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Im Cafe Rallye brennt noch Licht. Es ist kurz nach zwei und seit Mitternacht Sperrstunde, aber wenn sich der Herr Josef ein ahnungsloses Opfer gefunden hat, das mit ihm Fernet trinkt, hat das Rallye auch durchgehend geöffnet. Der Herr Josef serviert dann zum Magenbitter die bittere Geschichte seiner Motorsportkarriere. Und wenn es draussen wieder hell wird, ist er am schwärzesten Punkt seiner Rennfahrerlaufbahn angelangt, bei der Rallye Paris-Dakar. Nach einem Getriebeschaden war für den jungen Herrn Josef das Rennen in Marseilles gelaufen, und er heuerte bei der Fremdenlegion an. Schwarzafrika. Kongo, sagt er dann und schließt die stark geröteten Augen. Das war die Hölle, die Hölle auf Erden.
Heute nacht hat er ein anderes Problem. Der Wickerl ist da, voll auf Speed oder Koks oder irgendeiner Mischung, die ihn zur tickenden Zeitbombe macht.
„Abend, Herr Kurt“, sagt der Herr Josef müde, als er die milchgläserne Eingangstür einen Spalt aufmacht und mich eintreten läßt.
„Herr Josef“, sage ich und höre sofort, daß ihn heute nicht der Kongo, der Fernet und ein geduldig lauschender und trinkender Gast am Heimgehen hindern. Aus dem Hinterzimmer kommt ein spitzer, martialischer Schrei. Dann ein Krachen und das Klingeln von tausend verstörten Glöckchen, als der Wickerl dem „Monte Carlo Rallye“-Flipper einen Tritt in die Eingeweide versetzt und ihm gut ein Dutzend Mal das Scheißengehen schafft.
Der Herr Josef wirft einen traurigen Blick in Richtung Hinterzimmer. Der Flipper und eine antike Jukebox sind der einzige Glanz in seiner tristen Hütte.
Seit ich vor sechs Jahren, kurz nach meinem Umzug in die Reindorfgasse, das erste Mal in das Lokal geraten bin, zu spätnächtlicher Stunde und genau in dem Moment, als ein konditionsschwacher Gast nach einer halben Flasche Fernet das Handtuch warf und ich daraufhin einspringen und dem Herrn Josef bis in den späten Vormittag hinein die Lebensbeichte abnehmen mußte, seit dieser ersten langen Nacht im Rallye muß ich immer wieder mitansehen, wie es mit Wirt und Wirtschaft bergab geht.
Der Herr Josef, an sich eine stattliche Erscheinung, ein Knecht, wie man sagt, hat’s seit ein paar Jahren mit den Bandscheiben und dem Magen. Das weiße Porsche-Modellauto mit den Rennstreifen und der von ungeübter Hand auf die Kühlerhaube gepinselten Aufschrift „Cafe Rallye“ steht zwar immer noch im staubigen Schaufenster, doch die Scheinwerfer strahlen längst nicht mehr. Und der Tischtennis-Tisch, den der Herr Josef aus dem Garten seiner Schwester geholt und im Hinterzimmer aufgestellt hat, brachte gästemäßig nicht den erwarteten Aufschwung.
Das Rallye ist auf die kleine Gruppe von langjährigen Stammgästen angewiesen, die den Wirt, wie sich das gehört, mit“Herr Josef“ anreden und dafür ein entsprechend freundliches Service erwarten dürfen, und auf eine Clique von Jugendlichen, die den Herrn Josef mit einem form- und respektlosen „Rallye!“ an einen seiner sechs Tische ruft. „Rälli, noch ein Cola!“ - „Rälli, wann kommt mein roter Spritzer? Heut noch?!“
Und dann gibt’s den Wickerl. Er hat eigentlich Lokalverbot, aber weil er der Freund vom Rudi ist, dem der Herr Josef nichts abschlagen kann, darf er doch immer wieder herein, darf im Hinterzimmer flippern, bis zum Abwinken Cola-Rot trinken und das Häusl vollkotzen.
