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»Pia Keller?«
Ich stehe auf und setze mein »Hallo! Ich bin absolut geeignet«-Lächeln auf, das ich in meinen vorherigen vierzehn Bewerbungsgesprächen perfektioniert habe.
Bridget, die Personalberaterin, die sich widerwillig bereit erklärt hat, mit mir »Möglichkeiten durchzusprechen«, lächelt dünn und bietet mir eine knochenlose Hand an. Meine Mutter beurteilt Frauen nach ihren Schuhen, aber ich habe in der vergangenen Woche gelernt, Frauen nach ihrem Händedruck zu beurteilen. Ein schlaffer Händedruck ist kein gutes Zeichen.
Ich folge Bridget aus dem Empfangsbereich durch einen schmalen Flur zu einem kleinen Sitzungsraum. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich mich umdrehen und wieder gehen soll. Ich weiß genau, was gleich passieren wird, und ich kann es fast nicht ertragen, das noch mal durchzumachen. Aber ich brauche einen Job. Die Rechnung für Vics Küchendecke belief sich auf gut zweitausend Dollar, die ich mir mit Angie geteilt habe (sie bestand darauf, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass die Überschwemmung tatsächlich von ihr und Lord Hugh verursacht wurde – der Installateur meinte, dass das Abflussrohr mit Zigarettenkippen verstopft gewesen sei), und in den vergangenen zehn Tagen habe ich meine letzten fünfhundert Dollar verbraucht, nur für Essen und die U-Bahn und Feinstrumpfhosen und Tampons und Shampoo – ihr wisst schon, lebensnotwendiges Zeugs eben. Es ist leider genauso offensichtlich wie schmerzhaft, aber New York City ist eine teure Stadt. In dieser Sekunde habe ich noch genau acht Dollar im Portemonnaie. Und auf meinem Girokonto ist nichts mehr übrig. Null.
Also ist Abhauen keine Option.
»Nehmen Sie Platz.« Bridget zieht ein kleines Fläschchen mit Desinfektionsschaum aus ihrer Blazertasche, drückt einen Schaumklecks heraus und verreibt ihn zwischen ihren Handflächen. »Erzählen Sie mal ein bisschen von sich.«
»Na ja …« Ich versuche, einen selbstsicheren Eindruck zu machen, statt eines bankrotten und verzweifelten. »Äh … mein Name ist Pia Keller, ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und habe Kunstgeschichte studiert, an der Brown …«
»Warum Kunstgeschichte?«
»Mir gefällt die Art, wie Kunst das politisch-soziale Klima reflektiert in der Zeit ihrer Entstehung«, antworte ich. Das klingt gut, nicht? »Leider sind die beruflichen Möglichkeiten nach diesem Studium stark eingeschränkt, außer man will Kunsthistoriker werden.«
Ich lächle. Bridget nicht. Sie lächeln nie. Ich sollte diesen Satz wirklich weglassen.
»Was ist mit Praktika?«
»Äh … meine Eltern wohnen in Übersee. Da wir uns sehr nahestehen, habe ich die Semesterferien immer bei ihnen verbracht und hatte so kaum Gelegenheit, ein Praktikum zu machen.«
Wie man sich denken kann, ist das nicht die ganze Wahrheit. Ich wusste einfach nie, was für ein Praktikum ich machen sollte, und Angie hatte immer gute Pläne, also schloss ich mich lieber ihr an.
»Und nun möchten Sie in der PR-Branche arbeiten. Warum?«
»Weil mich die Arbeit fasziniert! Ich möchte helfen, die Menschen durch das richtige Medium gezielt zu informieren. Ich …« Ich unterbreche mich und versuche mich zu erinnern, warum ich die PR-Branche einmal spannend fand. Weil es aufregend klang und ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte? »Ich möchte die Firmen unterstützen, das richtige Image zu entwickeln, und ich möchte Events organisieren, die auf dem Markt für Aufsehen sorgen werden und die moderne Gesellschaft verändern.«
Oh, Pia. Du Spatzenhirn. Das war erbärmlich.
