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Ein Sonntagnachmittag im Meidlinger Unfallkrankenhaus hat auch seine Momente.

„Und wie ich zum Brunner sag, daß es zwei Typen gewesen sind, nämlich der Riegel, der die Bananensteigen getragen hat und sein Kollege, der mich von hinten gepackt hat, da hab ich geglaubt, jetzt kriegt mir der Kieberer auf der Stelle einen Herzkasperl und legt sich zu mir ins Nachbarbett“, sagt der Herr Josef und lacht. „Da hätt ich wenigstens eine Ansprach. Weil der senile Krauterer neben mir, der schimpft ja Tag und Nacht nur auf seinen Sohn und seine Schwiegertochter, weil s’ angeblich sein Kürschnergschäft durchbracht haben und jetzt wie die Geier drauf warten, daß sie seinen Schrebergarten am Schafberg erben.“

Der Herr Josef darf noch nicht aufstehen. Aber als ich zu Beginn der Besuchszeit in sein Zimmer gekommen bin, war das Bett leer.

Ich fand ihn im Besucherraum, und er stritt gerade mit der Martha, seiner jüngeren Schwester. Sie wollte, daß er zurück ins Bett geht. Und er wollte ein Packerl Zigaretten. Daß sie ihm fünfzehn Deka ungarische Salami mitgebracht hat, stimmte ihn dann wieder versöhnlicher, denn die Schonkost, auf die man den Patienten gesetzt hat, die ist ja nicht zum Fressen.

Seit die Martha gegangen ist, muß ich immer wieder nach der Oberschwester Ausschau halten. Und wenn die hantige Rotgefärbte nicht in Sicht ist, raucht sich der Herr Josef eine meiner Zigaretten an.

„Der Brunner war fest davon überzeugt, daß es ein Täter ist“, sage ich, „ein Wahnsinniger, der im Blutrausch zuerst den Wickerl und dann den Rudi...“

„Ich hab zwar eine Feste aufs Dach gekriegt“, unterbricht mich der Herr Josef. „Aber deppert bin ich davon nicht geworden. Ich weiß, was ich gesehen hab. Und der Riegel, der grad die Kisten aus der Schupfen tragen wollte, wie ich reinkommen bin, der hat mir auch nicht wie ein Wahnsinniger ausgschaut. Viel Muskeln und nix im Hirn. Aber nicht wie ein Irrer. Weil die wirklich Irren sind meistens wahnsinnig gscheit. Auf ihre Art. Ich hab ihn dem Brunner beschrieben, und gestern Vormittag waren dann noch zwei andere Kieberer da, und wir haben ein Phantombild gezeichnet. Wissen S’ eh, wie im Fernsehen, mit solche Schablonen, Frisur, Augen, Nase, Mundpartie. Der Brunner war begeistert. Er hat gsagt, das ist das Porträt von einer alten Kundschaft, der er jetzt gleich das Wochenend versauen wird. Und weg war er, der Brunner, und is seitdem nicht mehr auftaucht.“

„Und der zweite Typ, den haben Sie nicht gesehen?“ frage ich.

„Na, Sie sind mir ein Detektiv“, sagt der Herr Josef milde. „Wie soll ich jemanden erkennen, der mich von hinten an der Gurgel packt und mir dann ein Scheitel Holz übern Schädel haut? Glauben S’ er hat sich vorher bei mir vorgestellt und entschuldigt?“

Der Herr Josef lacht und ich lache mit. Aus Höflichkeit.

Nein. Ich bin kein Detektiv. Weil ich die Nachteile dieses Jobs aus meiner Profession nur zu gut kenne: viele leere Kilometer, viel sinnloses Warten, unregelmäßige Arbeitszeit, ungesunde Ernährung, ein schlechter Umgang und noch schlechtere Bezahlung. Der entscheidende Unterschied ist nur: Wenn der Detektiv sein halbes Leben unter solchen Bedingungen zubringt, ist er eines Tages so mit den Nerven fertig, daß er anfängt grobe Fehler zu machen, und das endet eines Tages tödlich. Dem zerrütteten, grob fehleranfälligen Musikanten hingegen droht bloß der Abstieg in die nächst untere Spielklasse, wo er sich aber immer noch mit Vollplayback-Auftritten in Landdiscotheken ins Pensionsalter retten kann.

