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Als ich gegen sechs, also etwas verspätet, aus dem Haus komme, fängt es zu regnen an. Aber alles ist gut. Denn zum Gasthaus Quell sind es nur ein paar Schritte, und vor dem Lokal parkt die froschgrüne Rostlaube des Trainers.

Der wider Erwarten pünktliche Partieführer sitzt an meinem Lieblingstisch neben dem Kachelofen und ist mit seinem zweiten Bier, einem kleinen Gulasch und der Abendausgabe des Kronenblattes beschäftigt.

„Die Titelseite hat er nicht geschafft, aber eine Doppelseite im Lokalteil is auch kein Schas“, begrüßt mich der Trainer und schiebt mir die Zeitung über den Tisch. Er tunkt den Gulaschsaft so genüßlich mit einem Salzstangerl auf, daß ich alle guten Vorsätze und die letzten Reste meiner Übelkeit vergesse und statt des magenschonenden Hagebuttentees ein großes Gulasch mit einem ebensolchen Bier in Auftrag gebe.

Das Kronenblatt stellt sich die Frage, ob der“bestialische Mord an jungem Rockmusiker“ vielleicht das“Werk eines Wahnsinnigen“ war. Ich stelle mir die Frage, ob das Foto vom Wickerl vor oder kurz nach seiner Firmung aufgenommen wurde. Und der Trainer stellt mir die Frage, ob der Wickerl, wie seine völlig gebrochene Mutter gegenüber der Krone erklärt, tatsächlich so“ein schwieriges, in sich gekehrtes Kind“ gewesen ist, „das sich seiner Umwelt nur durch seine laute Musik mitteilen konnte“.

„Naja“, sage ich. „Ich hab ihn immer nur im Zustand der mittleren bis schweren Ölung erlebt, und da ist er mir durch seine penetrant laute Art aufgefallen.“

„Von wessen Ölung sprichst du?“ sagt der Trainer und macht sein Erik-Ode-Gesicht. Wohlwollend, aber nicht ohne leisen Vorwurf. Und vor allem so widerlich selbstzufrieden.

„Weißt was, Trainer“, sage ich. „Halt die Goschen.“ Prompt ist er eingeschnappt. Modell Clint Eastwood. Er raucht sich die zirka dreiundneunzigste Flirt Filter des Tages an, bläst mir den übel riechenden Rauch seines Unkrauts ins Gesicht und preßt dann zwischen den zusammengepreßten Lippen hervor, daß es an sich nicht seine Art sei, über eine Stunde zu warten, um sich dann blöd anfliegen zu lassen.

„Dafür is mir meine Zeit zu schad“, sagt er, hält demonstrativ nach dem Quell-Poldl Ausschau, vermeidet es aber, laut“Zahlen!“ zu rufen und so unser Arbeitsessen vorzeitig zu beenden.

Wie man sieht, ist die Beziehung zwischen dem Trainer und mir nicht ganz streßfrei. Aber sie funktioniert. Länger als die österreichische Durchschnittsehe. Was ich von 90 Prozent der Beziehungen, in die ich im Laufe meines langen, bewegten Lebens hineingeraten bin, nicht behaupten kann. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Trainer ist heute ganz Mimose, und das verlangt nach Samthandschuhen.

„Der Wickerl war 365 Tage im Jahr so wie du bei Vollmond“, sage ich. „Großgoschert, streitsüchtig, aggressiv, unberechenbar. Ein extremer Quäler.“

„Verstehe“, sagt der Trainer, und zum noch besseren Verständnis erzähle ich ihm, was der Rudi über die letzten Wochen des toten Wickerl zu erzählen wußte.

„Interessant“, sagt der Trainer. „Da müssen wir nachhaken.“

„Wozu?“

„Weil das mit unserem Problem zu tun hat.“

„Die 20 Blauen für eine schöne Leich, die er seiner Mama gefladert hat? Und der Poltergeist, der zusammen mit den Motörhead aus dem kaputten Radio gefahren ist?“

„Richtig.“ Der Trainer macht einen großen Schluck, wischt sich den Bierbart von der Oberlippe und schenkt mir sein Siegerlächeln.

