23

Es ist früher Abend, und ich liege immer noch im Bett. Ich bin seit einer Stunde wach. Vielleicht auch seit zwei. Oder drei. Ich kann es nicht sagen. Alles, was ich weiß, ist, dass es draußen hell war, als ich aufwachte, und jetzt ist es nicht mehr hell. Ich kann mich nicht überwinden, mich zu bewegen.

Es klopft an meiner Tür.

»Pia?« Es ist Julia. »Notfallversammlung. Küche. Sofort.«

Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber es kommt kein Ton heraus.

»Pia? Bist du wach?«

»Ich komme!«, bringe ich schließlich heraus. »Zieh mich nur schnell an.«

Das ist die Bestätigung. Ich habe Scheiße gebaut.

Wieder einmal.

In den letzten paar Wochen war mir ein schlechtes Gewissen nicht gerade fremd. Es war weitestgehend selbst verschuldet und auch weitestgehend vermeidbar. Aber das war nichts verglichen mit heute. Dies hier ist eine Mischung aus Selbstmitleid, Reue, Selbstkasteiung und gutem alten Katzenjammer, gewürzt mit einer Prise Brummschädel.

Ohne zu überlegen, schnappe ich mir von meinem Nachttisch Das Beste von allem und schlage es auf.

»Jedes Mal, wenn man unglücklich ist«, sagte Sidney, »kommt es einem so vor, dass man schon immer unglücklich gewesen ist, und es fallen einem all die schlechten Dinge und Enttäuschungen ein. Kommt man aber in eine gute Phase, dann scheint es, als wäre das Leben insgesamt gar nicht so schlecht.«

Verdammt. Dieses Buch liest ständig meine blöden Gedanken.

Ich stehe auf und schlüpfe in eine Jeans und ein ausgefranstes Prada-Hemd, das Angie ihrem Exfreund geklaut hat.

Ich habe Eddie gesehen und Aidan angeschrien und Koks geschnupft und bin mit irgendeinem wildfremden Kerl nach Hause gegangen und habe ihn an meinen Schenkeln lecken lassen und habe einen ganzen Arbeitstag verpasst, und ich werde Cosmo nie alles zurückzahlen können. Ich stehe am Rand eines Abgrunds und starre hinunter. Ich drohe zu fallen, und ich werde nie wieder da rauskommen, nie wieder.

Wahrscheinlich wird Jules mich rausschmeißen. Vielleicht ist das der Grund für die WG-Versammlung. Ich könnte es ihr nicht verübeln.

Seufzend mache ich mich auf den Weg nach unten. Die anderen sitzen alle nüchtern am Küchentisch und starren mich an.

»Pia …«, beginnt Julia.

»Ist das eine Intervention? Ich schwöre, ich brauche keine«, sage ich.

Niemand lacht.

»Wir wollten nur … wir wollten mit dir reden«, sagt Julia sanft.

»Tut mir leid, dass ich heute Morgen so unhöflich war. Ich war nicht … ich selbst.«

»Wir machen uns Sorgen um dich. Wir haben den Eindruck, du wärst …« Jules beißt sich auf die Lippe.

»… kurz vor einem Zusammenbruch«, ergänzt Madeleine.

Ich schließe die Augen und seufze. »Das ist kein Zusammenbruch. Es ist nur … Ich habe Scheiße gebaut. Wieder einmal.«

Coco gibt mir einen Schokokeks frisch aus dem Backofen. Süßes steht für Liebe, denke ich und lächle sie an. Sie lächelt zurück.

»Danke … Ich dachte, ich wäre eine neue, bessere Pia, aber das bin ich nicht. Alles, was ich anfasse, verwandelt sich in einen Haufen Scheiße.« Ich seufze. »Ich werde einfach meine Eltern anrufen. Ich schaffe es nicht allein. Ich kriege die Kohle nicht rechtzeitig zusammen.«

»Warum hast du deine Meinung geändert? Du warst doch die ganze Woche so zuversichtlich!«, sagt Coco.

