5

Es ist Tagesanbruch. Jonah und ich haben uns zu unserem Job/Date getroffen und stehen nun auf einem Hausdach in Williamsburg. Er wartete mit zwei Bechern Kaffee am Treffpunkt, strahlte mich mit einem breiten, verschlafenen Lächeln an und wollte mir nicht verraten, was uns bevorstehen würde.

Mir kam kurz der Gedanke, dass er womöglich Schändliches mit mir vorhatte, aber dann sah ich, dass er ein Glücksbärchen-T-Shirt trug und hellrosa Shorts, die von einem Seil im Bund gehalten wurden, und mir war klar, dass ein Mann, der sich wie eine Art moderner Huckleberry-Finn-Verschnitt kleidet, unmöglich Böses im Schilde führen könnte.

Und nun, während ich an meinem Kaffee nippe – Gott, ich liebe Kaffee! –, kann ich nicht aufhören, die Aussicht auf Manhattan in der Morgensonne zu bewundern, atemberaubend, fast wie eine Computeranimation.

Ich kann unserem Nest nicht den Rücken kehren, ich kann New York nicht den Rücken kehren. Dafür lebe ich viel zu gern hier, und außerdem bin ich … hungrig … hungrig auf was auch immer mich erwartet.

»Wunderschön, nicht?«, sagt Jonah, als er sich neben mich stellt.

Ich lasse den Blick über die City schweifen. »Überwältigend«, erwidere ich.

»Ich habe irgendwo gelesen, dass der Philosoph Descartes gesagt hat, dass eine tolle Stadt ein Inventar des Möglichen sein sollte«, sagt Jonah. »Ein Ort, an dem alles passieren kann. Man weiß nie, was als Nächstes kommt.«

»Das gefällt mir«, sage ich.

»Dreh dich mal um und sag Hallo zu den Mädchen.«

Mädchen?

Plötzlich entdecke ich in einer Ecke des Flachdachs drei hüfthohe Kästen. Ich blinzle im Morgenlicht angestrengt hinüber. »VORSICHT! BIENEN!«, kreische ich und stürze mich in Jonahs Arme.

»Entspann dich, Pussycat.« Jonah nimmt einen Safarihut mit einem Schutznetz aus seiner Tasche. »Du hast doch nicht etwa Schiss vor Bienen, oder? Wenn du Schiss hast, musst du den Schisserhut anziehen.«

Ich ignoriere den Schisserhut, obwohl ich tatsächlich Angst vor Bienen habe. Aber ich bin auch ohne Bienen schon nervös, vielleicht, weil ich mir nicht sicher bin, ob dies hier ein verkapptes Date ist oder nicht. Aber das will ich nicht zugeben. »Nein, nein, schon okay. Also … Was machen wir hier?«

»Wir ernten den Honig.«

Ich nicke und versuche, einen coolen Eindruck zu machen. Natürlich, wir ernten den Honig. Wir sind in New York City. Warum sollten wir keinen Honig ernten?

»Ich kümmere mich um die Bienenstöcke für meinen Kumpel Ray«, erklärt Jonah und nimmt eine Art Metallgießkanne in die Hand. »Er hat in der Innenstadt ein Restaurant. Wenn du dich heute schlau anstellst, kannst du diesen Job übernehmen.«

Pia Keller, die Imkerin? »Okay, dann werden wir den Bienenstock jetzt also … melken?«

Jonah prustet laut. »Ist das dein Ernst?«

»Nein«, sage ich rasch. Ich hasse es, Dummheiten von mir zu geben. »Ich meine … was passiert jetzt genau?«

»Wir checken die Magazine«, antwortet Jonah und zündet den Inhalt der Gießkanne an. »Das ist ein Smoker. Der Rauch macht die Bienen stoned, sodass sie sich nicht daran stören, wenn man die Waben aus dem Stock nimmt. Sei einfach vorsichtig und leise.«

In diesem Moment landet eine Biene auf meinem Arm, und ich renne kreischend auf die andere Seite des Flachdachs.

