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Die mörderischen Vorkommnisse im Rallye haben nicht nur meinen Terminplan durcheinandergebracht.
Als ich um halb neun in der obersten Etage des Haas-Hauses aus dem Lift steige, bin ich weder frisch geduscht noch in Schale und muß auf die Empfangsdame einen derart hilflosen und verlorenen Eindruck machen, daß sie mich sofort und wie ein Schülerlotse den ihm anvertrauten Ta-ferlklassler durch den gedämpften Trubel des Restaurants in die Bar eskortiert. Dort werde ich abgegeben. Bei Marlene, die in einem jadegrünen Kostüm und vor einem jadegrünen Cocktail auf mich wartet.
„Schön“, sagt sie nur, als ich ihr gegenübersitze und nicht weiß, wo ich anfangen soll.
Wenn ich ihr als Entschuldigung für mein Zuspätkommen die Wahrheit erzähle, wirft das kein gutes Licht auf meinen Umgang. Wenn ich mich für die halbe Wahrheit entscheide, also Mord und (versuchten) Totschlag ausspare und mich auf die sechs Stunden der ungekürzten Videofassung von Fürst Astaroths Thanksgiving-Party ausrede, könnte Marlene einen völlig falschen Eindruck von meinen religiösen und sittlichen Prinzipien bekommen, wortlos aufstehen und das Lokal und mich auf Nimmerwiedersehen verlassen. Und wenn ich ganz einfach sage, daß ich die halbe Stunde, die sie hier sitzt und auf mich wartet, damit zugebracht habe, Willie Nelson in einen Bogen Geschenkpapier zu verpacken? Das weist mich zwar als Besitzer von zwei linken Händen aus, aber jeder Mensch hat so seine Fehler, und ich finde, man sollte nicht versuchen, sie vor dem Partner zu verbergen, denn früher oder später kommen sie ohnehin ans Licht und nichts ist schlimmer als ein spätes, böses Erwachen.
Also hole ich Willie Nelson aus der Tasche, lege ihn neben Marlenes jadegrünen Drink auf den Tisch und sage, daß sie ihn auch schon vor Weihnachten auspacken darf, und, wenn es ihre Neugierde nicht anders zuläßt, sogar jetzt gleich.
Marlene äugt ungläubig auf das Päckchen.
„Für mich?“ fragt sie auf französisch.
Dann strahlt sie. So muß sie als kleines Mädchen unter ihrem kanadischen Christbaum ausgesehen haben, vorausgesetzt, zu den franko-kanadischen Kindern von Quebec kommt das Christkind und bringt, wie sich das gehört, einen Weihnachtsbaum; oder reitet da der Santa Claus auf einem singenden Rentier ein, und das ausgerechnet durch den Kamin?
Marlene reißt in Rekordzeit das unter viel Mühen und Fluchen angefertigte Päckchen auf und redet auch noch in aufgeregtem Französisch vor sich hin, als sie Willie Nelson vom Geschenkpapier befreit hat.
„Schön“, sagt sie ein zweites Mal.
Und dann weint sie, glaube ich. So genau kann ich das bei der schummrigen Beleuchtung in der Bar nicht sehen. Jedenfalls schnieft sie, nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und schneuzt sich laut und deutlich.
Sofort ist ein Kellner an unserem Tisch.
„Haben die Herrschaften noch einen Wunsch?“
Ich zähle im Stillen die Scharlachberg mit Brunner und sage zu Marlene:
„Ich glaub, wir sollten langsam was essen.“
Am reservierten Fensterplatz mit Blick auf den Stephansdom esse ich ein Steak und Marlene ein Krustenoder Schalentier, dessen Verzehr einige Vorbildung erfordert. Ich hätte das rote Monster nach den ersten gescheiterten Versuchen, durch die knochenharte Schale zum fleischigen Kern vorzudringen, ja wieder zurückgeschickt mit der Bitte um eine krustenfreie Anfänger-Version, aber Marlene kennt sich aus und holt aus dem Panzer der seltsamen Kreatur zumindest ein paar Bissen an eßbaren Weichteilen heraus.
„Ausgezeichnet“, sagt sie.
Ich bleibe skeptisch. Und halte mich an den ausgezeichneten Weißen.
Als Nachtisch gibt es Beerenmus mit Schokoladesauce und die Geschichte von Bert. Er war Jazzmusiker in Berlin. Ein großer Freigeist und Trinker und Marlenes erster Mann. Sie hat in Berlin Deutsch und Kunstgeschichte studiert, nachts zur Aufbesserung des monatlichen Schecks aus dem fernen Elternhaus in einem Club serviert und sich dort in den Klavierspieler verliebt. 1972 wurde geheiratet, im sei-ben Jahr kamen die Zwillinge zur Welt, Sarah und Gilbert. Zwei Jahre später war Bert vom Jazz auf Werbe-Jingles gekommen, aber davon konnte man leben. Und dann ging er eines Sonntag morgens Zigaretten holen und kam nicht wieder. Er hat am Heimweg vom Zigarettenautomaten einen Bus übersehen, und der trennte Bert den Kopf ab.