»Ich weiß nicht.« Ich starre ins Leere und überlege. »Ich schätze, die Begegnung mit Eddie hat in mir die Erinnerung geweckt, wie ich mich damals gefühlt habe nach seiner Abfuhr …«

»Wer zum Teufel ist Eddie?«, fragt Julia.

»Ein Kerl, mit dem ich vor langer Zeit mal zusammen war. Ein Fehler. Genau wie das Date mit Aidan ein Fehler war und der Kredit ein Fehler war und das SchlankMobil ein gottverdammter Riesenfehler war«, sage ich. »Wollt ihr was Lustiges hören? Eddie hat mir an einem 26. August den Laufpass gegeben, was der Grund ist, warum ich mir an diesem Tag immer die Kante gebe. In diesem Jahr war das auf der Einweihungsparty, was dazu geführt hat, dass ich mit einer Flasche Captain Morgan am Hals auf dem Tisch getanzt habe, was mich meinen Job gekostet hat, was mir den Job im Bartolo’s verschafft hat, was mich auf den Flohmarkt geführt hat, was mich schließlich veranlasst hat, Toto zu kaufen und mir dafür von einem Kredithai Geld zu leihen. Das ist wie eine Kettenreaktion aus der Hölle. Der Eddie-Trauertag am 26. August ist der Grund, warum ich in diesem ganzen Chaos stecke.«

»Ich denke, da irrst du dich«, sagt Angie leise.

»Was?«

»Du irrst dich. Ich glaube, du trauerst am 26. August nicht, sondern du feierst diesen Tag. Das ist dir nur nicht bewusst, weil es dir ganz gut in den Kram passt, auf irgendeine selbstquälerische Art so zu tun, als wäre Eddie der perfekte Mann gewesen, der in deine Seele schauen konnte oder was zum Teufel auch immer er deiner Meinung nach getan hat, und erkannte, dass du keine Liebe verdienst. Aber das ist nicht wahr.« Sie zögert kurz. »Eddie war ein spießiger Kontrollfreak, Pia.«

»Was? Nein, war er nicht!«

»Er hat dir Lernstunden verordnet und den Plan jeden Abend aktualisiert.«

»Er hat mir geholfen, meine Noten zu verbessern!«

»Er hat dich im Skiurlaub die ganze Zeit von mir ferngehalten.«

»Er trinkt eben nicht gern.«

»Pia, er hat dir vorgeschrieben, was du anziehen sollst, er hat sichergestellt, dass du jede Entscheidung zuerst mit ihm besprichst, er hat versucht, dich rund um die Uhr zu kontrollieren! Wenn du mich fragst, war der einzige Grund, warum Eddie sich von dir getrennt hat, der, dass er wusste, es würde zu schwierig sein, dich weiter zu überwachen, wenn er nach Berkeley geht und du auf die Brown. Der Kerl war eine verdammte Nervensäge. Und er kannte dich kein kleines bisschen. Weil jeder, der dich wirklich kennt, nicht anders kann, als dich gernzuhaben, so wie du bist.«

Schweigen.

Und plötzlich weiß ich nicht, was ich sagen soll. Weil Angie recht hat. Es stimmt alles.

Und trotzdem …

»Ich war total von der Spur.« Ich klinge so unsicher, wie ich mich fühle. »Ich war total von der Spur, und Eddie hat mich zurückgebracht. Ich war der absolute Loser, ich war …«

»Du warst ein ganz normaler Teenager, Pia. Ein Teenager, der das Beste getan hat, um die Realität zu überleben, mehr nicht.« Angies Stimme bebt vor Intensität. Ich habe sie noch nie so erlebt. »Weißt du, was ich glaube, warum du dich so verhältst? Wegen deiner heimlichen Überzeugung, dass du kein Glück verdient hast. Du musst dir das mit dem Koks und dem Betrug und dem ganzen Mist verzeihen, Pia. Du hast es so tief verdrängt, dass ich wette, dass du dir nicht einmal erlaubst, daran zu denken, und trotzdem haben diese Schuldgefühle Einfluss auf alles, was du tust. Dabei interessiert es niemanden, was du angestellt hast, als du vierzehn warst.«

»Meine Eltern schon«, sage ich mit sehr leiser Stimme.