»Hey, das war mein Ernst!«, ruft Jonah. »Du machst ihnen Angst!«

»Tut mir leid!«

»Tu einfach, was ich dir sage«, erwidert Jonah.

Unsere Blicke treffen sich für eine Sekunde, und er zieht eine Augenbraue hoch. Oooh. Gänsehaut-Feeling. Das hier ist ein Date. Aber stehe ich auf Jonah? Ich glaube nicht.

Plötzlich sehe ich vor meinem geistigen Auge den Mann, dem ich auf der Court Street begegnet bin, den vermeintlichen Traumprinzen mit der blöden englischen Freundin … Ugh! Warum denke ich überhaupt an ihn? Schließlich a) ist er vergeben und b) werde ich ihn niemals wiedersehen.

Warum ich keine Beziehung will?

Okay, sein Name ist Eddie. Und er war meine erste große Liebe. Peinlich, ich weiß. Aber man kann es nicht anders ausdrücken. Ich war damals sechzehn und neu auf meinem dritten Internat, verstört und unglücklich, nachdem ich zwei Schulverweise kassiert hatte, ganz zu schweigen von dem anschließenden Donnerwetter meiner Eltern … Aber dann lernte ich Eddie kennen. Wahrscheinlich ergibt das keinen Sinn, aber als Eddie und ich zusammenkamen, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben komplett und ausgeglichen. Keine Ahnung, zwischen uns machte es einfach Klick. Und Eddie unterstützte mich beim Lernen, hielt mich vom Feiern ab, brachte mein Leben wieder in die Spur. Mehr noch, er gab mir das Gefühl, glücklich und geborgen zu sein und verstanden zu werden … Er kam mir vor wie mein Retter. Er sagte, ich sei auch seine Rettung gewesen – vor den Nullachtfünfzehn-Mädchen in New England, mit denen er aufgewachsen sei, davor, dass er nie Tränen gelacht habe, davor, dass er daran ersticke, beliebt zu sein und gleichzeitig höllisch einsam. Das war natürlich alles Blödsinn. Der Einzige, den man jemals retten kann, ist man selbst.

Was soll’s.

Dann, kurz vor unserem ersten gemeinsamen Sommer, bevor wir zu studieren begannen (er in Berkeley, ich auf der Brown), machte Eddie mit mir Schluss. Am Telefon! Sein genauer Wortlaut: »Pia, seien wir ehrlich. Du bist ein Fluchtrisiko, es wird niemals funktionieren. Ich tue das nur, bevor du es tust.«

Selbst heute noch kann ich nicht an dieses Gespräch denken, ohne dass es sich anfühlt wie eine Ohrfeige. Eddie gab mir den Laufpass, weil er mich für zu flatterhaft, zu verantwortungslos, zu unzuverlässig hielt. Er gab mir den Laufpass, weil ich so bin, wie ich bin … beziehungsweise wie er glaubte, dass ich wäre, und da er mich besser als jeder andere Mensch kannte, läuft es auf dasselbe hinaus, richtig? Ich hätte nie gedacht, dass ich so leidensfähig bin. Bei der bloßen Erinnerung bildet sich in meiner Kehle ein dicker, schmerzhafter Tränenkloß. Kennt ihr dieses Gefühl?

Jedenfalls war ich damals gerade in Boston bei Angie und bekam die größte Panikattacke meines Lebens. Ich dachte, ich müsste sterben. Ich bekam keine Luft mehr, mein Herz raste, alles drehte sich, und ich dachte immer nur: Es ist aus, es ist aus … Angie war weg, um etwas zu erledigen. Wie sie mir später erzählte, war sie nur kurz unterwegs gewesen, mir kam es allerdings wie Stunden vor. Als sie zurückkam, muss ich seltsam geröchelt haben, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

Die nächsten paar Wochen waren … unbeschreiblich. Ich denke, wenn eine Beziehung zu Ende geht, ist das ein bisschen wie Sterben. Ich lag nachts wach vor Liebeskummer. Ich fing jeden Morgen schon beim Aufwachen an zu heulen. Ich trank so viel Alkohol, wie ich konnte, und tat dabei so, als wäre alles in bester Ordnung. Angie hat nie einen Versuch gemacht, mit mir darüber zu reden – sie ist nicht der Typ, dem man sein Herz ausschüttet. Aber sie holte mich jede Nacht von irgendeiner Kneipe ab, brachte mich zu sich nach Hause und verfrachtete mich ins Bett.

