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Als ich am Nachmittag wieder zu mir komme, sehen die Welt und das Gästezimmer des Doc nicht wesentlich anders aus.
Doch dem aufgeregten Stimmengewirr nach zu schließen, das aus dem Arbeitszimmer herüberdringt, habe ich irgendwas Weltbewegendes verschlafen. Auf dem Weg zum Klo werfe ich einen Blick in die Schreibstube:
Das Mörderspiel funktioniert wirklich und scheint aufregender zu sein als ein Pokerabend beim Kohlen-Güntl. Denn um den Computer hat sich eine wild gestikulierende Vierergruppe versammelt. Der Doc sitzt händeringend vor dem Monitor, und seine erhitzten Mitspieler geben ihm gleichzeitig die widersprüchlichsten Kommandos.
„Ich tu was ich kann“, weist er die Spielrunde zurecht, „aber so geht’s wirklich nicht!“
Und dann sein Spruch zum Tag: „Immer eins nach dem andern.“
Auf leisen Sohlen, um die Herren durch mein plötzliches Auftauchen nicht noch mehr aus der Fassung zu bringen, setze ich den Weg zur Toilette fort und muß dabei an meine Mutter denken: Anläßlich eines ihrer seltenen Konzertbesuche - ich glaub, der Auftritt fiel mit meinem vierzigsten Geburtstag zusammen - sagte sie, als sie nach der Show in meine Garderobe kam und ihren Sohn verschwitzt und schwer gezeichnet von drei Stunden Tanzen und Singen auf dem Klappbett liegen sah: „Wie die Kinder. Ihr Männer werds euer Lebtag nicht erwachsen.“
Müttern fehlt vielleicht der nötige Abstand zu einer objektiven, fundierten Konzertkritik, aber manchmal sagen sie Sachen, die der Wahrheit ziemlich nahe kommen.
Die vielen schlaflosen Nächte, die Trainer und Trash mit ihrem eisernen „Felix“ oder „Helix“ am Computer verbringen, weisen sie nicht gerade als besonders vernunftbegabte, erwachsene Menschen aus. Was man Lebenskünstlern und Privatgelehrten jedoch nicht zum Vorwurf machen sollte.
Aber daß auch die beinharten Profis Brunner und Skocik wie die Kinder, und noch dazu in ihrer Dienstzeit, mit der Maus Jagd auf den virtuellen Mörder machen, stärkt mein Vertrauen in die Schlagkraft der Exekutive nicht sonderlich.
„Wieder frisch und munter, Herr Doktor?“ sagt Brunner, als er mir im Vorzimmer, angelockt durch das Rauschen der Klospülung, entgegenkommt. „Wirklich beachtlich, was Sie und die Herrn Kollegen in der kurzen Zeit auf die Beine gestellt haben. Alle Achtung.“
„Ahja?“ sage ich vorsichtig. „Gfallt’s Ihnen?“
Brunner ist beeindruckt. Und nicht mehr (oder noch nicht?) böse, daß drei blutige Amateure den Professionisten vom Sicherheitsbüro seit Tagen ins Handwerk pfuschen. Im Gegenteil. Brunner findet es bemerkenswert, wenn nicht sogar vorbildhaft, mit wie viel Einsatz, Verve und Umsicht ich seiner Bitte, mich doch in meiner Welt nach wichtigen Hinweisen umzuhören, Folge geleistet habe.
„Das war ganze Arbeit“, sagt er. „Ganze Arbeit.“
Als flexibler Mensch freut man sich natürlich über so viel Lob aus berufenem Munde. Aber ich vergesse auch nicht, den Eifer von Trainer, Doktor Trash und ihrem besten Freund, dem Computer, zu würdigen. Brunner sieht das ähnlich, meint aber, ohne die Verdienste meiner Expertengruppe schmälern zu wollen, daß es letztendlich immer der Hartnäckigkeit, um nicht zu sagen Besessenheit, eines führenden Kopfes bedarf, um eine Operation wie diese zu ihrem erfolgreichen Abschluß zu bringen.
„Hmm“, sage ich.
War ja doch kein Fehler, dem Kollegen Skocik Telefonnummer und Adresse meines heutigen Termins ins Telefon zu brüllen, ehe die Verbindung endgültig Opfer eines mittleren Seebebens wurde. Denn das Auftauchen der beiden Krimineser während meiner Mittagsruhe hat nicht nur einige Unklarheiten, unser privatdetektivisches Vorgehen betreffend, ausgeräumt, sondern scheint auch auf spielerischem Wege zur Ergreifung oder zumindest Umzingelung des Schlächters von Sechshaus geführt zu haben.