Angie seufzt. »Die interessieren sich mehr dafür, was du aus deinem restlichen Leben machst.«

Julia stößt ein Räuspern aus. »Äh … Verzeihung? Was für ein Koks?«

»Was für ein Betrug?«, fragt Madeleine.

»Und was genau war mit diesem Eddie?«, fragt Coco.

Zwei Stunden später habe ich mich ausgequatscht. Und zum ersten Mal seit Jahren fühle ich mich leicht.

»Das wird nie wieder vorkommen«, sage ich. »Keine Drogen mehr. Nie wieder. Versprochen.« Plötzlich wird mir richtig bewusst, was ich getan habe. »Ich kann nicht fassen, dass ich einen ganzen Tag mit dem SchlankMobil verloren habe. Ich habe nur noch gut zwei Wochen Zeit, um dreizehntausend Dollar zurückzahlen zu können.« Ich stoße ein hysterisches Lachen aus. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge. Das wird nicht klappen. Das schaffe ich nie.«

»Natürlich schaffst du das!«, sagt Coco.

Ich schüttle den Kopf. »Ich werde meine Eltern anrufen. Sie überreden, dass sie mir aus der Patsche helfen. Den Kredit zurückzahlen. Als Sekretärin arbeiten oder was zum Teufel sie sich auch immer für mich ausdenken. Die Idee mit dem Food Truck war einfach saudämlich.«

»Das reicht! Ich habe deine Einstellung verdammt satt!«, schreit Angie und springt so rasch auf, dass ihr Stuhl umkippt.

»Was?«

»Pia, ich kenne dich seit einundzwanzig verdammten Jahren, und ich habe dich noch nie so glücklich erlebt wie in den letzten paar Wochen. Darum entschuldige, wenn ich hier nicht länger sitze und mir deine erbärmlichen Ausreden anhören möchte darüber, dass du dich mit deinem Scheitern abgefunden hast, weil du es erst gar nicht versuchen willst. Du bist die Herrin deines eigenen Untergangs, Pia. Das warst du schon immer, und daran hat sich nichts geändert.«

Ich will etwas sagen, aber ich kann nicht sprechen. Ich starre sie einfach nur an, hilflos.

Angie marschiert zur Tür, dreht sich noch einmal um und sieht mich an. »Gib mir Bescheid, wenn du beschlossen hast, dich nicht mehr selbst zu bemitleiden. Ich helfe dir gern. Bis dahin bin ich erst mal weg.«

Sie verschwindet, und wenige Sekunden später höre ich die Haustür zuschlagen. Julia, Madeleine und Coco sehen so erschüttert aus, wie ich mich fühle.

»Sie hat recht«, sage ich schließlich. »Sie hat völlig recht.«

Julia sieht mich an. »Du solltest …«

Ich nicke. »Ja, ich weiß.«

Als ich die Haustür öffne, steht Angie unten an der Treppe und zündet sich eine Zigarette an.

»Angie!«, rufe ich und flitze die Stufen hinunter. »Angie, du hast recht. Ich weiß, dass du recht hast. Ich werde es versuchen. Das verspreche ich.«

Angie nimmt einen Zug von ihrer Zigarette, ohne mich anzusehen. »Tut mir leid, dass ich gerade die Nerven verloren habe. Das sieht mir überhaupt nicht ähnlich.«

»Nein, das war genau das Richtige.«

Angie grinst ironisch. »Genau darum sieht es mir ja überhaupt nicht ähnlich.«

»Danke«, sage ich.