Dann fing ich an zu studieren und beschloss, nie wieder ein Wort über die Sache zu verlieren, weil ich mich nicht einmal unter Kontrolle hatte, wenn ich nur daran dachte. Das ist also der Grund, warum ich Single bin und nur flüchtige Abenteuer habe. Warum sollte ich mir das ein zweites Mal antun?

Ich hasse es, an Eddie zu denken. Meine Gedanken schweifen dann immer nur kurz in die Realität zurück, dann wandern sie wieder zu ihm. Eddie ist wie ein lockerer Milchzahn, an dem man ständig herumwackelt, aber im Gegensatz zu einem Milchzahn fällt Eddie nie endgültig aus.

Meine Tagträume werden von Jonah unterbrochen, der nun zu mir herüberkommt und mich kurz in die Nase kneift.

»Möchtest du die Honigbienen sehen, Prinzessin?«, fragt er.

Mit großen, steifen Handschuhen über den Händen nimmt Jonah den Deckel von einem der Kästen ab und zieht einen Holzrahmen heraus. Über die vollen Honigwaben krabbeln betäubte Bienen.

»Ich vermute, die haben nach deiner Beweihräucherung jetzt einen Stich.« Ich schlage mir auf den Oberschenkel vor Begeisterung über meinen eigenen Witz.

»Du bist sehr … komisch«, sagt er. »Pass auf! Das hier ist eine fette Honigausbeute … Das haut mich richtig um. Gib Bienen ein Zuhause, und zum Dank produzieren sie das Süßeste auf der Welt.«

»Von welchen Blumen ernähren sie sich?«, frage ich und versuche, nicht zu zucken, wenn eine Biene in meine Nähe kommt. »Beziehungsweise welche Blumen befruchten sie? Besamen. Bestäuben. Was auch immer. Du weißt schon, was ich meine.«

»Eigentlich jede Blume, Obstbäume oder Beerensträucher«, antwortet er. »Sie fliegen bis zu sechs, sieben Kilometer weit, um Nektar zu sammeln. Das bedeutet, dass sie bis in den Central Park kommen. Und für die faulen Bienen gibt es in Brooklyn natürlich noch den Botanischen Garten.«

Ich beobachte eine dicke, kleine Biene, die zwei perfekte Achten über die Traube fliegt und ihren flauschigen kleinen Körper an ihren Nachbarn reibt in einer Art sanftem Reigen.

»Sie sind wunderschön aus der Nähe betrachtet«, sage ich leise. »So emsig und glücklich. Sie haben irgendwas Tröstendes, weißt du?«

Ich unterbreche mich, weil mir bewusst wird, dass ich wieder etwas Dummes gesagt habe. Ich fange Jonahs Blick auf, aber er lacht nicht. Er beugt sich zu mir, um mich zu küssen, aber etwas in mir sagt Nein, und ich drehe im letzten Moment den Kopf zur Seite.

Zum Glück nimmt Jonah es wie ein Mann. »Ich liebe den Geruch von Zurückweisung am frühen Morgen!«

Ich lache. »Sorry. Ich bin einfach nicht …«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, fällt er mir ins Wort. »Wie gewonnen, so zerronnen, Matrose. Machen wir uns an die Arbeit.«

Endlich habe ich es hinter mich gebracht. Nach kurzer Zeit schon bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Imkern definitiv nichts für mich ist. Es ist zu gefährlich (oder ich bin zu ängstlich, was auch immer). Ich war nur damit beschäftigt zu flüchten, wenn eine Biene auf mir landete. Nun sitzen wir in Jonahs verbeulter alter Klapperkiste, die Sonne scheint, und ich habe einen Korb mit handetikettierten Kings-County-Honiggläsern auf dem Schoß.

