21
Ich greife nach meinem Glas und leere es in einem Zug.
Dann gieße ich mir das nächste ein und leere es auch in einem Zug.
»Wo ist die Kellnerin? Haben die hier Wodka?«
»Alles in Ordnung?«, fragt Aidan stirnrunzelnd.
»Ja. Kann ich mir noch ein Getränk bestellen?«
»Natürlich … Und Sie sind sich wirklich sicher, dass alles in Ordnung ist? Sie machen nicht den Eindruck …«
»Es geht mir gut!«, unterbreche ich ihn. »Lassen Sie uns noch was zu trinken bestellen!«
Während der nächsten zwanzig Minuten konzentriere ich mich darauf, wie Aidans Lippen sich bewegen, nicke, wenn er eine Pause macht, und lache, wenn er lächelt. Aber allmählich hört er auf zu lächeln.
»Hören Sie, gibt es etwas, das Sie bedrückt?«, fragt er. »Habe ich etwas Falsches gesagt, oder …«
Ich leere mein drittes Glas Wein. »Quatsch! Locker bleiben, hahaha … Nein, nein, es ist alles in Ordnung.« Ich stehe rasch auf, wobei ich versehentlich gegen den Tisch stoße. Alles wackelt, aber es fällt nichts herunter. »Puh!«, sage ich. »Wenn Sie mich kurz entschuldigen, ich gehe mal … für kleine Mädchen.«
Aidan steht höflicherweise auf – wirklich gute Manieren –, aber ich nehme ihn nicht einmal richtig wahr. Alles, was ich denken kann, ist: Eddie. O mein Gott, Eddie.
Obwohl unsere letzte Begegnung schon eine Ewigkeit her ist und ich ihn nur von der Seite sehe, habe ich Eddie sofort erkannt. Wie kann einem jemand noch so vertraut sein nach einer Trennung, die so lange her ist? Und warum, warum, warum flippe ich bei seinem Anblick direkt aus? Ich bin über ihn hinweg! Ich bin hundertprozentig über ihn hinweg.
Ich bahne mir einen Weg durch die Tische auf der Außenterrasse, bemüht, nirgendwo anzustoßen. Eddies Tisch ist ganz vorn, direkt an der Hauswand. Während ich die Treppe hochgehe, sehe ich zu ihm hinunter. Eddie sitzt mit dem Rücken zu mir, aber er ist es, er ist es definitiv. Er ist in Begleitung einer schlanken Frau mit honigblonden Haaren, ihnen gegenüber sitzt ein elegant aussehendes älteres Paar. Ihre Eltern, nehme ich an. Oben auf dem Treppenabsatz verharre ich kurz. Eddie macht gerade eine Bemerkung, und der ganze Tisch lacht. Ich stolpere blindlings in das Restaurant, wobei ich fast eine Kellnerin umrenne.
»Toilette? Wo … finde ich … bitte?«, frage ich, unfähig, einen halbwegs vollständigen Satz zu bilden.
Die Kellnerin deutet auf eine Tür gegenüber der Küche, und ich stürme halb im Laufschritt darauf zu. In der Kabine klappe ich mit dem Fuß den Klodeckel herunter und setze mich darauf. Mein Atem geht schwer und unregelmäßig.
Eddie.
Eddie und ich waren fast zwei Jahre ein Paar. Es ist nicht nur mein Verstand, der sich an ihn erinnert, es ist mein ganzer Körper. Ich weiß noch genau, wie sich sein Kinn an meinen Lippen anfühlt, wie sich seine Finger anfühlen, wenn sie mit meinen verschlungen sind. Ich weiß, dass Eddie sich insgeheim immer noch vor Graf Zahl aus der Sesamstraße fürchtet und dass er die Dialoge von Toy Story auswendig kann – vom Anfang bis zum Ende. Ich weiß, wie seine Stimme klingt, wenn er als Erstes morgens »Keller« knurrt, und ich weiß, dass er das Internat hasste, bis er mich kennenlernte, obwohl er zu den beliebtesten Jungs zählte. Ich weiß das alles.
Ich weiß auch, dass er log, als er mir sagte, dass ich seine Traumfrau sei und dass er mich liebe und dass ich es hätte kommen sehen müssen.