Und ich weiß wieder einmal von garnix.
Brunner ist mir im Moment keine große Hilfe. Während er mich in die Küche begleitet, wo der Doc theoretisch noch ein paar Flaschen Bier vorrätig haben müßte, beklagt er sich über den antiquierten Gerätepark, der ihm für eine moderne Verbrechensbekämpfung zur Verfügung steht, und lobt sich halt das Equipment des Doktor Trash und des deutschen Bundeskriminalamtes.
Die Kollegen in der Piefkei haben innerhalb einer halben Stunde in dem nach den Angaben von Ederl dem Großen angefertigten Phantombild von Rudis Mörder den international zur Fahndung ausgeschriebenen Ulrich Höhne erkannt: geboren in Dresden, einst Mitglied einer DDR-Olympiastaffel im Hürdenlauf, dann auf die schiefe Bahn geraten und in Hehler- und Schieberkreisen im goldenen Westen Karriere gemacht als Mann fürs Grobe.
„Der is Gottseidank nimmer unser Bier“, sagt Brunner. „Den erledigen die Deutschen. Über kurz oder lang. Seiner letzten Verhaftung hat er sich entzogen, indem er in Hamburg eine Funkstreife in der Alster versenkt hat. Inklusive Besatzung.“
„Auch ein Bier?“ sage ich.
Brunner nickt, zieht zwei Zettel aus der Tasche, faltet sie auf dem Küchentisch auseinander und streicht sie glatt.
„Warum ich Sie ursprünglich sprechen wollte, Herr Doktor“, wechselt er mit Erhalt einer Flasche Gösser das Thema. „Sagt Ihnen einer der Namen was?“
Ich überfliege die Liste von zirka hundert Namen und Adressen aus dem gesamten Bundesgebiet und finde darunter gut ein Dutzend, das jeder in diesem Lande kennt.
„Bekannt aus Film, Funk und Fernsehen“, sagt Brunner. „Die meine ich nicht. Schaun S’ noch einmal genauer.“ „Naja“, sage ich nach nochmaliger Durchsicht. „Der Christian Nagy ist, glaub ich, der Gschwinde und spielt bei ‘Mom & Dead’ Gitarre, der Tobias Kern is dort Schlagzeuger. Und der Turnstaller, genannt Turbo, ist ein alter Freund der Trainer-Familie, ein verläßlicher Bassist und Nachfolger des verblichenen Ludwig Auer. Aber was is das für eine Liste?“
„Die hat mir die Frau Tomschik freundlicher Weise überlassen“, sagt Brunner. „Das ist die Einladungsliste zu ihrer Party oder Modenschau, oder was weiß ich.“
Skocik kommt wie gerufen. Er sucht das Klo und findet, was er sucht, in der Küche. „Da schau her, der Herr Ostbahn. Frisch is anders. Ham wir uns letzte Nacht ein bißl übernommen bei der Frau Tomschik, was?“
„Ich nicht“, sage ich. „Und daß Sie auch da waren, is mir gar nicht aufgefallen.“
Skocik lacht braungebrannt und sieht aus, als hätte er seinen Krankenstand für einen Weekend-Flug auf die Kanarischen Inseln genutzt. Oder aber es gibt für Bundesbedienstete bereits Solarium auf Krankenschein.
„Übrigens eine fesche Frau, die Tomschik. Und blitzgescheit noch dazu“, sagt Brunner nicht zum ersten Mal. Er hat eindeutig eine Schwäche fürs Hantige.
„Sie haben keine Einladung gekriegt für morgen?“ fragt Skocik.
„Steh ich auf der Liste?“ sage ich. „Ich hör von der Party grad das erste Mal.“
„Als alter Freund des Hauses?“ Skocik zieht zweifelnd die Augenbrauen hoch.
„Ich hab die Tomschik am Samstag das erste Mal in meinem Leben gesehen. Live. Mit ihrer Band, und nachher beim Wirten.“
„Und weil’s beim ersten Mal so schön war, haben Sie die letzte Nacht gleich mit ihr durchge-, mit ihr durchsaufen müssen. Verstehe.“
Skocik grinst affig und setzt dann seine Suche nach dem Häusl fort. Gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn noch eine seiner schwachsinnigen Meldungen, und ich hätte meine gute Kinderstube vergessen.
