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Es ist haarsträubend.
Da macht man einen Sprung zum Billa, und wenn man wiederkommt, liegen die ohnedies erbärmlichen Reste deines Privatlebens in Schutt und Asche.
Trainer und Trash haben, garantiert aufgehetzt von Menschenfeind Skocik, am Computer eine pervertierte Version meiner Theorie durchgespielt und präsentieren nun den Tathergang, Motiv und Täter.
Das hört sich zu Beginn noch recht harmlos, weil für den Laien völlig unverständlich an, und die vielen Namen, Stichworte und grafischen Symbole in den vielen netten Farben sehen zirka so gefährlich aus wie die High-Tech-Ausgabe des Pflanzenbestimmungsbuches meiner Schulzeit, aber schon bald nach der trockenen Einführung in die Logistik des Spieles beschleicht mich das kalte Grausen.
Von den drei Leichen, Wickerl, Rudi und Steve (die am Bildschirm hinter ihren Namen niedliche Dolche als Symbol für ihr unfreiwilliges Ableben tragen; Wickerl und Steve zusätzlich ein rotes Spielkartenherz als Hinweis auf die Spezialität des Schlächters), führt eine Vielzahl von bunten Verweisen zu sämtlichen uns bekannten Personen, Gruppen, Firmen und Vereinen, mit denen die Opfer Kontakt hatten.
Da gibt es eine Media Sales-Connection, eine besonders dicke Donna-Connection, eine AAS-Connection usw., die ihrerseits wiederum durch Querverweise und Stichworte (z.B. „Weißer Citröen“, „Whitney Houston“, Rallye) miteinander in Zusammenhang gebracht werden können.
Wenn sich nun jemand in diesen Datendschungel begibt, um den potentiellen Mörder aufzuspüren, aber gleichzeitig und vor allem meinem desolaten Seelenleben einen weiteren Tiefschlag versetzen will, dann kommt er über viele bunte Connections natürlich auch auf Marlene und ihren psychisch ramponierten Zwillingssohn Gilbert Levy.
Und ich kann garnix tun, als noch ein Bier zu trinken und mir die mit garantiert unhaltbaren Vermutungen zusammengekleisterten Daten aus dem Dschungelbuch anzuhören:
Der schöne Gily, Elfi Tomschiks Dream-Lover, kommt also heute vor einer Woche aus LA und bringt seiner Liebsten als Gastgeschenk die Videos ihrer gemeinsamen AAS-Performance mit. Die Wiedersehensfeier des jungen Paares wird gestört durch den unangemeldeten Auftritt von Wickerl Auer, dem Ex-Lover und Langzeit-Flocki der herrischen Donna. Er bricht einen Streit mit Gily vom Zaun und fladert dem eingerauchten und liebestrunkenen Paar sechs Video-Cassetten.
Auf den Bändern, die ausschließlich für den Privatgebrauch der AAS-Gemeinde bestimmt sind, sieht man unter anderem den amerikanischen Serienstar Kelly Nichols, sowie Donna Tomschik und Gilbert Levy bei sexuellen Kampfsportübungen, die den von Eifersucht, Rachegelüsten, Geldgier und Drogenmißbrauch verwirrten Geist des Ludwig Auer auf eine fiese Idee bringen:
Die Regenbogen-Presse läßt für solche auf Videoband dokumentierten Ausschweifungen der Schönen und Reichen fürstliche Honorare springen.
Aber: das wirklich große Geld ist bei denen zu holen, die um ihr blütenreines Image, ihren guten Ruf und Namen fürchten müssen, wenn die finsteren sexuellen Praktiken ihrer Liebsten und Anverwandten in die Schlagzeilen geraten.
Der Herr Stadtbaumeister Dipl.Ing. Hans Tomschik, zum Beispiel, der dann mit den Ausbesserungsarbeiten an der Fassade seiner Musterfamilie so viel zu tun hätte, daß die Renovierung der Fassaden von Wiener Jugendstilhäusern, deren Revitalisierung sein täglich Brot bedeutet, arg darunter leiden würde;
oder der väterliche Freund von Kelly Nichols, der als Förderer der schönen Künste und Besitzer einer kalifornischen Autowaschanlagen-Kette sein Saubermann-Image für immer los wäre;
und in erster Linie der Levy-Thompson-Clan, dem ein mißratener, perverser Stiefsohn und Zwillingsbruder sowohl massiv ins weltweite Hotelgeschäft pfuschen würde, als auch in Schwester Sarahs keim- und sündenfreie Model-Karriere.
