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Ich habe die Plüschloge mit Blick auf das Entree ganz für mich allein und von Brunner den Auftrag, sofort und möglichst unauffällig Meldung zu machen, wenn er das Belle de Jour betritt.

Das Lokal ist winzig, vollgeräumt mit falschem Gold und rotem Plüsch, verfügt über eine gut sortierte Bar, eine Tanzfläche von der Größe eines Bettvorlegers, und für die diskrete Konversation unter vier Augen stehen drei Separées zur Verfügung. Die sind, soweit ich das in dem roten Halbdunkel ausnehmen kann, schlicht aber funktionell mit einem Diwan und einem Waschbecken möbliert.

Das Belle de Jour ist ein Animierschuppen alter Schule und kann mit den koksbetriebenen Bedürfnisanstalten unserer Tage nicht mithalten. Die Damen, die hier für gewöhnlich Dienst schieben, sind - wie das die Aufschrift draußen im Schaufenster verspricht - vielleicht wirklich charmant. Der Koberer jedenfalls hat alles, was einen gestandenen Strizzi ausmacht und vom ungelernten Personal der modernen Sex-Supermärkte angenehm unterscheidet: einen rauhen aber herzlichen Schmäh, viel Gold um den Hals und an den Fingern, und im Geldbörsel ein Foto von seiner reschen Gattin und seinen beiden feschen Buben.

Heute haben die Damen frei, der Chef steht höchstpersönlich hinter der Bar, und im Schaufenster verkündet ein Schild: „Geschlossene Gesellschaft. Eintritt nur für geladene Gäste“.

Donna gibt sich nach Einnahme einer Großpackung Valium als souveräne Gastgeberin und nimmt die vorerst recht spärlich eintrudelnde AAS-Kundschaft mit dem kühlen Charme einer echten Diva in Empfang. Auch sie hat von Brunner den Befehl, umgehend aber unauffällig Meldung zu machen.

Seine Spezialeinheit ist teils draußen im Foyer postiert, wo sie unter Skociks Kommando der spindeldürren und in AAS-Leder verpackten Freundin des Gschwinden beim Überprüfen der Einladungen über die knochigen Schultern schaut. Der Rest der Einsatztruppe trinkt an der Bar Soda-Zitron, oder wird sich erst im Laufe des Abends unauffällig unter die Gäste mischen.

Brunner hat mir harte alkoholische Getränke und den Sprechkontakt mit Bekannten wie zum Beispiel dem Turbo verboten, also langweile ich mich in meiner Loge bei einem Bier nach dem andern halb zu Tode.

Denn natürlich ist Wien nicht LA, und dementsprechend spektakulär gestaltet sich der Einzug der AAS-Gemeinde.

Sie besteht in erster Linie aus alleinstehenden Herren undefinierbaren Alters, die aus gegebenem Anlaß zur grauen Trevirahose das schwarzlederne Hundehalsband angelegt haben. Mit hungrigen Augen halten sie Ausschau nach der Herrin ihrer feuchten Träume und kriegen, abgesehen von Donna, nicht viel geboten: zwei grell geschminkte Heavy-Metal-Gören, die ihre bimenförmigen Figuren in schwarze Plastikmonturen gepfercht haben und sich aufgeregt kichernd in eine der Logen verziehen; eine reife Dame mit üppig dekorierten Brüsten, die aber nicht nach devoten Herren ihres Jahrganges Ausschau hält, sondern nach strapazierfähigen Jungfrauen; und moderne, aufgeschlossene Paare, die durch die Kombination von Lack, Lacoste und Latex eventuellen Gleichgesinnten signalisieren wollen, daß sie einer, den erotischen Horizont erweiternden Gruppenerfahrung nicht abgeneigt wären.

„Genau so hab ich mir das vorgestellt“, raunt mir Donna zu, „der Ball der Unentschlossenen.“

Sie hat soeben noch einen scheuen Gast in Trevira in Empfang genommen und an der Bar abgestellt.

Jetzt zieht sie grinsend das fade Aug und stöckelt auf ihren turmhohen Absätzen zurück zum Entree, wo zwei vampiröse Gestalten undefinierbaren Geschlechts einen ersten leisen Hauch jener morbiden erotischen Spannung in die Party bringen, die Donna bis jetzt so vermißt hat.