„Was is los mit dem Volltrottel?“ frage ich Brunner.
„Er mag die meisten Leut erst, wenn sie tot sind“, sagt er und leert das Gösser in einem langen Zug. „Und die Tomschik mag er überhaupt nicht.“
Mir völlig unverständlich, wo sie ihm doch sogar ein so intimes Geheimnis wie das der Farbe ihrer Unterwäsche verraten hat, ohne daß er lang danach fragen mußte.
„Der Skocik meint, ohne die Tomschik gäb es heute zwei Leichen weniger. Und das wär arbeitstechnisch eine große Erleichterung.“
„Die Tomschik?“ sage ich. „Den Wickerl? Und diesen Steve? Was hätt sie davon? Tote zahlen keine Schulden. Und produzieren, so viel ich weiß, nur ganz selten Platten.“ „Neinein, Herr Doktor. Nicht daß sie selber, eigenhändig. Das meint er nicht. Der Skocik is, auch wenn Sie ihn nicht mögen, was ich ganz gut verstehen kann, in dieser Angelegenheit ganz auf Ihrer Seite.“
Brunner spricht, was sonst nicht seine Art ist, in Rätseln. Wenn ich in dieser unsäglichen Angelegenheit auf einer Seite stehe, dann ist das meine. Und da ist für Leute wie Skocik garantiert kein Platz.
„Auf meiner Seite?“ sage ich. „Und wie schaut die aus? Nur, damit keine Mißverständnisse aufkommen,“
„Ihre Theorie, Herr Doktor“, sagt Brunner.
Ich kann mich zwar an keine Theorie erinnern, mit der ich die Sympathien von Skocik errungen hätte, und wenn es eine geben sollte, dann muß sie im Zustand geistiger Umnachtung entstanden sein. Aber nachdem heute mein Erinnerungsvermögen und ich auf ziemlich wackligen Beinen durchs Leben gehen, nicke ich vorsichtshalber grüblerisch und hole Brunner und mir die letzten beiden Gösser aus dem Eis.
„Was halten Sie eigentlich davon? Is da was dran? Theoretisch?“ sage ich so beiläufig wie möglich.
„Wird sich weisen“, sagt Brunner.
So viel ich weiß, hatte er immer schon einen wahnsinnigen Mörder im Auge, der im Blutrausch wahllos junge Männer schlachtet und sich deren Herz als Souvenir mit nach Hause nimmt. Einen Kranken wie Freund Elmore aus Tulsa, Oklahoma.
„Mein Mörder und ihr Mörder, Herr Doktor, könnten theoretisch ein und dieselbe Person sein. Und die Tomschik ist das Zünglein an der Waage, wann Sie wissen, was ich mein.“
Skociks Rückkehr hindert mich daran zu wissen, was Brunner meint.
„Was is das genau für ein Verein, diese AAS?“ unterbricht er den trägen Fluß meiner Gedanken.
„Was Amerikanisches“, sage ich.
Donna dürfte die beiden Ermittler mit einer Softsexversion ihrer Arbeit als Werbeträgerin abgespeist und Skocik auch keine Privatvorführung ihrer Videokollektion angetragen haben.
„Das weiß ich selber. Und daß die keine Brieftauben züchten, weiß ich auch. Was passiert da morgen? Wettwixen? Rudelpudern?“
„Was weiß ich“, sage ich. „Sie haben eine Einladung. Ich hab keine gekriegt.“
„Was heißt das überhaupt: A-A-S?“
„Astaroth Appreciation Society“, antwortet der Trainer an meiner statt. Er stürmt in die Küche und marschiert wie ferngesteuert zum Eiskasten.
„Das is englisch“, sage ich zu Skocik.
„Wie Ya te vas a enterar. Ich weiß“, sagt er und lächelt böse.
Der Trainer steht vor dem leeren Kühlschrank, einen verbitterten Zug um den Mund. „Super, Kurtl“, sagt er. „Du bist heut wirklich eine große Hilfe.“
„Ich hol dann ein paar Bier vom Billa“, sage ich, aber da ist er bereits wieder unterwegs ins Arbeitszimmer.
„In Österreich is der Verein nicht gemeldet. Und Firma is das auch keine“, verbeißt sich Skocik weiter in die AAS. „Wieso ladet etwas, das es bei uns garned gibt, seine Mitglieder zu einer Party in eine abgetakelte Blashütten ein und macht dort eine Modenschau?“
„Noch einmal, Skocik: Ich weiß es nicht! Warum fragen Sie nicht die Person, die Ihnen die Scheißliste gegeben hat? Fragen S’ die Tomschik!“ sage ich und wachle mir mit den beiden Zetteln ein bißl Frischluft zu.