»Baby, you’re a FIREEEEWORK!«, singt Jonah zu Katy Perry im Radio.

»Ich fühle mich hellwach! Es macht einfach Spaß, eine Beschäftigung zu haben!«, sage ich. »Ich liebe es!«

»Was für ein Leben führst du denn normalerweise, Prinzessin?«, fragt Jonah lachend. »Brauchst du dich nur zurückzulehnen und von Sklaven mit Trauben füttern zu lassen, oder was?«

»Ach, du kannst mich mal … Der Wagen sieht übrigens aus wie eine Müllkippe.« Leere Essensverpackungen und Getränkedosen türmen sich darin, und es riecht nach Schweißfüßen.

»Ja? Das ist noch gar nichts. Du solltest mal meine Wohnung sehen – eine Petrischale voller Bakterien. Ich wohne mit fünf Typen zusammen. Die sind ständig krank, aber ich nicht!« Er grinst stolz. »Ich habe die Konstitution von einem texanischen Büffel.«

Bah. Jungs in unserem Alter finden es unheimlich toll, wie die Schweine zu hausen. Ich begreife das nicht.

»Und wie kommst du bei all den Jobs mit deiner Schauspielkarriere voran?«

»Hey, ich würde das nicht als Karriere bezeichnen. Ich lebe jetzt seit sechs Jahren hier, und es hat sich noch nicht wirklich viel getan. Aber ich habe Spaß. Manchmal helfe ich in der Band von meinem Freund aus. Hin und wieder gehe ich zum Schauspielunterricht, und die restliche Zeit wurschtel ich mich so durch.«

»Cool«, sage ich, obwohl es irgendwie deprimierend klingt, sich sechs Jahre in Brooklyn so durchzuwurschteln. »Was war deine letzte Rolle?«

»Ein Typ in einer Diesel-Werbekampagne.« Er versucht, sehr beiläufig und unbeeindruckt zu klingen, aber offensichtlich ist er insgeheim stolz wie Oskar.

»Fürs Fernsehen?«

»Äh … nein. Fürs Internet.«

»Eine Werbekampagne fürs Internet? Ist das nicht eher wie Modeln?«

»Nein, es war ein Werbefilm, in dem ich eine Rolle hatte.«

Ich habe so meine Zweifel (»Meine Motivation in dieser Szene ist DENIM!«), aber was soll’s.

Mein Handy klingelt. Ich starre eine Sekunde lang auf das Display, dann schalte ich den Ton stumm. Es sind meine Eltern. Seit dem Horrortelefonat nach der Party habe ich nicht mehr mit ihnen gesprochen, und ich will es jetzt auch nicht tun, also drück ich den Anruf weg.

Eine Minute später piept mein Handy. Eine Nachricht auf der Mailbox. Ich kann es auch genauso gut gleich hinter mich bringen.

Mein Vater spricht als Erster. »Ah, Pia, in Zürich ist es jetzt … Viertel vor drei, was heißt, dass es in New York Viertel vor neun ist. Wahrscheinlich liegst du noch in den Federn …« Nein, verflucht, tu ich nicht, ich arbeite, denke ich trotzig. »Wir wollten dir Bescheid geben, dass wir in sechs Wochen nach New York kommen.«

Meine Mutter plappert vom Nebenanschluss aus dazwischen. »Und wenn du bis dahin keine Arbeit hast, keine richtige Arbeit, nehmen wir dich mit zurück nach Zürich, damit du wieder unter unseren Fittichen bist!«

Dann redet mein Vater erneut. »Wir rufen morgen wieder an. Sorg dafür, dass du wach bist und nüchtern.«

Klick.

Ich drücke auf »löschen«, lege auf und seufze.