»Hier ist mein Problem, Pia.« Bridget faltet die Hände, als würde sie beten. »Sie sind noch sehr jung. Sie haben keine fachrelevanten Qualifikationen. Sie haben keine praktische Berufserfahrung. Sie haben keine Vorkenntnisse. Sie sind im Grunde unvermittelbar.«
»Aber …«
»Warum sollte Ihnen jemand ein Monatsgehalt zahlen, wenn Sie dem Unternehmen nicht helfen können, Geld zu verdienen? Ganz zu schweigen von der Zeit und dem Personalaufwand, die für Ihre Einarbeitung notwendig sind. Und das alles, ohne vorher zu wissen, ob Sie es wert sind.« Sie hebt die Hände hoch, die Handflächen nach oben, als würde sie prüfen, ob es regnet. »Keine Berufserfahrung, kein Job.«
Jedes einzelne Vorstellungsgespräch, das ich bis jetzt hatte, endete genau an diesem Punkt. »Aber ich kann keine Berufserfahrung sammeln, solange ich keinen Job habe!« Es gelingt mir nicht, den panischen Unterton in meiner Stimme zu unterdrücken. »Was soll ich denn machen?«
Bridget lächelt süffisant. Manche Menschen haben Spaß daran, anderen Menschen mitzuteilen, dass sie gearscht sind, ist euch das auch schon mal aufgefallen?
»Die PR-Branche ist knallhart. Genau wie die Werbung, das Marketing, die digitalen Medien es sind. Nur die Besten und Klügsten dürfen dort mitmischen.«
»Ich also nicht«, sage ich, um ein Lächeln zu bekommen.
Bridget steht auf, Todesverachtung auf den Gesichtszügen. »Bevor Sie gehen … wir pflegen hier ein kleines Ritual. Jeder Bewerber stellt sich in einem kurzen Videoporträt vor, unabhängig davon, wie aussichtslos seine Chancen sind.«
»Einem … was?« Aussichtslos? Blöde Kuh.
»Einem Videoporträt. Für unsere Akten«, sagt sie und führt mich in ein Großraumbüro. Sie klatscht in die Hände, um die Kollegen auf sich aufmerksam zu machen. »Alle mal herhören! Das ist Pia. Dave, dein Part!«
Ein Kerl mit zu viel Gel in den Haaren richtet eine Digitalkamera auf mich. »Wer sind Sie? Und was suchen Sie?«
Alle im Raum starren mich mit Gesichtern, die von desinteressiert bis gleichgültig variieren, an. Helle Panik übermannt mich. Ich hasse es, vor Publikum zu sprechen. Selbst wenn meine Stimme mitspielt. In diesem Moment hasse ich mich auch noch dafür, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Ich fühle mich wie eine Dumpfbacke.
Ich kann das nicht.
»Los!«, sagt Dave.
»Mein Name ist …«, beginne ich.
Meine Stimme versiegt. Mein Kopf pocht heftig, während Daves Worte darin widerhallen. Wer sind Sie? Und was suchen Sie?
»Lauter!«, ruft Bridget.
Ich räuspere mich kurz und beginne haspelnd wieder von vorn. »Mein … Name ist Pia Keller. Ich bin … zweiundzwanzig Jahre alt.« Alle sehen mich an, alle halten mich für doof, ich weiß das. Dabei möchte ich einen schlauen Eindruck machen, ich möchte, dass sie sich an mich erinnern – o Gott, dieser Druck. »Und ich suche einen Job … Ich meine, ich suche einen Beruf … den … ich … lieben kann.« Wie kann man so einen Stuss von sich geben, Pia! »Das ist das, was ich … Das ist, was … Ich bin … ja.«
Halt einfach die Klappe, Pia.
Dave lehnt sich zurück und macht ein »Oje!«-Gesicht. Er scheint anzunehmen, dass ich sehbehindert bin. Ein nervenzermürbender Moment des Schweigens. Ich schäme mich so sehr, dass es wehtut.