Ich weiß nicht, ist es der Wein oder liegt es daran, daß ich in den letzten Tagen eine - zumindest für einen Urlauber - ziemliche Fülle an nicht ganz streßfreien Begegnungen und Erlebnissen hatte, aber in meiner Erinnerung klafft, in Bezug auf Marlenes Biografie, ein schwarzes Loch von mindestens zehn Jahren.
Es ist angeräumt mit Bilderblitzen von Tiefkühltruhen, Whitney-Houston-CDs, Elefantenköpfen, perforierten Brustwarzen, speckigen Lederjacken, Don-Johnson-Doubles, Blut.
„Was ist es?“ höre ich Marlenes Stimme.
„Was?“
„Was bedrückt dich?“
„Nixnix.“
„Rede ich zu viel?“
„Es is nix“, sage ich. „Nur das Alter. Das viele Essen. Kein Kaffee.“
Marlene lächelt mich an und nimmt meine Hand.
„Vielleicht später“, sagt sie. „Ich höre dir gerne zu.“
Ich habe plötzlich das Gefühl, daß Marlene viel besser Bescheid weiß als ich. Vielleicht nicht über den Tod vom Rudi und vom Wickerl und den Schlächter von Sechshaus. Aber über mich. Zum Beispiel.
Und das Schlimme daran ist, daß mich das garnicht stört.
„Letzte Nacht warst du an der Reihe“, sagt sie. „Und heute möchte ich dir etwas zeigen.“
Es ist zirka doppelt so groß wie mein Elendsquartier in der Reindorfgasse, in freundlichen Pastellfarben tapeziert, und sämtliche Elektrogeräte, von der Trockenhaube im Bad bis zum CD-Player mit Fernbedienung funktionieren einwandfrei.
Willie Nelson singt“Whisky River don’t run dry“. Und angesichts der mobilen Hausbar, die neben einem Sortiment an Scotch und Bourbon auch den feinen irischen und den mir nicht so geläufigen kanadischen Whisky führt, mache ich mir darüber keine ernsthaften Sorgen.
Marlene und ich testen in der lachsfarbenen Sitzgruppe im Wohn- und Arbeitszimmer ihrer Suite einen fünfzehn Jahre alten Canadian Club. Vielleicht liegt es an den Bleikristallgläsern, vielleicht an Marlenes Nähe, jedenfalls habe ich noch nie im Leben eine solch köstliche Kostbarkeit getrunken.
Für Marlene ist das Alltag. Sie kann, wenn ihr der Sinn danach steht, die gesamten Canadian Club-Vorräte des Hauses ordern und aussaufen, denn schließlich gehört ihr der Laden. Oder zumindest ihrem Mann.
„David kauft Hotels“, hat sie mich vorhin im Lift aufgeklärt, nachdem sie im Foyer vom Nachtmanager mit einer devoten Freundlichkeit empfangen worden war, die er garantiert nur bei staatstragenden Gästen raushängen läßt.
Madame Thompson hin, Madame Thompson her, haben Madame noch einen Wunsch, wünsche Madame wohl zu ruhen. Und das auf französisch.
Mister Thompson erledigt seine Hoteleinkäufe von seinem Schreibtisch in Quebec aus, die meisten der 144 Häuser, die er sich im Laufe eines langen, arbeitsreichen Lebens angeschafft hat, kennt er nicht einmal persönlich. Ihm reichen die Auslastungsquoten und Bilanzen, und eine repräsentative Frau, die acht Monate im Jahr die Welt bereist, in seinen Häusern logiert und die viele Freizeit damit verbringt, mit alten Standuhren zu handeln.
Das Palace ist seit vier Jahren Teil des Thompson-Imperiums. Wenn sich der Geschäftsgang nicht bald drastisch verbessert, wird es der alte David im nächsten Jahr abstoßen, an die Japaner oder an einen Scheich.
Marlene bleiben dann immer noch 143 Paläste auf drei Kontinenten, in denen sie gratis Canadian Club trinken kann. Allein.
„Weißt du, was geschehen ist?“ sagt sie, als ich mit dem Glas in der Hand in der Tür zum Badezimmer stehe und drei Marlenen dabei zusehe, wie sie vor den getönten Spiegelfliesen aus ihren jadegrünen Kostümen steigen.
„Nicht genau“, sage ich.
Die drei Sensationen tragen jadegrüne Unterwäsche, aber nur eine sagt:
„Ich habe mich verliebt. Und das ist nicht gut.“