Okay, ich weiß, dass Tausende junger Frauen in meinem Alter vollkommen unabhängig sind. Sie würden einfach auf ihre Eltern pfeifen und alle Brücken zu ihnen abbrechen … Aber das möchte ich nicht. Irgendwie habe ich immer noch die Hoffnung, dass diese merkwürdige Entfremdung während der letzten paar Jahre sich vielleicht eines Tages auflösen wird. Schließlich sind dies die einzigen Eltern, die ich habe. Und ich wünsche mir wirklich, dass meine Eltern stolz auf mich sind. Meistens habe ich nämlich den Eindruck, sie können mich gar nicht leiden.

Ich sehe aus dem Fenster, in Gedanken versunken. Plötzlich wirkt die Sonne irgendwie trostlos. Wen will ich hier verarschen? Ich kann keine Karriere machen als gottverdammte Bienenmelkerin. Ich brauche einen Job, einen richtigen Job … und das schnell.

»Heute ist ein ganz besonderer Tag für Glückskinder«, sagt Jonah mit Radiomoderatorenstimme. »Auf dem Brooklyn Flea findet nämlich das Food Truck Festival statt! Und genau dort wirst du, Pia Keller, heute arbeiten! Kennst du schon den Flohmarkt in Brooklyn?«

»Klar!«

Tatsächlich war ich kurz nach meinem Umzug zum ersten Mal dort, mit Angie und Coco im Schlepptau. Der Brooklyn Flea ist eine riesige Ansammlung von Marktständen, an denen alles verkauft wird, von Antiquitäten über Designersachen über Kunst über … nun, es gibt einfach jede Menge Zeug.

Ich zögere kurz. »Moment, was ist ein Food Truck Festival?«

»O Mann, du bist wirklich neu hier, stimmt’s?«, erwidert er. »Food Trucks sind Trucks, die durch die Stadt fahren und – Achtung! – Essen verkaufen.«

»Ach so«, sage ich und werde rot. »So was wie Eiswagen.«

»Äh … na ja, so ähnlich. Viel größer halt«, sagt Jonah und biegt auf einen Parkplatz.

»Kuchenwagen«, sage ich, als wir aussteigen. »Ich glaube, ich habe in SoHo mal einen Kuchenwagen gesehen.«

»Noch größer. Mann, ich krieg Hunger.«

Wir gehen ein Stück die Straße entlang, auf ein Schild mit der Aufschrift »Brooklyn Flea Food Truck Festival« zu. Und jetzt weiß ich, was Jonah mit »größer« meint: Aufgereiht wie riesige bunte Spielzeuge, stehen dort Food Trucks in jeder erdenklichen Art.

»Einfallsreich«, bemerke ich. »Und wie bereiten die das Essen in den Trucks zu?«

»Sie haben Elfen«, antwortet Jonah.

»Ich krieg langsam Hunger«, sage ich und sehe ihn an.

»Nur Geduld, Zuckermaus.«

Die Leute stellen sich bereits geduldig vor den Trucks an, um sich vor einem langen Tag auf dem Markt zu stärken. Wow, in dieser Stadt tun die Leute alles für ein gutes Essen. Diese Trucks müssen richtig Geld scheffeln.

Jonah bleibt vor einem dunkelgrünen Imbisswagen stehen, dessen Seitenwand mit riesengroßen weißen Blockbuchstaben beschriftet ist: BROOKLYN REGIONAL FOOD TRUCK. Das Vordach ist hochgeklappt, daran hängt die Speisekarte, die mit Kreide auf eine Tafel geschrieben wurde.

FRÜHSTÜCK

French Toast mit Ricotta

Rosinenbrot

Bacon mit Spiegelei auf gebuttertem Sauerteigbrot

Buttermilk Donuts

SÄMTLICHE Zutaten sind aus der Region: Fleisch von eigenen Tieren aus Weidehaltung, Gemüse aus biologischem Anbau, Freilandeier!