Sekunden später wenden sich alle wieder ihren Laptops zu. Ich bin weg, vergessen, eine belanglose Unterbrechung in ihrem Arbeitsalltag. Wieder so ein Frischling von der Uni, der keinen zusammenhängenden Satz herausbringt.
Vor dem Aufzug reicht Bridget mir ihre knochenlose Hand.
Ich versuche zu lächeln.
Ich werde nie einen Job bekommen.
Ich werde nie Geld verdienen.
Ich werde nie in der Lage sein, die Miete für mein Zimmer zu bezahlen.
Nicht, dass es von Belang wäre, weil ja schließlich meine Eltern hier auftauchen und mich zwingen werden, mit ihnen nach Zürich zu gehen und in einem stinklangweiligen Job zu arbeiten. Ich werde für immer allein sein, für den Rest meines Lebens.
Als die Aufzugtür sich schließt, habe ich plötzlich das Gefühl, als würde die Luft aus der Kabine entweichen. Ich sinke gegen die Wand und fange an zu hecheln – o Gott, bitte nicht, bitte keine Attacke, keine Panikattacke, nicht jetzt. Aber mein Magen zieht sich zusammen, und mein Gesicht fängt an zu kribbeln, und plötzlich weiß ich ganz genau, was in den nächsten drei Sekunden passieren wird.
Ich muss mich gleich übergeben.
Ich drücke sämtliche Knöpfe, und der Aufzug hält mit einem Ruck im vierten Stock. Ich stürze hinaus und halte verzweifelt nach einem WC-Schild Ausschau. Wo sind die Toiletten? O verdammter Mist, ich werde mich gleich übergeben, ich weiß es, ich weiß es …
Einen Sekundenbruchteil später lasse ich mich auf die Knie fallen und erbreche mich in einen leeren Schirmständer am Eingang eines Büroflurs. Es ist ein säuerlicher, wässriger Schwall, den ich nicht kontrollieren kann, und als alles heraus ist, wische ich mir mit dem Ärmel meiner Jacke den Mund ab und lehne die Stirn an die Wand. Erleichtert atme ich auf.
Angstkotzen nennt man das, nicht? Wenigstens war es keine ausgereifte Panikattacke. Ich hatte schon seit ein paar Jahren keine mehr, nicht einmal eine halbe, seit … Richtig, ihr ahnt es bereits, seit jenem 26. August.
Ich werfe einen Blick zurück auf meinen Kotzeimer. Ich kann ihn nicht so stehen lassen, sonst muss ihn irgendwer saubermachen. Und das ist ekelhaft.
Fünf Minuten später marschiere ich so selbstsicher wie möglich hinaus auf den Broadway, einen geklauten Schirmständer mit Erbrochenem unter dem Arm.
Wieder so ein unglaublich erfolgreiches Vorstellungsgespräch. Ein Hoch auf mich. Gut gemacht!
Wie immer, wenn ich in Manhattan bin, schaue ich unwillkürlich an den Wolkenkratzern hoch. Habe ich schon erwähnt, dass ich große Städte liebe, und New York am meisten?
Wirklich. Ich liebe die Menschen, den Verkehr, den Lärm, die Kneipen und Restaurants, dieses fast unbeschreibliche, vielbeschworene Pulsieren … Ich liebe es zu wissen, dass hier immer was los ist, an jeder Ecke. Ich bin in New York geboren, aber wir sind weggezogen, als ich vier war. Darum hatte ich nie die Chance, mir die Stadt zu eigen zu machen so wie die Menschen, die hier aufgewachsen sind. Ich bin an keinem Ort wirklich heimisch geworden, ich gehöre nirgendwohin.
Ich gehe den Broadway entlang und beobachte die Menschen, die an mir vorübereilen, mit ihren coolen Gesichtern und beschäftigten Mienen. Warum machen alle anderen so einen gelassenen Eindruck? Was unterscheidet sie so sehr von mir? Alles, was ich spüre, ist Panik, ein Flattern in der Brust bei dem Gedanken, dass ich vielleicht nicht zu dem fähig bin, was allen anderen offenbar so leichtfällt …
Vielleicht sollte ich mir erst einmal überlegen, wie ich mir mein Leben überhaupt vorstelle, denke ich und entsorge den gestohlenen Schirmständer mitsamt seinem Inhalt in einem Mülleimer. Positives Denken, richtig?
