30

Um sechs Uhr sind alle zu Hause. Wir sitzen im Wohnzimmer. Ich habe die anderen mehrmals gebeten zu verschwinden, mich allein mit ihm verhandeln zu lassen. Sie haben abgelehnt.

»Wir stehen das gemeinsam durch«, sagte Julia. Was in mir sofort das Bedürfnis weckte, zu weinen und ihr gleichzeitig um den Hals zu fallen.

Obwohl wir uns irgendeine Dokusoap über durchgedrehte Brautjungfern ansehen, spult in Wirklichkeit jede von uns ihren eigenen kleinen Film im Kopf ab. Angie mischt nervös die Karten. Julia klopft unruhig mit dem Fuß. Coco liest dieselbe Seite von Betty und ihre Schwestern wieder und wieder, und Madeleine knabbert an ihren Haarspitzen. Und ich? Ich spiele einfach diverse Weltuntergangsszenarien in meinem Kopf durch.

Dann klingelt es an der Tür.

»Ich mach auf!«, sagt Coco und hüpft von der Couch. Ich höre, dass die Haustür sich öffnet, dann, eine Sekunde später … »Piiiaaa?«

Julia und ich wechseln einen kurzen Blick und laufen beide aus dem Wohnzimmer.

Es ist Cosmo.

Früh.

In Begleitung von Nicky und Nolan.

»Pia! Schätzchen!«, sagt Cosmo mit einem derart breiten Lächeln, dass es aussieht, als würde sein Gesicht gleich aufplatzen.

Ich bin ihm nicht mehr persönlich gegenübergestanden seit dem Tag, als wir uns kennenlernten. Er trägt heute Jeans und wieder ein perfekt gebügeltes Hemd. Cosmo sieht nicht weltmännisch aus, wird mir plötzlich bewusst. Sondern unheimlich.

»Sie sind früh dran«, bemerke ich überflüssigerweise.

»Ich habe Pläne für den Abend«, erwidert er. »Außerdem habe ich dich vermisst, Pia. Ich wollte dich endlich wiedersehen.«

Vor lauter Grausen läuft es mir eiskalt über den Rücken. Links von ihm steht Nolan, den Arm in einer Schlinge. Er wirkt heute weniger konzentriert, aber dafür noch gefährlicher als zwei Tage zuvor. Auf der anderen Seite steht Nicky, der Kleiderschrank.

»Möchtest du uns nicht hereinbitten?«, sagt Cosmo.

»Nein«, sagt Julia neben mir. »Das ist mein Haus. Sie sind hier nicht willkommen.«

Cosmo schenkt ihr kaum Beachtung. Sein Blick verharrt auf mir. »Dann gib mir meine Zehntausend, kleine Pia.«

Ich räuspere mich. »Ich habe gehofft … dass Sie mir etwas Aufschub geben. Nur achtundvierzig Stunden, mehr brauche ich nicht.«

»Ts, ts, ts …« Cosmo legt den Kopf schief und sieht mich an, dann macht er plötzlich ein paar Schritte vorwärts und steht in der Diele. Julia, Coco und ich weichen unwillkürlich zurück. »Damit habe ich gerechnet.«

»Ich hatte das Geld, aber wegen des … Zwischenfalls mit Nolan hatte ich einen Unfall und bin verhaftet worden, und man hat mir das Geld gestohlen …«

»Das klingt ziemlich unwahrscheinlich. Aber keine Sorge, wir werden eine andere Lösung finden«, erwidert er und macht einen weiteren Schritt ins Haus hinein. Wieder weichen Julia, Coco und ich zurück.

In meiner Panik fange ich an, mir Fluchtmöglichkeiten zu überlegen. Wir könnten in die Küche rennen und von dort hinaus auf die Veranda, aber wir würden es nie alle fünf schaffen, ohne dass die drei uns einholen. Wir könnten nach oben laufen in eins der Zimmer, aber keins davon kann man abschließen. Wir könnten versuchen, an ihnen vorbeizukommen, aber …

»Bitte gehen Sie, und kommen Sie in zwei Tagen wieder«, sage ich zu Cosmo. Meine Stimme klingt erstaunlicherweise viel fester, als ich erwartet habe.

»Niemand geht hier irgendwohin«, sagt Cosmo.

»Was ist mit deinem Arm passiert, Nolan?«, frage ich, als Ablenkungsmanöver.

»Autocrash. Freitag.«

Darum kam Nolan also nie hier an, um die Scheiben einzuschlagen oder jemanden zu verletzen. Er war so blindwütig, dass er einen Unfall hatte.

»Ah, die ganze Bande ist hier«, sagt Cosmo. Ich werfe einen Blick hinter mich und sehe, dass Angie und Madeleine nun auch in der Diele stehen. »Fangen wir an, Jungs.«

Auf dieses Stichwort hin packt Nolan Coco im Nacken, um sie in Richtung Wohnzimmer zu schieben. Sie stößt ein ängstliches Jaulen aus und versucht, sich von ihm loszureißen, indem sie sich panisch hin und her windet.