Ich mache mir sozusagen als interessierter Laie ohne detektivische Ambitionen, der durch einen Lieferschein in der Hosentasche des Auer Wickerl in mittlerweile zwei Mordfälle geraten ist, halt so meine Gedanken.

Und wenn, wie der Herr Josef am eigenen Leib erfahren hat, zwei Täter in seinem Schuppen tätig waren, dann sieht das für mich ganz so aus, als hätte Media Sales zwei freie Mitarbeiter ins Rallye geschickt, um die falschen Whitneys, die der Wickerl entführt und in seine Bananenkisten gesperrt hat, wieder heimzuholen.

Und dabei kam ihnen als erstes der Rudi in die Quere, und dann der Herr Josef.

Aber woher wußten die Piraten von den Kisten im Schuppen? Hat ihnen der Wickerl sein Versteck verraten? Bei einem kurzen nächtlichen Gespräch in der Sechshauser Straße, das mit seiner Hinrichtung endete? Wenn die Angelegenheit den Piraten dermaßen unter den Nägeln brannte, daß sie den Wickerl auf offener Straße umlegen ließen, begreife ich nicht, weshalb sie sich bis Freitag Nachmittag mit dem Abholen der Kisten Zeit gelassen haben. Warum erledigten sie den Wickerl und den Abtransport der Kisten nicht gleich in einem Aufwaschen? Oder zumindest gleich in der nächsten Nacht? Nachdem ich mit Marlene gegangen war und der Herr Josef das Rallye zugemacht hatte, wären sie im Schuppen völlig ungestört gewesen.

„Und die drei Kisten vom Wickerl sind weg?“ frage ich den Herrn Josef, der sich die nächste Zigarette anzündet.

„Weg. Sagt der Brunner“, hustet er.

„Und dem Wickerl sein Janker auch“, sage ich. „So. Das war die letzte für heute, Herr Josef.“

Ich packe die Zigaretten ein. Der Herr Josef ist damit nicht einverstanden.

„Ich hab nicht TBC, ich hab sechs Nähte in meinem Blutzer und eine Gehirnerschütterung, eine leichte,“ sagt er. „Und wenn die Kisten weg sind, ist auch der Janker weg. Weil ich ihn dem Rudi mitgegeben hab nach hinten, daß er ihn zu den anderen Sachen vom Wickerl legt. Ich wollt ihn nicht länger im Lokal herumhängen haben.“

Der Herr Josef raucht und schweigt.

„Herr Kurt“, sagt er dann leise. „Ich will, daß die Mörder gefaßt werden. Der Rudi war keine große Leuchte, das wissen Sie, aber er war ein herzensguter Mensch. Und ich will, daß die zwei büßen für das, was sie mit ihm gmacht haben. Mit dem Rudi und mit dem Wickerl. Wann Sie oder der Herr Trainer was wissen, das dem Brunner weiterhilft, dann reden S’ bitte mit ihm. Ich hab zu ihm nix gsagt, daß Sie am Donnerstag in der Schupfen waren und sich die Kisten angschaut haben, aber wann Sie jetzt mit ihm reden würden, ich glaub, das wär eine große Hilfe.“

Ich nicke und wünsche mich und den Herrn Josef ins Rallye, wo er mir einen Scharlachberg nach Art des Hauses einschenkt. Dermaßen gestärkt könnte ich ihm eher erklären, daß das mit dem Brunner mittlerweile eine ziemlich komplizierte Sache ist.

Der Trainer, der Doc und ich haben da nämlich allerhand verschissen. Unterschlagung von Beweismaterial, heißt das, glaub ich, im Fachjargon. Und Behinderung der polizeilichen Ermittlungen.

Ich hätte meinen beiden Experten die gefälschten Whitney-Houston-Platten und die Cassetten mit Fürst Astaroths Thanksgiving-Party zumindest gleich nach unserer Privatvorführung wieder abknöpfen sollen und Brunner zur weiteren Prüfung aushändigen. Und noch schlauer wäre es gewesen, gleich nach dem ersten Blick auf den dubiosen Inhalt der Kisten die Polizei anzurufen.