Ich möchte hart arbeiten und in meinem Beruf aufgehen, möchte richtig gut darin sein. Wirklich. Ich möchte mein eigenes Geld verdienen. Ich möchte ein eigenes Zuhause haben (begehbarer Kleiderschrank ist ein Muss!), das mir keiner wegnehmen kann, und ich möchte meine Freundinnen für immer behalten. Oh, und ich möchte tolle Männer kennenlernen und eines Tages heiraten und Kinder bekommen und so weiter und so fort.
Wie komme ich denn jetzt darauf? Ich bin arbeitslos, mittellos und vollgekotzt.
Ich wünschte, ich könnte mal eben schnell vorspulen.
Mit einem schweren Seufzen mache ich mich zu Fuß auf den Weg zurück nach Brooklyn. Ein Taxi kann ich mir nicht leisten, und für die U-Bahn ist es zu heiß. Schon nach der Canal Street habe ich die ersten Blasen an den Füßen, also kaufe ich mir ein Paar Flipflops für drei Dollar und binde meine hochhackigen Sandalen an den Henkel meiner Handtasche. Nun habe ich noch genau fünf Dollar übrig. Was kriege ich für fünf Dollar? Das war’s. Es ist vorbei.
Als mein Magen zu knurren beginnt, kaufe ich einen griechischen Joghurt und einen Proteinriegel. Sinnlos, Cookies zu kaufen. Ein Zuckerschock würde meinen Tag nicht besser machen.
Kein Geld. Ich sollte einfach meine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass ich sofort zurückkomme.
Als ich an dem Kriegsdenkmal in Brooklyn vorbeikomme, sehe ich auf der anderen Straßenseite eine alte, obdachlose Frau. Trotz der Hitze trägt sie mehrere Kleiderschichten übereinander, um ihre Füße sind Kartons gebunden. Ich wette, sie hat ganz schlimme Blasen an den Füßen, denke ich, während ich sie beobachte. Vielleicht sollte ich ihr meine Flipflops schenken. Ich bin fast zu Hause – warum nicht den restlichen Weg barfuß gehen?
Unsere Blicke treffen sich, und ich schenke ihr ein Lächeln. Und einen Augenblick lang denke ich, sie wird es erwidern.
Dann öffnet sie den Mund. »DU!«, kreischt sie los. »VERPISS DICH! AB NACH HAUSE! DU BIST HIER NICHT WILLKOMMEN!«
Ich wende sofort den Blick ab und gehe weiter, aber schaue dann verstohlen zurück. Die Frau bewegt sich in meine Richtung. Ich beschleunige meine Schritte und höre ihr schrilles Lachen.
»ICH KOMME! ICH KOMME! LAUF SCHNELL WEG!«
Ich spurte los und drängle mich zwischen den Leuten durch, aber niemand macht mir Platz, ich werde nicht einmal wahrgenommen. Eine Frau rempelt mich an und stößt mir ihren Ellenbogen ziemlich hart in die Brust. Vor Schmerz keuche ich auf und fange an, unkontrolliert zu schluchzen. Große, dicke Tränen kullern über mein Gesicht, und ich ringe nach Luft. Ich bin durcheinander und verzweifelt und habe soeben mein fünfzehntes Vorstellungsgespräch vermasselt, und ich weiß nicht, was als Nächstes kommt.
Ich überquere die Atlantic Avenue, bleibe dann kurz stehen, um zu Atem zu kommen und mir das Gesicht abzuwischen. Ich fühle mich, als würde ich am Rand eines Abgrunds stehen. Soll ich mich umdrehen, oder soll ich springen?
