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Vier Stunden später sitze ich immer noch in der Lobby von Carus International und warte.

Lina kam gleich um zehn herunter und sagte geheimnisvoll: »Unser Timing ist perfekt. Aber ich kann für nichts garantieren. Können Sie sich ein wenig gedulden?«

Gegen elf schickte sie mir dann eine SMS, in der sie schrieb: Tut mir so leid, bitte gehen Sie noch nicht!

Und dann die nächste um eins, in der sie schrieb: Gehen Sie was essen, wir sind noch in der Besprechung.

Und jetzt ist es zwei Uhr. Und ich bin immer noch hier. Nun gut, die Lobby ist angenehm – weitläufig, hell, mit bequemen Sitzmöbeln und schön begrünt. Aber ich bitte euch. Vier Stunden?

Seltsamerweise bin ich erschöpft von diesem stundenlangen Warten auf nichts. Ich habe einen derart sauren Geschmack im Mund, dass ich mir sicher bin, dass man es an meinem Atem riechen kann. Mein Kopf schmerzt, mein Rücken ist steif, ich habe jede Zeitschrift, die in der Lobby ausliegt, schon zweimal gelesen, und für einen Wodka mit Eis würde ich einen Welpen treten.

Schlimmer noch, mein Handy – das immer noch stumm geschaltet ist – zeigt ständig entgangene Anrufe an. Von meinem Vater. Meine Eltern schwirren irgendwo in New York herum und suchen mich.

Warum lässt Lina mich hier so lange schmoren, dass ich vor Sorge fast umkomme? Ich sollte wohl besser gehen. Sie bringt es einfach nicht übers Herz, mir zu sagen, dass ich hier meine Zeit vergeude. Die SchlankMobil-Idee zu verkaufen, war ein alberner Wunschtraum. Ich kann hier nicht den ganzen Tag herumsitzen. Ich habe Eltern, mit denen ich reden muss, Geld, das ich mir leihen muss, Kredite, die ich abbezahlen muss, und einen Flug in eine kalte europäische Stadt, den ich kriegen muss …

»Pia! Entschuldigen Sie vielmals!« Lina eilt aus dem Aufzug, ein breites Lächeln auf den Lippen. »Kommen Sie, ich erkläre Ihnen alles auf dem Weg. Es war die Hölle heute«, sagt sie. Wir betreten den Aufzug. »Ich hatte ein Meeting nach dem anderen. Tut mir furchtbar leid, dass Sie so lange warten mussten. Sicher sind Sie vor Langeweile fast gestorben.«

»Nein, nein, schon okay! Das macht nichts!«, erwidere ich so fröhlich ich kann. »Was … worum ging es in den Meetings?«

»Ich habe alles für Sie vorbereitet«, antwortet sie.

»Vorbereitet?«

»Ich erkläre es Ihnen gleich«, sagt sie und grinst mich voller Begeisterung an.

Und plötzlich fühle ich mich genauso. Lina ist die geborene Anführerin. Mag sein, dass ich in den Kampf ziehen muss, aber ich bin nicht allein.

Ich folge ihr durch einen Gang mit verglasten Büros auf beiden Seiten, von denen man einen Ausblick auf die City hat. Das ist der hübscheste Arbeitsplatz, den ich jemals gesehen habe. Wände in einem beruhigenden Taubengrau, dunkle, glänzende Schreibtische und eine sanfte, warme Beleuchtung. Ganz anders als die billige Ikea-Einrichtung in der PR-Agentur und die kalte, fluoreszierende Atmosphäre in den Vermittlungsagenturen.

Wir setzen uns in ein leeres Besprechungszimmer. Ich strenge mich sehr an, einen ruhigen Eindruck zu machen.

»Okay«, beginnt Lina. »Pia, bevor ich Ihnen sage, was genau ich vorhabe, möchte ich mit Ihnen ein paar Fragen durchgehen. Über die meisten Themen haben wir gestern schon gesprochen, aber ich möchte sichergehen, dass ich nichts vergessen habe und wir uns einig sind, bevor Sie dem großen Mann alles erklären.«

»Okay, fangen Sie an«, sage ich. Dem großen Mann?