Ich blicke auf meine Hände. Sie zittern.
Scheiße, ich habe meine Handtasche mit meinem Handy am Tisch zurückgelassen. Jetzt kann ich nicht einmal jemandem simsen. Angie würde wissen, was zu tun ist … oder eventuell sogar Julia. Und Coco würde mir ihre moralische Unterstützung anbieten. Madeleine … Ach, weiß der Geier, wie sie reagieren würde.
Ich wasche mir die Hände am Waschbecken und starre in den Spiegel. »Reiß dich zusammen, Pia.« Ich versuche, so streng wie möglich zu klingen. »Hör auf, so ein verdammter Loser zu sein.«
Gute Motivationsansprache.
Ich verlasse die Toilette und durchquere das Restaurant in Richtung Außenterrasse. Und dann, als ich die Treppe erreiche, steht er da. Eddie. Direkt vor mir.
Ich versuche zu sprechen, aber es kommt kein Ton heraus. Meine Stimme ist weg.
Eddie klappt vor Schreck das Kinn herunter. »Pia!«
Ich stütze mich am Geländer ab und versuche, eine coole Gelassenheit an den Tag zu legen, die ich nicht empfinde, das Gesicht verziehe ich zu einem fröhlichen, überraschten Lächeln. Aber mein Herz hat gerade ungefähr vier Takte lang ausgesetzt, meine Hände zittern so sehr, dass ich sie auf dem Rücken verstecken muss, und ich habe das Gefühl zu ersticken. O Gott, bitte nicht, keine Panikattacke, nicht jetzt …
»Was machst du denn hier?«, fragt Eddie. »Du hier, ausgerechnet in Brooklyn?«
»Ich … bin hier zum Essen …«, bringe ich heraus. »Und du?«
»Äh … ich auch, mit Josephina, meiner … und ihren Eltern.«
»T-t-t-toll«, sage ich.
Ich spüre einen winzigen Muskel in meiner Wange zucken, während ich lächle, sodass meine Unterlippe leicht zu beben beginnt. Ich sehe, dass sein Gesichtsausdruck sich plötzlich ändert und sein selbstsicheres Siegerlächeln fällt.
»Gott, Keller …«, sagt er, steigt die letzten paar Stufen zu mir hoch und streckt die Hand nach meinem Arm aus.
Ich weiche instinktiv zurück, bevor es zu einem Körperkontakt kommen kann, und drängle mich an ihm vorbei die Treppe hinunter.
Unten drehe ich mich um und schaue hoch. Eddie starrt mich wie versteinert an, aber ich kann sein Gesicht nicht deuten. Er wirkt … Bestürzt? Verwirrt?
»War nett … dich mal wiederzusehen«, sage ich leise und nicke dabei eifrig im Bemühen, die Worte herauszubekommen.
Bevor er etwas erwidern kann, drehe ich mich wieder um und eile zurück zu Aidan. Ich schnappe mir mein Weinglas, bevor ich mich überhaupt hingesetzt habe, und trinke gierig. Verfluchte Scheiße, was für ein Albtraum.
Aidan beobachtet mich mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge.
»Möchten Sie mir erzählen, was los ist?«
»Nein«, sage ich. »Kommen Sie, betrinken wir uns lieber.«
»Nein«, erwidert Aidan. »Genießen wir einfach wieder den Abend.«
Die Unterhaltung plätschert so vor sich hin. Ich trinke, so schnell ich kann, ohne zu wissen, was ich sagen soll. Es ist zu schwierig, wird mir bewusst, während ich Aidan anschaue. Ich kann das nicht. Ich möchte es erst gar nicht versuchen. Ich möchte kein Risiko mehr eingehen.
»Pia, was ist los?«, fragt Aidan. »Ich dachte eigentlich, der Abend liefe ganz gut, aber …«
»Na ja, das dachte ich auch, aber ich täusche mich immer, in allem«, unterbreche ich ihn. »Sie machen den Eindruck, ein netter Kerl zu sein, aber wahrscheinlich sind Sie das gar nicht. Sie sind bestimmt nur aus Langeweile hier, oder weil Sie mich falsch einschätzen, weil Sie nur auf eine schnelle Nummer aus sind und ich so aussehe, als wäre ich dafür zu haben.«
»Das ist lächerlich«, entgegnet Aidan scharf, und sein Gesicht verfinstert sich.