Die hätte wahrscheinlich das Geheimnis der falschen Whitney nicht so rasch gelöst wie Trainer und Trash. Aber wenn sie sich den Astaroth-Gschnas bis zum launigen Ende angeschaut hätte, dann hätte Brunner im neuen „AAS-Girl des Jahres“ sofort die von ihm zum Tod des Wickerl befragte Elfriede Tomschik wiedererkannt.

Keine Ahnung, wie Profis mit solchen Erkenntnissen umgehen. Aber ich schätze, so ähnlich wie ihre Kollegen im Kino. Sie lassen also zum Beispiel ein sensationelles Rendezvous im Haas-Haus platzen, ihre Katzen ausnahmsweise eine Nacht lang hungern und sogar die ganze japanische Wahrheit über Mayerling unenthüllt, machen sich auf die Socken und gehen den Hinweisen nach, so lang die Spur noch heiß ist.

Was sich Kurti und die Detektive bisher geleistet haben, war Pfusch. Ich fürchte, der größte Pfusch meines Lebens.

Und ich hab gar kein gutes Gefühl, als die Oberschwester ausgerechnet mit Brunner das Besucherzimmer stürmt.

„Ein Mal noch, Herr Weinhofer, und Sie kommen ins Gitterbett!“ kreischt sie. „Der Herr Oberinspektor sucht Sie schon im ganzen Stock. Wir sind ein Spital und kein Kaffeehaus! Also gemma gemma, ins Zimmer und unter die Tuchent!“

Sie nimmt dem Herrn Josef die Zigarette weg, tritt sie am Boden aus und will ihren bettlägrigen Patienten vom Sessel hochziehen.

Brunner interveniert. Und weil es sich auch um eine Sache des Sicherheitsbüros handelt, darf der Herr Josef ausnahmsweise noch zehn Minuten sitzen bleiben. Dann aber wird sie ihn eigenhändig zurück ins Bett bringen, wenn’s sein muß am Schlawittl.

„Und die Nachspeis is heut gestrichen, damit wir uns das merken, Herr Weinhofer!“ verkündet die Hantige ihr Urteil.

Dann rauscht sie ab.

„Na, meine Herren“, sagt Brunner. „Was gibt es Neues?“„Sie haben gestern beim Dings, beim Trainer angerufen“, beeile ich mich.

„Hat sich erledigt“, sagt Brunner, zieht ein Foto aus der Tasche und legt es vor dem Herrn Josef auf den Tisch. Mit der Rückseite nach oben.

„Hat sich alles erledigt. Quasi von selber. Soll ich Euch ein paar Neuigkeiten erzählen?“

„Bin ganz Ohr“, sage ich.

„Haben Sie ihn?“ fragt der Herr Josef.

Brunner dreht langsam das Foto um.

„Das is er. Das Gesicht erkenn ich unter tausend Gesichter wieder, mein Lebtag lang“, sagt der Herr Josef und starrt auf das Foto.

„Aber was is denn dem passiert?“

Ich werfe einen Blick auf das Bild. Entweder ist der zirka Vierzigjährige schon sein ganzes Leben mit einer derart fleischigen, breiten Visage gestraft, oder es hat sie erst kürzlich jemand so breitgeklopft. Das getrocknete Blut um die verschwollenen Augen und unter der Nase lassen eher letzteres vermuten.

„Unser Ederl“, erläutert Brunner. „Ederl der Große. Eduard Jerabek. Baujahr 1949. Zwei Meter hoch. 130 Kilo schwer. Stark wie ein Stier und blöd wie ein Ochs. Ein Stammkunde von uns. Einbruch. Raub. Nötigung. Körperverletzung. Insgesamt zehn Jahre Schmalz.“

Auch wenn es am Freitag im Rallye nicht so ausgesehen hat: Brunner liebt seinen Beruf. Aber wahrscheinlich tut das jeder, wenn er plötzlich, spät und unerwartet Erfolg hat.

Und Ederl der Große ist ein Erfolg. Er hat gesungen. Trotz der zwei ausgeschlagenen Zähne. Den ganzen Sonntagvormittag. Ein Lied nach dem andern. Sein gesamtes Repertoire.

„Schöner wie Sie, Herr Doktor“, sagt Brunner, und fügt hinzu „für meinen Geschmack.“