»Das ist der Truck von Phil, Rays Bruder. Eigentlich ist seine Spezialität Brot, aber auch alles andere ist selbst gemacht, selbst gezogen, selbst geschlachtet oder selbst geräuchert und hier aus der Gegend, aus Brooklyn.«

»Tatsächlich sind die Rosinen aus Kalifornien«, sagt ein rothaariger Mann, der jetzt hinter dem Wagen hervorkommt.

Er ist Anfang dreißig, einer von diesen aggressiv-spöttischen Alteingesessenen mit einem Schnauzbart und einem altmodischen Cowboyhemd. Phil und Jonah schütteln sich die Hände und umarmen sich kurz, dann stellt Jonah mich Phil vor. Phil betreibt eine Biobäckerei und hat den Truck an den Wochenenden zum Spaß.

»Und alle Zutaten stammen direkt aus Brooklyn?«, frage ich skeptisch.

»Brooklyn ist ein fruchtbarer Garten, meine Kleine.« Phil wirft einen Blick in den Korb. »Mensch, diese Bienen sind einsame Spitze! Ich liebe die guten Ideen von meinem Bruder. Was wohl der Grund ist, warum er reicher und erfolgreicher ist als ich.«

»Dafür kann er sich keinen Schnurrbart stehen lassen so wie du«, sagt Jonah. »Vermisst du deinen Vollbart?«

»Nicht besonders«, antwortet Phil und zwirbelt seine roten Bartspitzen. »Als ich Ray das letzte Mal gesehen habe, meinte er, dass mein Bart Ähnlichkeit mit Kathy Griffins Vagina habe. Okay! Mal sehen … Wollt ihr geröstetes Sauerteigbrot mit Ricotta und Honig?« Er hebt die Stimme. »Lara? Schatz? Haben wir genug Ricotta?«

»Ja«, antwortet eine hübsche Frau mit zerzausten Haaren, die hinten aus dem Truck steigt.

»Sauerteigbrot aus unserer Biobäckerei in D.U.M.B.O, selbst gemachter Ricotta von einem Freund aus Fort Greene, Honig aus Williamsburg. Alles aus Brooklyn«, erklärt er, während er uns Frühstück macht.

Ich nicke kurz.

»Was machen die Eier und der Speck, Schatz?«

»Es gibt ein kleines Problem.« Lara beginnt zu kichern. »Wir haben die Eier vergessen.« Ich habe das Gefühl, das ist nicht das erste Mal, dass sie etwas vergessen haben.

»Einfache Bacon-Sandwiches?«, erwidert Phil zweifelnd. »Gähn. Habt ihr eine andere Idee, Leute?«

»Bacon mit … ähm … Bacon?«, sagt Jonah.

»Wie wäre es mit Bacon-Sandwiches mit Chili-Marmelade?«, sage ich.

Das ist eine meiner Lieblingsvarianten. Eddie machte uns das früher in den Ferien als Katerfrühstück. »Frühstück für Helden, Keller«, sagte er dann immer und zog mich auf seinen Schoß. Abwechselnd bissen wir von dem Sandwich ab. Danach gingen wir einen Lebkuchensirup-Milchkaffee trinken, der bei Gott echt widerlich schmeckt, aber Eddie war der Meinung, es schmecke nach Urlaub. Bah! Hör auf, an ihn zu denken, Pia.

»Ja! Ich liebe kreative Ideengeber! Okay, ihr zwei, seht euch ruhig auf dem Markt um. Ich brauche euch erst mittags. Hier!« Er drückt uns unsere Sandwiches mit Ricotta und Honig in die Hand.

Jonah und ich schlendern mampfend über den Flohmarkt.

»Woher kommst du eigentlich, Prinzessin?«, fragt Jonah, mit vollem Mund.

Die alte Standardfrage. »Ich bin hier geboren, aber wir sind oft umgezogen, falls du das meinst«, antworte ich, als wir an einem Stand mit antiken Spiegeln vorbeikommen, die gut in die Diele unseres Hauses passen würden. Ich sollte wieder herkommen, wenn ich Geld habe. Falls ich jemals wieder zu Geld komme.