Ein Taxi hält neben mir. Ein Mann im Anzug steigt aus, und er sieht so dermaßen gut aus, dass ich augenblicklich aus meinem Elend gerissen werde. Gebräunte Haut, braune Haare, die blauesten Augen, die ich je gesehen habe … Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre ihn an. Er stutzt, und unsere Blicke treffen sich. Ich fühle tatsächlich mein Herz schlagen.
Dann schenkt der Fremde mir ein langsames, lässiges Lächeln, und ich lächle zurück, während ich denke, du bist perfekt. Und dabei habe ich so ein merkwürdiges Déjà-vu-Gefühl, als wäre ich ihm schon einmal begegnet, als würde ich ihn kennen.
Und ja, ich gebe zu, das klingt ziemlich abgedroschen.
»Hi«, sagt er mit brüchiger Stimme.
Es klingt so seltsam, dass wir beide lachen müssen.
In diesem Moment löst sich ein Schuh von meiner Handtasche und fällt auf den Boden. Der Unbekannte bückt sich sofort danach, hebt ihn auf und streckt ihn mir entgegen. Am liebsten würde ich jetzt den Aschenputtel-Spruch zitieren, aber meine Stimme ist schon wieder weg. Also nehme ich den Schuh und sage nichts.
Mein Kavalier steht auf, fährt sich geistesabwesend durch die Haare und öffnet gerade den Mund, um etwas zu sagen, als …
»Herrgott, kannst du mir vielleicht mal helfen?«, höre ich eine weibliche Stimme mit englischem Akzent, und zupp, der Bann ist gebrochen.
Der schöne Mann wendet sich sofort von mir ab, um seiner Freundin aus dem Taxi zu helfen: einer Frau, die genauso umwerfend aussieht wie er, in Röhrenjeans, Seidentop, Stilettos, wehendem Chiffonschal und auf diese lässig-chaotische Londoner Art mit Tüten bepackt.
Als ich sie sehe, senke ich den Kopf und gehe sofort weiter. Dem Drang, mich noch einmal umzudrehen, um mich zu vergewissern, ob er mir nachschaut, widerstehe ich. Ich kann ihre Stimme hören, die in der Straße widerhallt, bevor sie die Sweet Melissa Pâtisserie betreten. »Und weißt du, ich fragte, warum, und – ooh! Waffeln! Himmlisch! – und er sagte, hör zu, Schatz, du hast von Anfang an gewusst, dass es so laufen wird …«
Und dann sind sie weg. Der perfekte Mann … und seine perfekte Freundin. Ich bin immer noch im Endorphinrausch, weil wir uns angelächelt haben. Ist das seltsam? Wahrscheinlich schon. Und vor allem oberflächlich nach meiner kleinen Endzeitstimmung ein paar Minuten zuvor.
Gleich darauf nehme ich in einem Schaufenster mein Spiegelbild wahr und stoße ein Wimmern aus: Ich bin vollgekleckert, verschwitzt und verschmiert mit Wimperntusche. Bah. Warum muss ich immer dann einem Traummann begegnen, wenn ich aussehe wie eine Kanalratte nach einem Kampf um Leben und Tod?
Egal, ich bin ohnehin nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert. Nicht mehr seit meinem Absturz wegen Eddie. Selbst meine flüchtigen Abenteuer haben die Tendenz, mich in den Arsch zu beißen. Ich habe seit jenem Sonntag drei SMS und zwei Anrufe von Mike ignoriert. Wenigstens hat Madeleine nichts davon mitbekommen. Noch nicht.
»Ach, wenn das mal nicht die kleine Miss ›Ich bin ein Ganzes‹ ist«, höre ich eine Stimme.
Ich hebe den Kopf. Es ist Vic, der verschrumpelte alte Mann, der im Erdgeschoss wohnt.