»Ach ja?«, sage ich. »Es ist die Wahrheit. So sind die Menschen nun einmal. So ist das Leben.«
»So ist das Leben? Ich denke …«
»Es ist mir egal, was Sie denken. Wir sind hier fertig«, falle ich ihm ins Wort.
»Gut«, blafft er.
Aidan verlangt die Rechnung, und wir warten schweigend, derweil ich den restlichen Wein austrinke. Als die Rechnung schließlich kommt, hindert er mich am Bezahlen. Ich werfe ihm einfach die Hälfte der Summe in bar hin und stürme aus dem Restaurant.
Als ich auf der Straße stehe, atme ich tief die frische Luft ein.
»Dann war’s das also?«, höre ich eine Stimme. Ich drehe mich um, Aidan steht hinter mir. »Ich begegne Ihnen auf der Court Street, und Sie gehen mir tagelang nicht mehr aus dem Kopf.« Er erinnert sich an unsere erste Begegnung? Das hätte ich nicht gedacht … »Dann führt das Schicksal uns auf einem Taxirücksitz wieder zusammen – gleich zweimal! –, und wir verbringen einen halben wunderbaren Abend miteinander, bis Sie aus heiterem Himmel beschließen, sich die verdammte Mühe zu sparen, um zu sehen, was als Nächstes passiert. Feiner Zug, Pia.«
»Wagen Sie es nicht, mich anzuschreien!«
»Und warum nicht? Sie schreien mich doch auch an!«
»Sie kennen mich nicht! So können Sie nicht mit mir umspringen!«
»Doch, ich kenne Sie«, widerspricht er mit wutverzerrtem Gesicht. »Sie fühlen sich überall fehl am Platz, obwohl Sie schnell mit den Leuten warm werden. Sie verreisen gern, aber Sie fühlen sich nirgendwo zu Hause. Sie genießen es dazuzugehören, möchten aber gleichzeitig unabhängig sein.«
»Hören Sie auf, mich zu analysieren!«, schreie ich.
»Ich kenne Sie, weil Sie so sind wie ich!«, schreit er zurück.
Zufällig kommt in diesem Moment ein Taxi vorbei, also rufe ich »Taxi!«, und es hält mit quietschenden Reifen. Ich steige ein und ziehe die Tür zu, bevor Aidan mich aufhalten kann.
»Wohin?«, fragt der Fahrer.
»Manhattan«, antworte ich, ohne Aidan noch einmal anzusehen, der, das spüre ich, wie angewurzelt dasteht und mich anstarrt.
»Wohin genau?«
»Das sage ich Ihnen unterwegs. Bringen Sie mich einfach bloß schnell weg aus Brooklyn.«
Ich tippe hektisch eine SMS an Angie. Hilfe, Hilfe, Hilfe, EDDIE
Sie ruft sofort an.
»Was zum Teufel ist los?«
»Er war im Restaurant, und ich bin ausgeflippt«, sage ich.
»Was ist mit dem Engländer?«
»Ich habe ihn stehen lassen.«
»Komm zu uns«, sagt sie. »Hier wartet ein Wodka auf dich, der so groß ist wie Maine.«
»Adresse?«
»Wir sind im West Village. Fahr zur Grove Street, Ecke Bleecker, und dann meldest du dich wieder.«
»Okay.«
Wir sind noch nicht einmal auf der Brooklyn Bridge. Ich schließe die Augen und befehle dem Taxifahrer stumm, aufs Gas zu drücken. Ich habe Lust auf Champagner, Wodka, Tequila, eine Zigarette, einen Joint, zum ersten Mal seit meinem Schulverweis sogar auf eine verdammte Line … egal, was, Hauptsache, dieses schreckliche Gefühl geht weg.
Ich bin es leid zu arbeiten. Ich bin es leid, mir Sorgen zu machen. Ich bin es leid, Risiken einzugehen. Bei mir klappt sowieso nichts. Ich habe nicht einmal mehr Lust, ich zu sein.