»Ehrlich? Schräg.«

Ich spule meine übliche Antwort auf den ach so reizenden Kommentar ab. »Schule ist Schule, egal, wo sie steht. Lesesaal, Freizeit-AGs, Hausaufgaben …«

»Du hast nie eine Schule in den Staaten besucht?«

»Doch. Ab der sechsten bin ich hier aufs Internat gegangen … Genau genommen war ich auf drei Internaten.«

Ich bleibe vor einem Stand mit Schmuck, der aus Teilen einer alten Schreibmaschine gemacht ist, stehen. »Cool, sieh dir das an.«

»Drei Internate? Mann, wenn das mal nicht schräg ist! Woher sind deine Eltern?«

Schräg. Schon wieder. Wie kann ich mich jemals irgendwo zugehörig fühlen, wenn ich ständig darauf hingewiesen werde, dass ich anders bin?

»Meine Mutter ist aus Indien. Mein Vater stammt aus der Schweiz, aber er hat zwanzig Jahre in den Staaten gelebt. Er ist wesentlich älter als meine Mutter.«

»Ist das der Grund, warum du grüne Augen hast? Hast du die von deinem Vater geerbt?«

»Ich nehme es an.« Meine Augenfarbe ist ein komisches Jadegrün. Als ich jünger war, dachte jeder, ich würde farbige Kontaktlinsen tragen, und ich musste Gott weiß was tun, um das Gegenteil zu beweisen.

»Dann sprichst du … wie viele Sprachen? Drei?«

»Nicht wirklich.«

»Und wo ist deine Heimat?«

Ich unterdrücke ein lautes Stöhnen. »Wo immer ich meine Beine hochlege, Baby.«

Das ist einer meiner Standardsprüche auf diese nicht zu beantwortende Frage. Ich weiß nicht, wo meine Heimat ist. Warum machen alle immer so viel Tamtam um die Heimat? Weil sie glauben zu wissen, wer du bist, sobald sie deine Heimat kennen?

»Mann, du hattest ein ganz schön abgefahrenes Leben.«

»Mhm.«

Ich stöbere einen Ständer mit alten Pelzmänteln durch. Ich kann nie erklären, wie es ist, ich zu sein. Nur Eddie hat mich jemals wirklich verstanden, und er hat mich zum Teufel gejagt.

Gott, dieses Gespräch deprimiert mich.

»Du vermisst deine Eltern bestimmt sehr.«

»Äh … ja …«

Ich vermisse nie jemanden, ich bin es gewohnt, Abschied zu nehmen. Aber die Leute halten einen für kalt und hartherzig, wenn man das sagt.

»Und ich wette, du warst eins der beliebtesten Mädchen an deinen ganzen Schulen.«

»Sicher. Ich war die totale Heather.«

Zugegeben, ich hing eher mit den angesagten Leuten ab, aber ich gehörte nie wirklich dazu. Wie auch? Die anderen Mädchen trugen die gleichen Klamotten, ließen sich die gleichen Strähnchen machen und verbrachten die gleichen Ferien in den Hamptons und auf Martha’s Vineyard seit ihrer Geburt. Ich passte einfach nicht dazu: Meine Hautfarbe war anders, meine Klamotten waren anders, alles. Die einzige Möglichkeit, um zu überleben, war, über den Dingen zu schweben, ohne eine Außenseiterin zu sein, und das bedeutete, dass ich immer einen glücklichen Eindruck machen musste, ganz egal, was passierte. Und dann lernte ich den ruhigen, beständigen Eddie kennen und war echt glücklich. Für eine Weile jedenfalls.

Jonah schnappt sich einen Tropenhelm und setzt ihn auf. Hübscher Bizeps. Einen Augenblick lang stelle ich mir vor, wie ich an seinem Arm lecke, wie Jonah im Bett auf mir liegt … Ich frage mich, ob es normal ist, erotische Fantasien mit Männern zu haben, in die man nicht verliebt ist. Julia würde das verneinen. Angie würde das bejahen.