»Lass sie los!«

Julia versucht sofort, Nolans Arm von Coco wegzuzerren, aber Nicky geht dazwischen, umklammert mit einer seiner Fleischerhakenpranken Julias Handgelenke und reißt sie hoch über ihren Kopf.

Dann bricht die Hölle los: Angie und Madeleine stürzen herbei, während ich versuche, Nicky von Julia wegzuziehen. Alles brüllt und schreit durcheinander, und alles, was ich denken kann, ist, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein …

In diesem Moment höre ich ein lautes Klicken.

Cosmo hält eine Waffe in der Hand.

Und zielt damit auf mich.

Wir keuchen alle gleichzeitig auf. Ich habe noch nie eine Waffe aus nächster Nähe gesehen. In einem meiner Internate gab es einen Schießstand, aber das hier ist etwas anderes. O mein Gott, was habe ich getan?

»Hören mir jetzt alle brav zu? Gut«, sagt Cosmo. »Und nun gehen wir zusammen ins Wohnzimmer und klären das wie Freunde.«

Cosmo umklammert meinen Oberarm und schiebt mich durch die Diele, gefolgt von Nolan mit Coco und schließlich Nicky, der mit einer Hand Angie und Madeleine abwehrt und mit der anderen Julia festhält.

»Was werden die mit uns anstellen?«, flüstert Madeleine, als wir das Wohnzimmer erreichen, und Coco schluchzt auf.

Gleich darauf höre ich ein zweites, viel lauteres Klicken hinter mir. Ich drehe den Kopf. Es ist Vic. Mit einer abgesägten Schrotflinte.

»Wer zur Hölle ist das denn?«, sagt Cosmo.

»Der Nachbar, der Alte von unten«, zischt Nolan.

Natürlich: Er war es, der uns ausspioniert hat, er weiß genau, wer wer ist.

»Ich werde das jetzt nur ein Mal sagen. Lasst sofort die Mädchen los und haut ab.«

Vic nimmt uns nicht einmal richtig wahr: Er hat nur Augen für Cosmo.

»Verpiss dich, alter Mann!«, faucht Cosmo.

»Kein Respekt vor den Älteren«, erwidert Vic seufzend. »Den hattest du noch nie.«

»Er hat eine Lapua«, sagt Nicky in ehrfürchtigem Ton. Er starrt auf die Schrotflinte.

Vic hat noch nie einen so starken Eindruck gemacht.

»Nimm die Waffe runter, Antony Cosmolli.«

»Zum Teufel, woher kennst du meinen Namen, Alter?«, sagt Cosmo leise, aber er lässt die Waffe sinken, sodass die Mündung nun auf den Boden zeigt.

»Fick dich«, murmelt Nolan.

Ich drehe gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, dass er ein Messer aus der Tasche zieht und sich Coco schnappt, aber im nächsten Moment gibt es einen ohrenbetäubenden Knall aus Vics Schrotflinte, und das Messer fällt aus Nolans Hand. Nolan brüllt auf und krümmt sich vor Schmerzen über seine blutende Hand.

Nicky lässt die Mädchen los, hebt rasch Nolans anderen Arm aus der Schlinge und benutzt diese, um die Wunde zu verbinden. Nolan gibt ein hohes Wimmern von sich. Der Rest von uns ist wie erstarrt vor Schreck.

»Halt die Fresse, Nolan«, herrscht Cosmo ihn an, ohne die Augen von Vic abzuwenden.

»Hier ist dein Geld«, sagt Vic und zieht einen Umschlag aus seiner Gesäßtasche. »Nimm es und dann raus hier. Und lass dich hier nie wieder blicken, wenn du weißt, was gut ist für dich.«

Cosmo schnappt sich den Umschlag und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, überlegt es sich dann aber anders und bewegt sich in Richtung Haustür. Nicky und Nolan folgen ihm sofort. Nolans gebrochener Arm baumelt ohne Schlinge hilflos herunter, die blutende Hand hält er an die Brust gedrückt.

Vic folgt ihnen, die Schrotflinte im Anschlag, und ich gehe ihm hinterher. Wir bleiben im Eingang stehen und beobachten, wie die drei die Treppe hinunterhasten.

»Lasst euch hier nie wieder blicken. Nie wieder!«, ruft Vic. »Habt ihr gehört?«

»Nie wieder«, wiederhole ich flüsternd.

Cosmo ignoriert uns, schließt seinen Wagen auf, sie steigen alle ein und rasen gleich darauf über die Union Street davon.

»Ich glaube, die seht ihr nie wieder«, sagt Vic.

Ich drehe mich zu ihm. »Oh Vic, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll … Woher … woher … wussten Sie das?«

»Wenn Sie schon draußen auf der Veranda mit dem Himmel sprechen, sollten Sie sich vorher vergewissern, dass Ihre Nachbarn nicht mithören, meine Kleine«, antwortet er.

In seinen Augen glimmt Wut, aber er wirkt auch abgespannt und unendlich müde, und plötzlich fällt es mir wieder ein.

»Oh … Vic, es tut mir so leid wegen Marie«, sage ich.

