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Das Leben ist bekanntlich ein Hund. Also gönnt es mir nach einer langen Nacht in Marlenes Pastell-Palast, die nach einem üppigen Frühstück bis in den späten Nachmittag hinein prolongiert wurde, keine Stunden der Einkehr und Besinnung.
Konträr: von unserem Refugium jenseits von Zeit und Raum verschlägt es mich, nach kurzem Zwischenstop in meiner bescheidenen Hütte, in die resopale Realität der Berufsschule Längenfeldgasse.
Festsaal. 20 Uhr 30. Die beiden Vorgruppen, „Doomesday“ und „Fist F*ck“, konnten das Publikum anscheinend nicht in die Knie zwingen. Die zirka 500 mehrheitlich männlichen Konzertbesucher sind in bester Bierlaune, geben sich alle Mühe, wild und gefährlich auszusehen, und ein paar sind es auch.
Als ich, in Begleitung des Trainers und seiner Frau Katharina, das überfüllte Foyer betrete, formieren sich eben sechs rauhe Gesellen, deren Applikationen auf den Jeansjacken die Vermutung nahelegen, daß sie lieber Danzig, Iron Maiden und Metallica hören würden als das lokale Package Doomesday / Fist F*ck / Mom & Dead, zu einem Stoßtrupp und unternehmen ohne Rücksicht auf Verluste einen Vorstoß in Richtung Ausschank. Das Handgemenge veranlaßt das Dutzend schmalbrüstiger Ordner zum geordneten Rückzug, und der Stoßtrupp kriegt sein Bier vor allen anderen. Wer das nicht richtig findet und es wagt, laut Kritik anzubringen, kriegt ein Bier ins Gesicht.
Angesichts der Turbulenzen an der Ausschank verzichtet Katharina auf ihren Gspritzen, und der Trainer und ich auf unseren Hopfentee. Ein Teenager mit Bon Jovi am Leiberl will von mir ein Autogramm. Für seinen Vater. Und zwei auf volljährig geschminkte Vierzehnjährige, die laut T-Shirt Vorhaben, 4 Non Blondes bis in den Tod zu folgen, fragen mich kichernd, ob ich wirklich der Kurtl bin.
„Nein“, sage ich.
„Na sixt“, sagt die eine im Weggehen, „Ich hab dir gleich gsagt, der Typ is viel zu alt.“
Wir ziehen uns in das Dunkel des Saales zurück. Auf der Bühne wird umgebaut, und die Lautstärke der Pausenmusik läßt Fürchterliches erahnen.
„Super Idee“, brülle ich dem Trainer ins Ohr.
„Eh“, brüllt er zurück.
Und Katharina gähnt. Sie hat die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil die drei Katzen der Trainer-Familie die ganze Nacht kein Auge zugetan haben. Sie lieferten sich eine wilde Schlacht um die Hühnerschnitzel, die zum Auftauen auf der Abtropftasse der Abwasch lagen.
Trotz schwerer Übermüdung will sich Katharina das erste Konzert von „Mom & Dead“ mit neuem Bassisten nicht entgehen lassen. Erstens, vermute ich, weil ihr der Trainer lang und breit von der Gefährlichkeit und den Ausschweifungen der singenden Satansbraut Donna erzählt hat und Katharina jetzt um das seelische Wohl und die körperliche Sicherheit ihres Gatten besorgt ist; und zweitens, weil der Nachfolger des Auer Wickerl ein alter Bekannter des Trainer-Paares ist und seinen Freunden gleich ein Freikartenkontingent in beinah unbegrenzter Höhe angeboten hat.
Der Neue ist, im Unterschied zum Wickerl, eine verläßliche Kraft, heißt Thomas „Turbo“ Turnstaller, und auch ich bin ihm in den vergangenen zwanzig Jahren in diversen Proberäumen, Garderoben und Studios des öfteren über den Weg gelaufen. Ein zurückhaltender netter Mensch und kompetenter Musikant, der sehr früh erkannt hat, daß man in der heimischen Szene nur in Ruhe alt werden kann, wenn man sich die Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons aneignet.
Ich sah den jungen Turbo bei seinem ersten Job, als Bassisten des lokalen Santana-Verschnitts“Abraxas“ mit Stirnband und Hippiemähne; ich sah ihn wieder mit wasserstoffblonder Stachelfrisur als“Sting von Wien“ in der Neue-Welle-Combo“Tanzverbot“; ich sah ihn zuletzt im Fernsehen, bei einer“Song Contest“-Vorausscheidung, mit Stirnglatze, Schnurrbart und im Smoking.
Und in all den Jahren mit ihren Moden, Trends und Maskeraden blieb er seinem Markenzeichen treu: Der Turbo stand immer auf der Bühne wie ein Hydrant.