»Ich habe schon wieder Hunger«, sagt Jonah. »Sollen wir uns einen Hotdog teilen? Mit ’ner doppelten Portion Ketchup? Ich habe mal gewettet, dass ich fünf Liter Ketchup auf einmal trinken kann. Und ich habe gewonnen!«

Und puff! Meine Jonah-Fantasie platzt. In diesem Moment entdecke ich Angie in einem sehr kurzen blauen Tea-Dress am Arm eines Mannes, der europäisch aussieht und der mir völlig unbekannt ist. Bestimmt ein Franzose, seiner etwas zu kurzen Jeans nach zu urteilen.

Aber gerade als ich rufen will, um Angie auf mich aufmerksam zu machen, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Eine saftige. Der Fremde schlägt grob ihre Hand weg und macht eine abschätzige Bemerkung. Daraufhin verpasst Angie ihm einen derart heftigen Stoß, dass er einen Schritt rückwärts taumelt. Ich kann zunächst nicht verstehen, was sie sagt, aber die letzten Worte sind deutlich zu hören, weil sie in voller Lautstärke brüllt. Fick dich doch selbst.

Alle starren nun zu ihr. »Was für ein Herzchen«, bemerkt Jonah.

Angie macht auf dem Absatz kehrt und läuft weg. Der Fremde schüttelt den Kopf und verschwindet dann in der Menge.

»Das ist meine beste Freundin …«, murmle ich. Warum hat Angie mir nichts von einem neuen Mann erzählt? Ich dachte eigentlich, sie stünde auf Hugh, den englischen Lord. Wer zum Teufel ist dieser Kerl? Ich hole mein Handy hervor.

»Ja, besser, du rufst sie mal an«, sagt Jonah.

»Nein …«

Gott, Männer sind manchmal echt dämlich. Hätte Angie gewollt, dass ich von dem Kerl weiß, hätte sie mir von ihm erzählt. Aber ganz offensichtlich wollte sie das nicht, und das habe ich zu respektieren. Allerdings kann ich es ihr leicht machen, falls sie jetzt reden möchte …

Ich schreibe ihr kurz eine SMS. Hey, Süße, was geht ab? Sollen wir nachher was zusammen machen?

Eine Sekunde später bekomme ich eine Antwort. Vielleicht. Bin gerade unterwegs. Lass uns heute Abend was trinken gehen.

Typisch Angie, denke ich. Jonah und ich schlendern weiter. Julia könnte ich direkt konfrontieren, wenn ich mitbekäme, dass sie sich mit einem geheimnisvollen Mann streitet. Nicht, dass das jemals passieren würde. Geheimniskrämerei ist nicht Julias Sache. Als sie das letzte Mal was mit einem Kerl hatte, schrieb sie mir nebenher eine SMS. Ungelogen. Aber nicht Angie.

Als wir vierzehn waren, haben wir mit unseren Eltern in Thailand Urlaub gemacht. Angie wollte eines Abends früh ins Bett. Also zog ich mit ein paar Kellnern aus dem Hotel durch die Kneipen. Gegen Mitternacht ging ich in einer Bar auf die Toilette, wo ich jemanden schluchzen hörte. Ich sah Angies Schuhe unter der Kabinentür und saß dann eine Stunde lang davor, um sie zum Reden zu bringen. Sie weigerte sich und wiederholte immer wieder, dass sie mich nicht brauche, dass sie allein sein wolle. Schließlich ging ich, und am nächsten Morgen checkte sie mit ihren Eltern aus dem Hotel aus.

Ich habe nie erfahren, was damals los war, hinterher redete Angie fast ein Jahr lang nicht mehr mit mir. Es war das Jahr, in dem ich von meinem ersten Internat flog, fällt mir gerade ein. Jedenfalls machten wir im Sommer darauf wieder einen gemeinsamen Familienurlaub, und Angie tat so, als wäre zwischen uns alles in Ordnung, also spielte ich einfach mit.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagt Jonah.

Ich sehe ihn an und runzle die Stirn. »Sorry. Die sind mehr wert.«