Elfi ist Donnas Werbeveranstaltung selbstverständlich fern geblieben. Gestern, als ich mich nach meinem schicksalhaften Schaumbad zu ihr in den TV-Sektor setzte, meinte sie nur, ihr sei das alles schon die längste Zeit zu viel und sie wolle das nächste halbe Jahr, wenn nicht länger, nichts anderes als schlafen, schlafen, schlafen. Oder zur Abwechslung einmal was Schönes erleben. Sowas wie die Pandabären in der Bergwelt Tibets, da hätte ich was versäumt, ganz reizend, richtig zauberhaft diese Dokumentation.

Obwohl es mir alles andere als leicht fiel, meine schaumgeborene Lösung unseres Problems mit dem Schlächter von Sechshaus für mich zu behalten, beschloß ich, Elfi bei ihren Pandas zu lassen und am Morgen als erstes Brunner zu informieren. Elfi dankte es mir, indem sie mir nicht bloß einen behelfsmäßigen Schlafplatz in ihrem Kiva, sondern die Hälfte ihrer riesigen Liegewiese zur Verfügung stellte. Als sie aus dem Umkleidesektor kam, trug sie einen übergroßen Männerpyjama mit roten und grauen Streifen. Und ich kriegte zum Gästebettzeug ein T-Shirt von Motörhead mit der Aufschrift“Nö Sleep At AH“.

Dann lagen wir noch eine halbe Stunde oder so wach, plauderten über die Dauerkrise zwischen Mann und Frau, natürlich ohne die Abgründe, die wir selbst an Herz und Seele erfahren haben, auch nur annähernd auszuloten, und mitten unter meinen zugegeben etwas ausufernden Ausführung war Elfi plötzlich eingeschlafen.

„Elfi“, sagte ich. Ruhiges, regelmäßiges Atmen war die Antwort. Ich knipste das Licht aus und dachte an Marlene, die sich in ihrer Pariser Palace-Suite unter saphirblauen Seidenlaken räkelte, völlig ahnungslos, daß sie heute bereits kurzzeitig Mordkomplizin ihres zart besaiteten Gilbert war. Vielleicht träumte Elfi auch vom schönen Gily. Jedenfalls drehte sie sich im Schlaf hin und her, schnurrte wie ein Kätzchen, und der Silberschmuck unter der losen Pyjamajacke klingelte dazu wie viele ferne Glöckchen. Beruhigend. Über der Frage, ob sich der silberne Zierat auf der warmen Haut ihrer Brüste wohl metallisch kühl anfühlt, schlief ich ein.

Der heutige Tag stand ganz im Zeichen der merkwürdigen Verwandlung der Elfi Tomschik in Donna, die Strenge.

Während Elfi nach dem Frühstück im Badezimmer die erste Phase ihrer Mutation durchlebte, telefonierte ich mit einem gestreßten Brunner. Er versprach, den Trainer zu informieren. Die von mir gewünschten Unterlagen würden mit Donnas und meinem Eintreffen gegen 17 Uhr im Belle de Jour bereitliegen.

„Kein Wort zur Tomschik. Das erledige ich vor Ort“, sagte er noch. Dann widmete er sich weiter dem Fallenbau und dem Kollegen Skocik, der „wieder einmal über die Stränge geschlagen hat. Und das noch dazu an der falschen Stelle.“ Als Elfi aus dem Bad kam, war ihre blonde Mähne zu einer gigantischen Turmfrisur angewachsen. Aber Elfi, die Nette, ging nicht nur unter falschen Haarteilen mehr und mehr verloren. Jetzt kamen die falschen Wimpern, die falschen Fingernägel, und tonnenweise Make-up, das den Augen eine falsche Härte und dem Teint die falsche Blässe gab.

„Wenn du schon sonst für nix gut bist, dann hör wenigstens zu“, sagte Donna (denn Elfi würde sowas nie sagen) und trug mir im Bademantel und mit Spickzettel in der Hand vor, was sie abends der AAS-Gemeinde zu verkünden gedachte.

„Naja“, sagte ich, um sie nicht völlig zu entmutigen. Aber angesichts des drohenden Polizeigroßaufgebots hatte sie alles aus ihrer Festrede gestrichen, das nur irgendwie als anstößig, provokant oder gar diabolisch mißverstanden werden könnte.

„Naja gilt nicht“, sagte Donna, „Wie is das? Leiwand oder Oasch?“

„Eher letzteres“, sagte ich. „Alle Anwesenden wissen ganz genau, warum Sie da sind. Aber Du redst daher, als wolltest du ihnen Mottenkugeln oder Gesundheitsschlapfen verkaufen.“

Drei Anläufe und vier hysterische Anfälle später war die Ansprache, nicht zuletzt durch meine Mithilfe als Astaroths Werbetexter, halbwegs brauchbar und nicht völlig schmähfrei.