„Sie kennen mich, Herr Kurt“, sagt der Herr Josef und stellt das kleine kleine Bier mit dem großen Fernet vor mich auf die Theke.“ Ich hab eine Engelsgeduld. Aber wann mir einmal der Faden reißt, dann spielt’s Granada. Und jetzt is es bald so weit.“
Ich sage nichts. Ich will nur in Frieden trinken, die traditionelle Mischung für die nötige Bettschwere, aber anscheinend ist das Rallye heute nicht der richtige Ort dafür.
„Wickerl, bist übergschnappt?“ schreit der Rudi im Hinterzimmer und seine Stimme überschlägt sich.“ Wickerl! Tu den Fisch weg!“
Der Wickerl lacht, wie er das von den Schurken in den alten Filmen gelernt hat.
„Wickerl! Hör auf, Wickerl!“ Der Rudi kommt ganz langsam und im Retourgang aus dem Hinterzimmer. Er ist noch blasser als sonst und hält sich an einer Flasche Kapsreiter fest. Der Wickerl, ansonsten auch eine eher blasse Erscheinung, dessen spitze Gesichtszüge hinter einem dünnen Vorhang aus schwarz-lila gefärbten Haaren verborgen bleiben, sieht aus, als hätte er zinnoberrote Kriegsbemalung aufgetragen. Er schaut sich mit weit aufgerissenen Augen im Schankraum um. In der rechten Hand hält er ein Springmesser und zeichnet mit der Klinge Zickzackmuster in die Luft.
„Ganz ruhig, Wickerl“, sagt der Herr Josef.“ Ganz ruhig.“ Aber der Wickerl untersteht einem anderen Kommando. Er hat eine Mission zu erfüllen.
„Ich mach Euch alle kalt“, sagt er und grinst dazu, als würde er uns damit eine ganz besondere Freude machen wollen.
Niemand sagt was. Der Rudi wimmert leise und macht einen Schritt in Richtung Tür.
„Dableiben, Depperter!“ zischt der Wickerl.
Das hätte er nicht tun sollen. Der Rudi, ein eher schlichtes und sanftes Gemüt, läßt sich viel gefallen. Nicht nur vom Wickerl, der ihn seit ihrer gemeinsamen Hauptschulzeit abwechselnd als Blutsbruder, Sündenbock, Verbündeten und Fußabstreifer benutzt. Aber gegen eines ist der Rudi allergisch: Niemand darf auf die Idee kommen, ihn „Depperter“ zu rufen. Da setzt es bei ihm aus. Da sieht er rot. Der Wickerl weiß das. Aber da die Kommandozentrale in seiner Birne momentan fest in der Hand von Zelluloidschurken oder Heavy-Metal-Monstern ist, tappt er ferngesteuert in die Falle.
Die Kapsreiter-Flasche trifft ihn ohne Vorwarnung. Der Rudi, noch eine Spur blasser im Gesicht als vorhin, zerschlägt sie an Wickerls rechtem Unterarm. Das Messer fliegt durch den Raum, prallt von der Jukebox ab und dreht sich auf dem Steinboden wie ein müder Kreisel. Der Wickerl beobachtet zuerst interessiert den Flug seines Werkzeugs und dann, wie der dunkle Fleck auf seinem rechten Hemdärmel immer größer wird. Bier und Blut.
„Und jetzt verschwind, und zwar dalli und für immer“, sagt der Herr Josef.
Langsam weicht die Kriegsbemalung aus Wickerls Gesicht. Als er bei der Tür ankommt und sich noch einmal umdreht, ist er so blaß wie sein einstiger Blutsbruder.
„Dafür gehst sterben, Rudi. Heut noch“, sagt der Wickerl, reißt mit der unverletzten Linken die Tür auf und stolpert hinaus in die kalte Nacht.