Daß dieser alte Freund der Familie gestern angerufen und den Trainer plus Anhang zu seiner „Mom & Dead“-Premiere eingeladen hat, kann kein Zufall sein. Das ist mindestens ein Wink des Schicksals.
„Sowas spür ich im Urin“, meinte der Trainer am Telefon, als er mich endlich, gleich nach meiner Rückkehr aus Marlenes Suite, daheim aufgespürt hatte.
Das klang einleuchtend. Dagegen hatte ich keine überzeugenden Argumente. Mein bescheidener Einwand, wir sollten angesichts der gestrigen Tragödie im Schuppen des Rallye die ganze Angelegenheit vielleicht doch besser Leuten überlassen, die etwas von ihrem Handwerk verstehen, dem Duo Brunner/Skocik zum Beispiel, wurde vom Trainer mit einem gequälten Stoßseufzer abgeschmettert
„Dazu is es jetzt zu spät“, sagte der Trainer. „Apropos: dein Brunner hat vorhin bei mir angerufen und was aufs Band geredet. Er kann dich nicht erreichen, es ist dringend und außerdem alles ganz anders, und du sollst dich bei ihm melden.“
Was ich nach dem Telefonat mit dem Trainer nicht getan habe, weil der alte Karasek anrief, um mich daran zu erinnern, daß ich morgen, Sonntag, in Stockerau zum Mittagessen erwartet werde und im Anschluß daran zur feierlichen Erstaufführung von drei fast fertigen Nummern, die der „King“ unter der Regie seines Sohnes, des Prinzen, im familieneigenen Heimstudio eingespielt hat.
Nachdem ich den „King“ durch meine Absage schwer beleidigt hatte, dachte ich an Marlene, und daß morgen unser letzter Tag sein würde, abends um halb sieben geht nämlich ihre Maschine nach Paris.
Für Brunner war kein Platz in meinen Gedanken, aber jetzt in dem Höllenwirbel fällt mir der überforderte Kriminalbeamte wieder ein.
„Sonst hat er nix gesagt?“ brülle ich den Trainer an, der seinerseits Katharina anbrüllt. Es geht um Katzenpolitik.
„Wer?“ schreit der Trainer.
„Der Brunner.“
„Nein. Aber in den Nachrichten haben sie gesagt, daß eine Sonderkommission den Fall übernehmen wird. Ab Montag.“
Dann geht das Saallicht aus und rote Nebel ziehen über die Bühne.
Der Schlagzeuger spielt schneller als ich hören kann. Turbo, der Hydrant, trägt heute schwarzes Leder und ein Schirmkapperl mit Totenkopf. Der Gschwinde kommt im Laufschritt auf die Bühne, schleift sich auf den Knien ein und spielt mit den Zähnen ein Intro, über dessen musikalische Aussage ich leider nichts berichten kann, weil es mir beim ersten Ton die Ohren verschlägt.
Das doch deutlich jüngere Stammpublikum zeigt sich beeindruckt. Aber so richtig in Fahrt kommt es erst, als nach etwa fünf Minuten Donna mit ihrem Auftritt die leidige Stilfrage ein für alle Mal beantwortet.
„Mom & Dead“ sind Sex-Metal. Da fährt die Eisenbahn drüber.
Daß Donna ein fachkundiges Publikum zu unterhalten weiß, das hat sie in dem AAS-Video eindrucksvoll bewiesen. Der staunende Laie in der Berufsschule Längenfeldgasse ist von ihrer Performance aber geradezu gefesselt. Und daß Donna nicht nur mit den unübersehbaren Attributen ihrer Weiblichkeit auffährt, sondern auch über eine ganz passable Rockröhre verfügt, verleiht ihrer Vorstellung eine zusätzliche Dimension, die den vorstädtischen Resopal-Rahmen dieser Veranstaltung eindeutig sprengt.
In den exakt kalkulierten 50 Minuten ihres Sets sagt Donna kein Wort zu ihrem Publikum, kein“Hällo“ und auch kein“Pfiat euch“, was dem kritischen Betrachter so manche Peinlichkeit erspart, sie läßt den Lärm ihrer drei Begleiter sprechen, die Bühnenwirksamkeit ihrer strengen Klamotten aus dem AAS-Versandhauskatalog, den Christbaumbehang auf ihren Titten und eine Auswahl an Requisiten, die auch dem absolut Unbedarften in der letzten Reihe klarmachen, was uns die Künstlerin mit Versen wie „All you need is discipline / I’m gonna be your Bondage Queen“ sagen will. Eine Band auf dem Weg nach oben, lautet das Urteil des Trainers.
Ich muß ihm beipflichten, obwohl Donnas Sinn für subtile Erotik nicht so ganz mein Fall ist.