Das größte Problem stellte allerdings die letzte Phase der Mutation dar. Donna konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie anziehen soll. Also sah ich so ziemlich jedes Stück aus den AAS-Kollektionen der letzten Jahre, auch in Kombination mit den besten Stücken aus Donnas eigenem Fundus, an mir vorüberziehen, gab meinen Senf dazu, wurde zuerst noch belächelt, dann ob meiner Inkompetenz gerügt und schließlich mit spitzen Lippen auf die Wange geküßt, weil das Werk vollbracht und Donna nach drei Stunden harter Arbeit mit sich selbst zufrieden war.

In schwarzen Pumps mit lebensgefährlich hohen Bleistiftabsätzen, halterlosen Seidenstrümpfen und einem kleinen, lackglänzenden Schwarzen, das an ihrem Kurvenkörper klebte, als hätte es ihr der Designer (nicht Claude Levy übrigens) auf die nackte Haut gemalt.

„Ziemlich geil“, sagte Donna zu Donna, als sie vor dem mannshohen Spiegel neben der Garderobe gleichzeitig Arsch und Busen rausreckte, während unten schon Brunners Wagen wartete, um uns zum Schauplatz der Konfrontation mit dem Schlächter zu kutschieren.

Von dem fehlt nach wie vor jede Spur. Aber im Belle de Jour ist es mittlerweile nicht mehr ganz so einfach, den Überblick zu bewahren.

Dem Heer der Unentschlossenen folgen nun zu später Stunde die überzeugten Poseure und eine gar nicht so kleine Delegation aus dem teuflisch strengen Lager. Diese Damen und Herren, die sogar den Fürsten Astaroth und Behemoth noch so manches blutige Vergnügen beibringen könnten, belächeln die Veranstaltung selbstverständlich als sadomasomäßige Kinderjause, bleiben aber trotzdem, denn was weiß man, vielleicht passiert noch was.

Der Koberer hat auf Donnas Befehl das Musikprogramm von Sade und Phil Collins auf Dancefloor und Tekkno umgestellt. Mir war das eine zu fad und ist das andre zu laut, aber bei wem sollte ich mich beschweren, schließlich bin ich ja nicht freiwillig und nicht zum Vergnügen hier.

Die drei Paare und zwei Solisten auf der Tanzfläche haben ihren Spaß. Das zählt.

Und der Auftritt des Schlächters.

Aber zuerst ist Donna dran. Mit unserer Ansprache. Vielleicht liegt es am reichlich genossenen Gerstensaft, vielleicht auch daran, daß Donna nicht im rosa Bademantel, sondern im aufgemalten kleinen Schwarzen die Tanzfläche zu ihrer Bühne macht, jedenfalls kommt ihr Appell, dem geilen Tier in uns das Freigehege einzuräumen, das ihm zusteht, ziemlich überzeugend.

Applaus. Dann die Ankündigung, daß nach einer kurzen Umbaupause sechs solche geilen Tiere (die ich am Nachmittag bei der Probe in Trainingsanzügen bewundern durfte), vorführen werden, was die AAS meint, wenn sie sagt: „Auf daß die Sünde siegt!“

Noch mehr Applaus.

Und zum Abschluß, neben dem „Freigehege“ mein wohl wichtigster Beitrag zum Gelingen von Donnas Festrede, ein beherztes:

„In Astaroths Namen. Amen.“

Jetzt schmunzelt sogar der harte Kern, und Donna sonnt sich im begeisterten Applaus und Gejohle. Während sie die Tanzfläche räumt und in der Menge untertaucht, habe ich erstmals eine klare und präzise Vorstellung meines Lebens nach erfolgreicher Absolvierung meines fünfzigsten Geburtstags: Ich werde von der Rock-and-Roll-Bühne für immer abtreten und ein sonniges, gemütliches Büro mit Kühlschrank und Bettbank beziehen. Und gegen fürstliche Honorare, die der Kohlen-Güntl als mein Kompagnon aushandelt, werde ich (als Konsulenten die Firma Trainer & Trash im Rücken) die Ausrichtung und Inszenierung von Produktpräsentationen betreiben, egal ob es sich um Turbo-Mixer, Reizwäsche oder Weichspüler handelt. Das ist eine Zukunft. Wunderbar.

Vorausgesetzt ich werde älter als diese Party.