Lina schnappt sich ihren Ordner und ihren Schreibblock und schießt los. Wann hatte ich die Idee für das SchlankMobil? Wie habe ich es angefangen? Warum habe ich geglaubt, dass es funktioniert? Was war mein erster Schritt? Wie hoch war mein Startkapital? Wie hoch sind meine Tagesumsätze? Wie hat sich die Idee entwickelt? Wie würde ich expandieren, wenn ich könnte? Wie kam ich auf die Rezepte? Wie habe ich meine Social Media Strategie entwickelt? (»Meine was? … Ach so, Twitter und so weiter.«) Was denke ich, wie ich im Vergleich mit anderen Food Trucks abschneide? Was halte ich für ausschlaggebend, ob ein Food Truck Erfolg hat oder nicht?

Nach einer Stunde Befragung bin ich voller Energie. Über das SchlankMobil zu reden und darüber, wie ich das Konzept umgesetzt habe, ist richtig spannend, und mir fällt wieder ein, wie sehr ich meinen Job liebe. Tatsächlich bin ich stolz auf mich. Ich zeige Lina die Fotos, die Angie geschossen hat, und sie ist beeindruckt.

»Ich weiß, das Geschäft ist erst sechs Wochen alt«, sage ich. »Und dass der Wachstumskurs …« (ein Begriff, den Lina zuvor benutzt hat und den ich seitdem dreimal verwendet habe, ich sollte wirklich damit aufhören), »… nicht aufrechtzuerhalten ist. Ich meine, natürlich ist der Umsatz gestiegen, seit ich auch Frühstück anbiete, schließlich ist das eine Mahlzeit zusätzlich, und Pfannkuchen sind unglaublich günstig in der Herstellung. Aber sonst könnte ich nur noch Abendessen ins Programm aufnehmen, was viel komplizierter zuzubereiten ist in einem so alten Truck wie meinem, vor allem, weil in den Kühlschränken nicht viel Stauraum ist. Allerdings könnte ich einen Lieferdienst anbieten für Büros und Fitnessstudios. Ich könnte Aushilfen mit einem Bauchladen ausstaffieren und auf dem Union Square Farmers Market oder dem Brooklyn Flea oder im Central Park Salate verkaufen lassen.«

»Hey, nicht so schnell!«, sagt Lina lachend.

»Ich habe auch Ideen für unterschiedliche Arten von Food Trucks«, sage ich. »Italienische Bioküche, Ganztagsfrühstück …«

»Das habe ich mir schon gestern notiert«, sagt Lina und nickt. »Das sind tolle Ideen.«

Ich muss so sehr lächeln, dass meine Wangen ein bisschen wehtun.

»Was Sie so einzigartig macht«, fährt Lina fort und blickt auf ihre Notizen, »ist, dass Sie nicht irgendein abgewirtschafteter Gastronom sind, der dies hier als letzten Ausweg betrachtet, und Sie sind auch kein erfahrener Food-Truck-Betreiber. Vielmehr sind Sie eine waschechte Jungunternehmerin mit der ganzen jugendlichen Energie, Begeisterung und blinden Unerschrockenheit Ihres Alters. Sie haben die Gelegenheit erkannt und zugeschlagen. Ich denke, Sie besitzen einen hervorragenden Geschäftsinstinkt, Ihre Arbeitsmoral ist ohne Zweifel außergewöhnlich, und mit dem richtigen Management und Team im Rücken könnten Sie wirklich …«

Lina unterbricht sich und zögert. Ich kann kaum atmen, so gespannt bin ich. Hält sie wirklich so viel … von mir? Augenblick, was hat sie gerade gesagt? Ich könnte wirklich … Ich könnte wirklich was?

»Und das Beste ist, Sie nehmen den Mund nicht zu voll«, fügt Lina hinzu. »Ich habe mir auch Ihre Konkurrenz angesehen, Sie wissen schon, diese Eunuchen-Geschichte, aber sie hat letztendlich sehr schlechte Kritiken bekommen, das war mehr Schein als Sein … die Sorte, die der Branche wirklich Schaden zufügt. Wenn die Menschen den Food Trucks nicht vertrauen, werden sie dort nichts kaufen.«

»Richtig«, sage ich und nicke. Ich frage mich, wo Bianca steckt. Ich hoffe, sie ist an einem sicheren Ort, wo auch immer sie sich verkrochen hat.

»Es ist wahrscheinlich Zeit, Ihnen ein paar Erklärungen zu geben«, sagt Lina. »Ich suche seit Monaten nach neuen Investmentideen. Ich habe mich zunächst auf Hotels konzentriert, die ganz neue Wege gehen und das Persönliche unterstreichen. Wissen Sie, kleine Luxushotels, in denen der Service noch großgeschrieben wird, frisch gestartete oder saisonale Restaurants und Bars, konzipiert für ein Nischenpublikum, das dieses Konzept begeistert annimmt … Es gibt Menschen, die werden immer Megahotels und riesige Restaurants und Großraumdiskotheken bevorzugen, aber viele andere haben das satt. Sie wünschen sich etwas, das sich echt anfühlt. Das sie in ihr Herz schließen können.«

»Etwas, das sich wirklicher anfühlt, das mehr ein Freund ist als eine Firma«, sage ich, unbewusst Linas Gedanken fortführend.