Auf Katharina hat anscheinend weder die extreme Lautstärke, noch der clever inszenierte Gruselsex der Darbietung den gewünschten Effekt. Sie ist eingenickt und schlägt erst wieder die Augen auf, als „Mom & Dead“ für eine Zugabe wiederkommen.
Nach dem Blue-Öyster-Cult-Medley „Dominance And Submission / Golden Age Of Leather / Hot Rails To Hell“ ziehen wieder rote Nebel über die Bühne, und das Publikum drängt zu dem Verkaufsstand im Foyer, an dem „Mom & Dead“-Leiberln und „Mom & Dead“-Schirmkappen (aus Leder-Imitat) feilgeboten werden. Ein bescheidenes Angebot, aber gegen einen Unkostenbeitrag von öS 20.- wird dem Konzertbesucher über 18 auch der AAS-Katalog ausgefolgt, mit Donna am Cover und Donna plus Feschak in Leder, Lack und Latex auf 32 farbigen Seiten.
Wir nehmen ein Exemplar mit hinter die Bühne. Katharina studiert bei einem weißen Spritzer, was sie in der vergangenen knappen Stunde verschlafen hat, während der Trainer und ich die relative Stille in dem Gang vor den Garderoben genießen und mit dem Turbo über alte Zeiten und neue Aufgaben plaudern.
„Mom & Dead“ werden in den nächsten Monaten ihr erstes Album aufnehmen, das Songmaterial dafür haben wir heute gehört, und nach der Veröffentlichung im März/April ist eine Tournee geplant. Ein Dutzend Festivals, Jobs als Vorgruppe amerikanischer Heavy-Metal-Riesen, und im Sommer der Sprung über den großen Teich. Wenn alles klappt, spielen „Mom & Dead“ eine Club-Tour in Kalifornien und dem Südwesten. Der Turbo ist optimistisch. „Weil in der Band is nix typisch österreichisch“, sagt er. „Die Elfi weiß ganz genau, was sie will. Die macht Nägel mit Köpfen.“
Gleich darauf höre ich sie. Eine Stimme von beachtlichem Volumen dringt durch eine der drei Garderobentüren, auf denen Zettel mit dem „Mom & Dead“-Logo kleben.
„Ich hab freundlich Nein danke gsagt, und es hat nix gnutzt. Dann hab ich freundlich gsagt: Schleich di! Hat auch nix gnutzt. Also muß ich deutlicher werden ...“
Die Garderobentür fliegt auf.
Katharina blickt von ihrer Lektüre hoch und kann sich wenige Augenblicke später davon überzeugen, daß Elfriede“Donna“ Tomschiks dekorierte Oberweite auch unter einem selbstgestrickten Schlabberpullover alle uns aus der einschlägigen Fachliteratur bekannten Rekorde bricht.
Donna verweist einen jungen Mann in Bügelfalten-Jeans mit einer herrischen Geste ihrer Garderobe.
„Hau di über die Häuser, laß di obe, mach was du willst! Nur bitte, komm nimmer zruck!“
Der junge Mann wirft einen Blick in die stumme Runde und strebt dann mit hochrotem Kopf und wortlos dem Ausgang zu.
Donna wirft ihm einen Plastikordner nach.
„Da! Ned vergessen!“
Der Ordner fliegt ein kurzes Stück, dann flattern ein paar Bogen Schreibpapier vor meinen Füßen zu Boden.
„Der Dichter?“ fragt der Turbo und deutet mit dem Kopf grinsend in die Richtung, in die der ungeliebte Besucher abgegangen ist.
„Der Dichter“, bestätigt Donna. „Und wo is das nächste Arschloch?“
Sie wirft einen funkelnden Blick in die Runde. Als sie bei mir angelangt ist, stutzt sie und legt ein andere Platte auf.
„Tag. Ich bin die Donna. Und du bist der Kurtl“, sagt sie deutlich freundlicher. „Laß den Scheißdreck liegen.“
Aber da habe ich den Ordner und die losen Blätter bereits vom Boden eingesammelt. Immerhin handelt es sich um das achte Buch eines Versepos in der Tradition von Wolfram von Eschenbach. Steht da, in dem kurzen Begleitschreiben.
Der Turbo macht seine Chefin mit Katharina und dem Trainer bekannt, sie nickt kurz und ohne großes Interesse in ihre Richtung und wendet sich gleich wieder mir zu.
„Beeindruckt?“ sagt sie und schenkt mir den Anflug eines Lächelns.
„Mindestens“, sage ich.
Die heiße Donna ist ein Typ, bei der man sich nur verkühlen kann. Aber ich bin nicht da, um mit ihr warm zu werden. Ich bin da, weil der Trainer im Urin hat, daß uns das weiterbringt.
„Hast du fünf Minuten Zeit?“ sage ich.
„Für dich? Mindestens“, sagt Donna.