Sophokles.(193)
Doch ich enthalte mich, dergleichen Kleinigkeiten auf einen Haufen zu tragen. Tadelsucht könnte es zwar nicht scheinen; aber wer meine Hochachtung für den Herrn Winckelmann kennet, dürfte es für Krokylegmus halten.
Ende des ersten Teiles