»Hi! Ich meine, guten Tag! Mr. … äh …«
»Vittorio Bartolo«, sagt er mit einer schwungvollen Handbewegung. »Nennen Sie mich Vic.«
»Ich bin Pia … Pia Keller. Und ich möchte mich nochmals entschuldigen wegen Ihrer Küchendecke.« Ich habe ihn seit jenem Sonntagmorgen nicht mehr gesehen: Julia hat die Vermittlerrolle übernommen. »Ist sie jetzt wieder … äh … in Ordnung?«
»Ja, wie neu. Danke.« Er grinst, was witzig aussieht, weil er so viele tiefe Furchen im Gesicht hat. Plötzlich habe ich aber den Eindruck, er findet das Ganze wirklich lustig. »Verzeihen Sie mir, dass ich Sie neulich etwas Halbes genannt habe. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Das haben Sie nicht. Wie geht es Ihrer Schwester?«
»Marie geht es gut«, antwortet er. »Sie ist in New Jersey bei ihren Enkelkindern. Sie verbringt immer die halbe Woche dort unten und die andere Hälfte bei mir. Das gibt ihr das Gefühl, beliebt zu sein. Und, verraten Sie mir, warum Sie so schnaufen, als wollten Sie das Haus umblasen? … Oh, hoppla, Verzeihung. Falsche Wortwahl.«
»Ha«, sage ich. Er scheint ein richtiger Komiker zu sein. »Äh … ich meine, ich brauche einen Job. Ich muss Geld verdienen.«
»Willkommen in New York«, erwidert er in liebenswürdigem Ton. »Das ist kein Grund zum Weinen. Bleiben Sie einfach am Ball. Die Zukunft wartet auf Sie.«
»Aber wenn ich es nicht schaffe, muss ich gehen. Mein Leben in New York wird vorbei sein, bevor es richtig begonnen hat.«
»Nichts für ungut, aber so wie ich das sehe, sind die einzigen Leute auf dieser Welt, die Geld verdienen, die Unternehmer«, sagt er. »Denken Sie sich eine Geschäftsidee aus, setzen Sie sie um, verkaufen Sie sie weiter.«
»Das klingt machbar … bis auf die Sache mit dem Weiterverkaufen. Und bis auf die Sache mit der Umsetzung. Oh, und bis auf die Sache mit der Geschäftsidee.«
Vic bricht in ein pfeifendes Lachen aus. Einen Augenblick lang habe ich Angst, seine Lunge könnte kollabieren.
»Tatsächlich habe ich schon mal versucht, ein Geschäft aufzuziehen, als ich vierzehn war«, sage ich. Das fällt mir auf einmal wieder ein. »Ich habe gebrauchte Jeans billig bei ebay ersteigert, zu ausgefransten Shorts umgearbeitet und als Einzelstücke im Retro-Design auf Etsy verkauft.«
»Ich habe kein Wort verstanden.«
»Ja, das hat niemand. Die Idee war nicht so toll. Ich bin nur ungefähr die Hälfte losgeworden.« Ich seufze bei der Erinnerung an die alten, abgeschnittenen Jeans, die monatelang zu Dutzenden aus sämtlichen Kommodenschubladen in meinem Zimmer quollen. Angie wollte mir ursprünglich helfen, die Shorts individuell zu gestalten, aber sie versetzte mich in jenem Sommer. »Und mit elf habe ich versucht, einen Kinderclub zu gründen. Wir waren im Urlaub in Südfrankreich, und ich hatte die Idee, Freizeitaktivitäten für die jüngeren Kinder zu organisieren, die auch mit ihren Eltern dort waren … Eine Art Partyveranstalterin. Aber die Eltern der anderen hatten Bedenken, mir die Verantwortung für ihre Kinder zu übertragen, wissen Sie? Darum ist nichts daraus geworden.«
»Nun, klingt trotzdem wie eine tolle Idee.« Wir grinsen uns kurz an.
»Haben Sie Hunger?«, fragt er mich und zeigt in Richtung Court Street. »Esposito and Sons. Die besten Reisbällchen im ganzen Viertel. Wir können uns auf dem Rückweg über Ihre beruflichen Perspektiven unterhalten.«
Das Esposito ist eine Ode an das Geschmackloser-geht’s-nicht-Dekor, draußen neben dem Eingang steht eine grotesk hässliche Schweinestatue in Metzgerkleidung.