»Genau! Besser kann man es nicht ausdrücken«, erwidert Lina begeistert. »Also, ich hatte heute Morgen ein Meeting mit der Geschäftsführung, um diese anderen Projekte zu besprechen. Und ich habe die Damen und Herren gebeten, sich später noch eine neue Idee anzuschauen. Im Moment kümmern sie sich um ein paar letzte Dinge, aber wir haben für vier Uhr ein weiteres Meeting anberaumt. Sie, Pia, werden eine Präsentation über das Potenzial von Food Trucks halten, wobei Sie sich auf den Nischenaspekt, auf die zielorientierten, nachfragegerechten Ideen konzentrieren – wie das SchlankMobil, die italienische Bioküche, das Ganztagsfrühstück …«

»Ich soll vor der Geschäftsleitung eine Präsentation halten … über Food Trucks?«, sage ich. Mein Mund wird plötzlich trocken. »Und dann? Geht es darum, sie zu überzeugen, das SchlankMobil zu sponsern oder etwas in der Art?«

»So ähnlich«, antwortet sie und klappt einen Laptop auf. »Ich habe gestern Abend für die Einleitung ein paar Power Point Folien erstellt. Die können wir mit diesen tollen Bildern ergänzen, die Ihre Freundin gemacht hat. Sie hat wirklich Talent.«

»Ja, das hat sie, aber … ich … ich soll eine Präsentation halten? Vor so vielen wichtigen Leuten?«

»Es sind nur acht«, erwidert Lina. »Und sie sind alle nett.«

»Wer … wer … wer ist das alles?«

»Der CEO, der COO, der CIO – das steht für Chief Investment Officer für Entwicklung. Diese Frau hat eine Schlüsselfunktion, darum sorgen Sie dafür, Eindruck auf sie zu machen. Außerdem der CFO, der VP für Akquise und Entwicklung, der VP für Konzepte und Gastronomie sowie die jeweiligen VPs für Hotel- beziehungsweise Restaurantgewerbe.« Ich weiß nicht einmal, wofür die meisten Abkürzungen stehen. »Okay, ich hole uns einen Kaffee. Möchten Sie einen Milchkaffee? Fein.«

Während Lina aus dem Raum flitzt, starre ich ausdruckslos vor mich hin. All diese wichtigen Leute. Die ganze Erfahrung, die ganze Kompetenz.

Und ich.

Mein Mund ist so trocken, dass ich nicht schlucken kann, mein Brustkorb schnürt sich zusammen, als würde mich etwas zerdrücken, o Gott, warum heißt das eigentlich nicht Schmerzattacke statt Panikattacke, wenn es so wehtut …

Ich muss mich übergeben.

Irgendwie schaffe ich es gerade noch rechtzeitig quer durch den Raum zum Papierkorb und fange an zu würgen. Kaffee schmeckt rückwärts nicht so doll. Dann rutscht ein nicht besonders gut gekautes Bagelstück an der Plastiktüte herunter, mit der der Papierkorb ausgekleidet ist.

Ich richte mich auf und zwinge mich, tief durchzuatmen. Ich werde nicht umkippen. Ich werde nicht Linas Vertrauen in mich enttäuschen. Ich werde nicht versagen.

Ich schaffe das.

Ich nehme eine Wasserflasche aus meiner Handtasche, spüle mit einem Schluck den Mund aus und spucke dann in den Korb, wobei ich mich im Geiste bei dem armen Hausmeister entschuldige, der sich darum kümmern muss. Dann schiebe ich mir rasch sechs Stück Kaugummi in den Mund.

Wenige Sekunden später, gerade als ich wieder auf meinem Stuhl Platz genommen habe und versuche, einen gelassenen Eindruck zu machen, kehrt Lina mit dem Kaffee zurück.

»Okay«, sagt sie. »Wir werden für Sie ein grobes Manuskript zusammenstellen, an dem Sie sich orientieren können, und ich werde Ihnen hinterher bei den Fragen und Antworten helfen. Das ist einfach. Das können Sie im Schlaf. Okay?«

»Okay«, sage ich. »Dann mal los.«