Ich bin dem Quell-Poldl ewig dankbar für sein perfektes Timing. Er kommt mit dem großen Gulasch und einem Körberl Gebäck genau in dem Augenblick an unseren Tisch, als ich dem Trainer die Frage stellen will, die ihn garantiert sofort und für unbestimmte Zeit zum Abbruch unserer gutfreundschaftlichen Beziehungen veranlaßt hätte: Liegt es im Bereich des Möglichen, hätte ich ihn beinahe gefragt, daß einer deiner Scheißcomputerviren auch das menschliche Gehirn befallen und in den grauen Zellen eines Menschen wie du und ich urplötzlich und ohne Vorwarnung heimtückische Verwirrung, geistige Umnachtung und hochgradigen Schwachsinn auslösen kann?

So aber sage ich nur“Super!“ zu dem extra großen Gulasch, einer der Spezialitäten des Hauses, und „Scheiße!“ als mir der Wirt eröffnet, daß ich am Telefon verlangt werde.

„Der Herr Josef vom Rallye. Soll ich Dir das Gulasch einstweilen warmstellen, Kurtl?“ fragt der Quell-Poldl, wie immer um mein leibliches Wohl besorgt. Ich bitte ihn darum und auf dem Weg zur Telefonzelle danke ich den zuständigen Göttern, daß sie mich zumindest gastronomisch so verwöhnen.

„Der Herrgott ist ein Musterwirt“, lautet eine alte Operettenweisheit. Demnach ist der Besitzer des Gasthaus Quell sein leiblicher Sohn. Er vollbringt wahre Wunder in Küche und Keller. Und das Service ist unerreicht. Vorausgesetzt, der Gast weiß die Deftigkeit der traditionellen Wiener Küche und den herben Charme der westlichen Vororte zu schätzen. Wenn zu mitternächtlicher Stunde der Quell seine Pforten schließt und mit Ansteigen des Alkoholpegels die Ansprüche sinken, ist es nur einen Katzensprung ins Café Rallye, wo der Herr Josef auf seine unnachahmliche Art für die Erbauung seiner Gäste sorgt.

„Tschuldigen die Störung, Herr Kurt“, brüllt es aus dem Hörer, „Weinhofer spricht, der Herr Josef!“

Im Hintergrund plärren Nazareth „Love Hurts“ aus dem Rallye-Wurlitzer. Das ist eine von zwei Dutzend Singles, die vor drei Jahren im Zuge einer verlorenen Wette den Besitzer gewechselt haben. Weder der Herr Josef noch ich wissen, was der Grund unserer Wette war, wir sind uns auch nicht wirklich sicher, wer sie tatsächlich verloren hat, Tatsache ist aber, daß ewige Werte wie Let’s Spend The Night Together“, „Whole Lotta Love“, „Atlantis“, „Alright Now“, „Oye Como Va“ (der Herr Josef sagt immer Oide, kumm oba“ und lacht), und Ollas wos i brauch“, mein einziges Exemplar meiner ersten, seit gut 18 Jahren vergriffenen Single, über Nacht von meinem Plattenregal in seinen Musikautomaten übersiedelt sind. Aber dort werden sie wenigstens regelmäßig abgespielt, vorausgesetzt der Herr Josef hat mehr als drei Gäste.

„Es is wegen dem Wickerl! Schrecklich!“ brüllt er weiter gegen Nazareth an. „Der Rudi is grad bei mir. Und er hat was gfunden, das sollten Sie sich anschauen, Herr Kurt. Ich mein, wann’s Ihnen nicht ungelegen kommt, einen Sprung vorbeizuschauen. Weil der Rudi und ich kennen uns da nicht so aus.“

„Was hat der Rudi gefunden?“

„Bei mir in der Schupfen, im Hof, Sie wissen schon, Herr Kurt.“ Ich weiß wieder einmal gar nichts, und der Zustand geht mir schön langsam auf die Nerven. Aber ich verspreche dem Herrn Josef, nach dem Verzehr meines Gulasch vorbeizukommen und eine Fachkraft mitzubringen.

„Mahlzeit, Herr Kurt!“ schreit der Herr Josef dankbar in den Hörer.

„Lokalwechsel!“ schlage ich dem Trainer vor, der sich in meiner Abwesenheit mit dem Kreuzworträtsel des Kronenblattes beschäftigt hat. Mit mäßigem Erfolg.

„Ich hab um halb neun einen wichtigen Termin“, sagt er.

„Kein Problem“, sage ich.

„Bist Du sicher?“

„Ziemlich.“

„Okay, vergiß es. Ohne mich“, winkt er ab.

Zwei Biere später beschließt er, den Termin sausen und seine froschgrüne Rostschüssel stehen zu lassen und mich im Regen ins Rallye zu begleiten.

So ist er, der Trainer. Umständlich, aber verläßlich.