»Müssen wir uns jetzt umarmen oder so was Unangenehmes?«

»Ja«, sage ich. »Müssen wir.«

Angie verdreht die Augen, aber wir nehmen uns in den Arm und drücken uns fest. Angie ist viel zarter als ich. Dabei denke ich immer, sie ist größer und breiter aufgrund ihrer Persönlichkeit, aber tatsächlich ist sie so dünn, dass ich ihre Rippen und Schulterblätter spüren kann. Sofort ist mein Beschützerinstinkt geweckt.

»Können wir jetzt mal über dich reden? Kannst du mir sagen, was mit dir los ist?«

»Scheiße, nein«, erwidert sie. »Im Moment ist sowieso alles gut. Ich bin in einer halben Stunde mit Ali verabredet. Bis später.« Sie winkt mir zu und schlendert davon.

Ich gehe wieder die Treppe hoch, als ich eine Stimme hinter mir höre.

»Pia!«

Ich drehe mich rasch um. Es ist … Bianca?

Was will die denn hier?

»Du bist okay«, sagt sie erleichtert. »Als heute keine Twitter-Meldungen von dir kamen, dachte ich schon …«

Plötzlich sehe ich, dass sie völlig von der Rolle ist: bleich, verstört, die Augen mit Wimperntusche verschmiert. Sie sieht die Straße rauf und runter und läuft rasch die Treppe zu mir hoch. Dann schiebt sie mich ins Haus, wo sie die Tür hinter uns schließt.

»Cosmo«, sagt sie. »Soviel ich weiß, hat er dir auch Geld geliehen. Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich auf ihn gebracht habe, Pia, wirklich …«

»Was?«

»Ich verschwinde«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Ich habe mir von ihm über achtzigtausend geliehen als Startkapital für meinen Truck. Ursprünglich wollte ich nur selbst gemachte Kuchen anbieten, ich schwöre, aber dann hörte ich von deiner Idee mit der kohlenhydratarmen und proteinreichen Ernährung. Ich wusste, dass das funktioniert, also habe ich dich kopiert. Egal, jedenfalls bin ich bereits eine Rate im Rückstand, und ich kann nicht … ich kann Cosmo nicht mehr unter die Augen treten. Meine Umsätze sind nicht so hoch, wie ich erwartet habe, und Cosmo hat bereits die Zinsen erhöht, und dann hat er … Ich werde nie …« Sie schluckt nervös, unfähig, die Worte herauszubringen.

»Hat er dir was getan?«, sage ich schließlich. »Nicky? War es Nicky?«

»Nicky? Nicky ist der nette Junge«, entgegnet sie und nimmt mit zitternden Händen eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Umhängetasche.

Bianca ist nicht durcheinander, sie hat Angst, eine Riesenangst.

»Wo willst du hin?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich wollte dir nur sagen, dass du vorsichtig sein sollst. Jonah hat mir erzählt, dass du dir auch Geld von Cosmo geliehen hast. Verpass bloß keine Rate, nimm dich vor Cosmo in Acht, und lass ihn vor allem nicht in euer Haus. Okay?«

»Okay«, sage ich.

»Versprich es mir!«, sagt sie. »Cosmo ist nicht das, was er zu sein scheint. Gib einfach Nicky immer pünktlich das Geld und bring es schnell hinter dich, damit du ihn loswirst.«

»Ich verspreche es«, sage ich. »Sorry, aber warum erzählst du mir das eigentlich alles? Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, warst du nicht gerade mein größter Fan.« Ich zögere kurz. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du in jener Nacht meinen Truck demoliert hast.«

Bianca seufzt. »Ich habe nicht so viele … Freundinnen. Das ist halt so. Und ja, das mit dem Truck war ich. Es tut mir auch nicht leid, das war die Rache für die Eunuchen. Aber dass ich verantwortlich dafür bin … so einen … so etwas in dein Leben zu bringen …« Sie fröstelt. »Ich musste dich einfach warnen.«

Und damit öffnet sie die Haustür, nimmt zwei Stufen auf einmal die Treppe hinunter und springt in ein wartendes Taxi.

Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.

Ich muss härter schuften, als je ein Mensch zuvor es getan hat.