»Wow«, sage ich.
»Man weiß, dass man mit dem Laden nichts falsch machen kann, wenn es ihn schon seit 1922 gibt, oder?«, sagt Vic.
Jeder im Esposito ruft freundlich »Vic!«, als wir hereinkommen.
»Eine richtige Berühmtheit«, murmle ich, aber Vic hat mich gehört.
»Ich ziehe Kiezgröße vor«, erwidert er.
Vic bestellt vier Reisbällchen mit Schweinehack, ein italienisches Sandwich und eine Portion Lasagne.
»Kommt sofort, Chef«, sagt der Mann hinter der Theke. »Marie ist wohl wieder weg, was? Wie sieht es denn momentan mit deinem Cholesterin aus?«
»Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen zu meiner Schwester sagst …«
Ich lächle in mich hinein und betrachte die angerichteten Speisen hinter der Glasscheibe. Dies hier ist also Vics heimliches Laster.
»Und Sie, Miss Pakistan? Was darf es sein?«
»Miss Pakistan?«, wiederhole ich.
»Sorry. Miss World. Ist das besser?«
Findet ihr es nicht auch super, wenn man auf seine Hautfarbe reduziert wird? Aber wahrscheinlich würde der Mann mich »Miss Schweden« nennen, wenn ich blond wäre. Zumindest rede ich mir das ein.
»Äh …«
»Was kann ich Ihnen anbieten, hübsches Kind?«
Das hier ist ähnlich, als wäre man eingeladen und würde das Essen ausschlagen, das der Gastgeber extra für einen zubereitet hat. Aber ich habe nur noch ein paar Cent.
»Äh … nichts, ich bin …«
»Sind Sie eine Freundin von Vic?«
»Ja«, sage ich, im selben Moment wie Vic »Nachbarin« sagt.
»Dann können Sie sich glücklich schätzen. Vic wird auf Sie aufpassen. Hier, bitte sehr, Engelchen. Geht aufs Haus.«
Kurz darauf verlassen wir die Metzgerei, ich mit einem Reisbällchen in der Größe eines Baseballs in der Hand.
»Toller Laden«, sage ich und probiere einen Bissen. »O mein Gott, das ist superlecker!«
»Das sind die besten. Wenn Sie also wirklich Arbeit suchen, mein Neffe hat ein Restaurant, gleich drüben auf der Smith Street, das Bartolo’s. Mein Bruder hat es vor über fünfzig Jahren eröffnet.«
»Wirklich?«, sage ich, und meine Miene hellt sich auf.
»Mein Neffe sucht immer Personal. Das Bartolo’s ist ein alteingesessenes Lokal im Viertel. Die Gäste geben gutes Trinkgeld. Wenn Sie mich dorthin begleiten, kann ich Sie gleich dem Chef vorstellen«, erklärt er.
»Wow, herzlichen Dank!«
Kellnern! Ich könnte kellnern gehen! Meine Vorbehalte gegen körperliche Arbeit kommen mir plötzlich ziemlich albern vor.
»Sie werden kein Vermögen verdienen, aber es ist immer noch besser, als nur herumzusitzen und über das Leben zu jammern. Vorausgesetzt, Sie scheuen sich nicht vor ein bisschen harter Arbeit.«
»Nein, ich meine, ja, ich weiß, ich meine … danke. Ich scheue mich nicht vor harter Arbeit! Das wäre großartig!«
Wir schlendern langsam die Union Street entlang, vorbei an unserem Nest in Richtung Smith Street, und genießen den lauen Abend.
»Und, haben Sie sich schon eingelebt?«
»Äh … ja.«
Ich bin mir nicht sicher, was er meint. Ich habe mich bisher nirgendwo eingelebt – ich habe einfach eine Weile an einem Ort übernachtet, bis sich das Leben änderte und ich woanders übernachten musste. Aber dieses Mal nicht. Hoffe ich.