„Die Tomschik hat uns die Liste nicht gerade aufgedrängt, Herr Doktor“, sagt Brunner. „Sie hat daran gearbeitet, als wir ihr die traurige Nachricht vom Tod des Stefan Behrens hinterbracht haben. Und weil sie gar so zurückhaltend reagiert hat, als sie der Kollege über die Namen auf der Liste befragt hat, sind ihm die beiden Blatt Papier beim Gehen sozusagen in die Tasche gerutscht. Nicht ganz vorschriftsmäßig, sein Vorgehen, aber tolerierbar.“
„Weil die Tomschik lügt, wann sie nur den Mund aufmacht“, sagt Skocik, nimmt mir die Zetteln aus der Hand und hält sie wie eine Jagdtrophäe hoch. „Und Sie sollten das nicht machen, Herr Ostbahn. Im eigenen Interesse.“ „Soviel ich weiß“, sage ich, „ist das ein Club für Freunde von bizarrer Mode und Köperschmuck. Eine Minderheit, die von der breiten Bevölkerung eher belächelt wird und deshalb lieber im Verborgenen seinen Hobbies frönt. Zu meiner Zeit waren das die Nudisten. Freikörperkultur. Hirscheninsel. Sonnenfreunde. Das werden Sie nicht mehr wissen, Skocik, weil S’ zu jung sind. Und heutzutage sind das halt Leut mit Peckerln, Flinserln und sonstigen Verzierungen da und dort.“
„Alles Warme“, wärmt Skocik seine Lieblingsthese auf und nickt zufrieden.
„Ist das meine Theorie?“ wende ich mich hilfesuchend an Brunner.
Der schmunzelt nur und trinkt sein Bier.
„Ihre Theorie? Die is nicht einmal so blöd“, attestiert mir Skocik. „Also mir persönlich reißt die Tomschik, der Trampel, nix auße. Aber ich kann mir schon vorstellen, daß so ein halbwarmes Bürscherl für sie zum Kuchelmesser greift.“
„Der Wickerl“, sage ich vor mich hin und habe das dumpfe Gefühl, diesen Dialog heute schon einmal geführt zu haben. Nur mit etwas anderen Worten.
„Der Wickerl is tot“, sagt Skocik.
„Also kann er nicht der Mörder sein“, setze ich fort.
„Aber die Tomschik hat nicht nur einen Wickerl, sondern einen ganzen Stall von Wickerln“, betet mir Skocik nach, was ich so nie gesagt habe, aber anscheinend in der Mörderspielgruppe als meine Theorie kolporiert wird.
„Und da ist einer drunter, der partout nicht einsehen will, daß er sein Herzblatt mit den andern teilen soll.“
„Ihre Theorie“, meldet sich Brunner.
„Im Grunde: Ja“, muß ich zugeben.
„Gefällt mir insofern immer besser“, sagt Brunner, „als sie den weißen Citröen erklärt, der bei ihrem ersten Liebhaber, dem Auer, noch ein beiger oder weißer PKW war. Am Samstag ist er bereits als weißer Citröen eurem Convoy gefolgt, also auch dem Stefan Behrens, mit dem die Tomschik ebenfalls nicht nur geschäftlich verbunden war. Und am Sonntag Nachmittag wurde ein weißer Citröen am Parkplatz der Pension Gloriette gesehen. Vom Tagportier. Zirka zwei Stunden, bevor der Behrens ausgecheckt hat und am Parkplatz umgebracht und in seinen Kofferraum gepackt wurde.“
„Wann das nicht zufällig ein ganz anderer weißer Citröen war, der Ihnen heute von der Tomschik-Wohnung in die Reindorfgasse nachgefahren is, dann schaut’s schlecht aus, Herr Ostbahn“, sagt Skocik, der die meisten Menschen erst dann mag, wenn sie tot sind. Aber dann auch nicht so wirklich, weil sie ihm als Leiche nur viel Arbeit machen.
„Großartig“, sage ich.
Brunner hat sein zweites Gösser geleert, und das bringt ihn auf eine brilliante Idee.
„Also wann Sie noch ein Bier holen wollen, Herr Doktor“, sagt er, „dann begleit ich Sie hinunter zum Billa.“