»Mir auch«, erwidert er schroff. »Es war übrigens ihr Geld, mit dem wir diesen kleinen Idioten bezahlt haben. Ich wusste, dass Marie ihr Bargeld unter ihrer Matratze aufbewahrt hat. Marie war schon immer ein Dickschädel. Die hat keiner Bank getraut.«

Wir gehen zurück ins Wohnzimmer, wo die anderen sitzen, vor Schock wie gelähmt. Ich fühle mich, als ob ich high wäre. Adrenalin fließt durch meinen Körper – ausgeschüttet durch Angst, Euphorie, Erleichterung, Entsetzen … alles gleichzeitig.

»Es tut mir so leid, es tut mir so leid«, sage ich und gehe rasch zu Julia und Coco, die beide kreidebleich sind. »Seid ihr okay? Ist jemand verletzt?«

»Wir sind alle mit dem Schrecken davongekommen«, sagt Vic ruhig. »Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Er wird hier nie wieder auftauchen.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, entgegnet Madeleine. »Was, wenn wir gerade einen Krieg entfacht haben mit diesen Schlägern?«

»Keine Sorge«, antwortet Vic. »Die habt ihr zum letzten Mal hier gesehen.«

»Woher weißt du das, Onkel Vic?«, fragt Coco.

»Ich kenne Cosmos Onkel gut. Ich werde ihn gleich nachher anrufen«, erwidert Vic. Und damit ist die Unterhaltung über Cosmo scheinbar beendet.

»Warum hast du eine Schrotflinte?«, fragt Julia mit zittriger Stimme.

»Ich hüte sie für ein paar Freunde seit 1972«, antwortet er. »Offen gesagt, bin ich etwas überrascht, dass sie noch funktioniert.«

»Sie waren wie Clint Eastwood in Gran Torino«, sagt Angie ehrfürchtig.

»Seid ihr auch wirklich alle okay?«, frage ich. »Es tut mir schrecklich leid. Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert ist, es tut mir so leid …«

Alle fangen gleichzeitig an zu reden.

»Ich bin okay, ich bin okay …«

»Ich glaube, ich muss mich übergeben. Ich hatte noch nie so viel Angst …«

»Ist das wirklich gerade passiert?«

»Ich schwöre bei Gott, Pia, wenn du wieder so was machst …« Das ist Madeleine.

»Es tut mir so leid«, sage ich zum x-ten Mal. Ich habe das Gefühl, als müsste ich mich bis in alle Ewigkeit entschuldigen. »Ich fasse es nicht, dass ich euch alle da mit reingezogen habe. Ich werde nie wieder so eine Dummheit begehen, das verspreche ich …«

»Schon gut«, sagt Angie ruhig. »Das war eine Situation, die du nicht kontrollieren konntest. Wir verstehen das alle.«

Julia, Madeleine und Coco nicken, und ich bin überwältigt vor Erleichterung. Sie hassen mich nicht.

»O mein Gott, seht mal, da ist sein Finger!«, ruft Coco plötzlich und weist auf den Boden neben der Couch. Sie sieht genauer hin. »Schwarze Trauerränder. Iihhh. Wir sollten den Finger in Eis packen.«

»Ist das dein Ernst?«, sagt Julia. »Wir sollten ihn in dem verdammten Klo hinunterspülen.«

»Ich habe den ganzen Finger erwischt?«, fragt Vic. Er klingt stolz.

Julia geht hinüber zur Couch, wirft einen Blick auf Nolans abgeschossenen Finger und fällt prompt in Ohnmacht. Chaos bricht aus, aber nach ein paar Sekunden kommt Julia wieder zu sich. Coco treibt uns alle hinaus auf die Veranda an die frische Luft, wo wir einen sehr starken süßen Tee trinken und Haferkekse essen, die sie am Morgen gebacken hat. Zum Glück hat es aufgehört zu regnen.

»Das war unglaublich«, sagt Julia. »Ich bin noch nie ohnmächtig geworden.«

»Noch einen Cookie, bitte«, sagt Madeleine.

Ich wundere mich, dass niemand mehr sauer auf mich ist. Sie hätten schließlich allen Grund dazu. Wahrscheinlich habe ich sie in die größte Gefahr gebracht, der sie jemals ausgesetzt waren. Trotzdem haben sie Verständnis gezeigt und mir einfach verziehen. Ich bin den Tränen nahe vor Erleichterung.

»Sie bekommen das Geld so schnell wie möglich zurück, Vic«, sage ich. »Ich werde meine Eltern fragen, sobald ich mit ihnen spreche.«

»Es eilt nicht. Betrachten Sie es als ein Darlehen.«

»Nein, das kann ich nicht«, sage ich und stehe rasch auf, um Stift und Papier aus der Küche zu holen. Gleich darauf nehme ich wieder Platz und fange an zu schreiben.

Ich schulde Vittorio Bartolo 10 000 US-Dollar.

Gezeichnet, Pia Keller.

Ich falte den Zettel zusammen, gebe ihn Vic, und er steckt ihn in seine Hemdtasche.

»Ich verspreche, Sie bekommen es wieder«, sage ich.

»Keine Sorge«, gibt er zurück und grinst mich an. »Ich weiß ja, wo Sie wohnen.«