Ich blicke an den Sandsteinfassaden hoch, an denen wir vorbeigehen, hoch zu den Bäumen, die sich über unseren Köpfen in den blauen Himmel recken. Häuser, Eingangstreppen, Fenster sind einander ähnlich und doch einzigartig, durch kleine individuelle Feinheiten der ehemaligen und gegenwärtigen Bewohner … Es ist, als hätte jeder, der hier gelebt hat, seinen Abdruck hinterlassen.
»Die Union Street ist wirklich schön«, sage ich nachdenklich. »Sie hat so was Persönliches, im Gegensatz zu den meisten anderen Straßen. Jedes Haus wirkt wie ein Zuhause.«
Vic nickt. »Die Straße hat Charakter. Darum bin ich nie von hier weggegangen, selbst damals nicht, als das Viertel noch richtig verrufen war. Ich kann Ihnen sagen … Meine Eltern waren italienische Einwanderer aus einer kleinen Stadt namens Pazzollo. Viele Menschen aus Pazzollo sind nach New York ausgewandert. Die haben hier sogar eine Straße nach uns benannt.«
»Wirklich? Ihre Eltern sind den ganzen Weg von Italien gekommen?« Wir biegen ab und schlendern auf der Smith Street weiter. »Direkt hierher nach Carroll Gardens?«
Vic verzieht das Gesicht. »Nicht Carroll Gardens. Das hier ist South Brooklyn. Das war schon immer South Brooklyn. Und nicht Carroll Gardens oder Cobble Hill oder BoCoCa.«
»Ja, Sir.«
»Meine Mutter und mein Vater kamen 1927 auf Ellis Island an. Da waren sie erst einundzwanzig. Die Überfahrt war ihre Hochzeitsreise … Sie wohnten in den ersten paar Monaten in der Lower East Side, schafften aber ziemlich schnell den Absprung. Irgendwann kaufte mein Vater das Haus, in dem wir jetzt wohnen, zusammen mit seinem Bruder. Zwei Familien, jede mit fünf Kindern, können Sie sich das vorstellen? In diesem Haus?«
»Wahnsinn. Und was ist dann passiert?«
»Nun, mein Vater wurde 1944 in Frankreich getötet.«
»Oh, das tut mir sehr leid …«, sage ich rasch.
»Schon gut, das war vor langer Zeit.« Vic schenkt mir wieder sein witziges Grinsen. »Sein Bruder ist nach Jersey gezogen. Und meine Mutter und ihre Schwester haben das Haus in eine Pension umgewandelt. Wir haben Untermieter aufgenommen, hauptsächlich Kriegsinvaliden.«
»Das ist unglaublich.«
Ich frage mich, wer schon alles in meinem Zimmer gewohnt hat. Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, dass Menschen nach New York kamen, um dort ihr Leben zu beginnen, genau wie wir. Es ist, als würde sich nichts jemals ändern, jedenfalls nicht wirklich.
Wir halten an der Sackett Street. Vic deutet auf eine Reihe idyllischer Sandsteinhäuser und erklärt mir, wo seine Cousins und Freunde früher lebten.
»Und meine erste Freundin wohnte hier …« Vic deutet auf eines der Häuser mit hohen Erkerfenstern und Rosensträuchern im Vorgarten.
»Herrliche Rosen«, bemerke ich.
»Diesen Strauch dort habe ich ihr bei unserer zweiten Verabredung geschenkt.«
»Oh! Und, was ist passiert? Haben Sie sich getrennt?«
»Nein, ich habe sie geheiratet. Sie ist gestorben.«
Ich überlege, was ich sagen soll, aber mir fällt nichts ein, also hake ich mich stattdessen einfach bei ihm ein. Sein Arm kommt mir viel kräftiger vor, als er aussieht. Bestimmt war Vic einmal ein starker Mann in jungen Jahren.
»Hier sind wir!«, sagt er eine Minute später.
Ich sehe ein großes Restaurant mit einem Schild über dem Eingang, auf dem in verschnörkelter Fünfzigerjahreschrift Bartolo’s steht.
Körperliche Arbeit, ich komme.