Um das zu verhindern, schmieden Donna und der ihr in Liebe ergebene Gily einen teuflischen Plan: Sie nimmt Kontakt mit dem Wickerl auf, horcht ihn über seine videomäßigen Absichten aus und vereinbart ein Treffen unter vier Augen.
Nachdem sie sich versichert hat, daß er mit seinen anderen Geschäften (der Finalisierung des Media Sales-Coups zum Beispiel) so sehr ausgelastet ist, daß er in den nächsten Tagen erpressungstechnisch nichts unternehmen wird, stellt sie für dieses Rendezvous die große Versöhnung in Aussicht, jede Menge Sex und sonst noch so einiges, das dem Wickerl das Wasser im Mund zusammenlaufen läßt.
Als Termin wird der Mittwochabend vereinbart, als Treffpunkt ein Ort in der Nähe von Wickerls Stammlokal, dem Rallye.
Der Wickerl ist an diesem Abend nicht gut drauf. Es gibt Wickeln mit seinen falschen Whitneys. Und er ist hin- und hergerissen zwischen seiner hündischen Liebe zu Donna und seiner Sehnsucht nach dem ganz großen Geld.
Also sauft er sich im Rallye nieder, riskiert im Rausch einen Streit mit seinem einzigen Freund, dem Rudi, und kriegt von dem zu guter letzt auch noch eine mit der Bierflasche verpaßt.
Das Rendezvous mit Donna hat er längst vergessen, als er schwerst angeschlagen das Rallye verläßt.
Aber seine Mörder warten. Im weißen Miet-Citröen. Als sie den Wickerl die Sechshauser Straße entlangtaumeln sehen, läßt Donna ihren Gily, den sie mit viel Liebe und Drogen scharf gemacht hat, von der Leine.
Und der erledigt seinen Auftrag noch gründlicher als erwartet. Er schneidet dem Wickerl nicht nur die Kehle durch, sondern gleich auch das Herz aus der Brust, ein Tötungsritual, mit dem sich die kolumbianische Drogenmafia bei unseriösen Geschäftspartnern zu bedanken pflegt und das sich auch beim Serien-Killer nordamerikanischer Prägung größter Beliebtheit erfreut.
Gily legt seiner Angebeteten also das blutige Herz ihres Peinigers zu Füßen. Donna wären sechs Video-Cassetten entschieden lieber gewesen. Doch die liegen im Rallye, dem Ort, an dem der Wickerl stets alle seine Schätze zu vergraben pflegte.
Und dort ticken sie leise vor sich hin. Eine Zeitbombe, die nicht in die falschen Hände geraten darf, denn sonst wäre der ganze Aufwand umsonst gewesen.
Der Adrenalinstoß verebbt, und Gily beschleichen erste Zweifel, Angst und Depression.
Gottseidank ist Donnerstag, und Donna kann den auf eine nächste schwere Krise zusteuernden Knaben in die Obhut seiner Mutter Marlene entlassen, die aus Quebec eingetroffen ist, um in Wien alte Uhren einzukaufen und ein paar Tage mit ihrem Sohn zu verbringen.
Mutter Thompson hat es nicht leicht gehabt im Leben, Schicksalsschläge und eheliche Turbulenzen pflasterten ihren Weg bis zu jenem Tag, als sie den stinkreichen und altersschwachen Hotel-Milliardär David Thompson in den Hafen der Ehe lotsen konnte. Jetzt hält sie späte Ernte, und die will sie sich von ihrem mißratenen Balg aus erster Ehe, den es nie in ihre mütterlichen Arme gezogen hat, sondern stets in die vergiftete Einflußsphäre ihres zweiten Gatten Claude Levy, nicht verderben lassen.
Also wird Gilbert in seiner Suite im Palace ruhiggestellt, und Marlene nimmt die Beschaffung der belastenden AAS-Tapes selbst in die Hand.
Im Rallye wird sie Zeugin einer Unterhaltung zwischen dem Wirt und seinem Stammgast Kurt, in der vom toten Wickerl, seinem speckigen Lederjanker und dubiosen Platten und Videos die Rede ist.
Der attraktiven Lady aus dem fernen Kanada kostet es keine Mühe, die Aufmerksamkeit des bereits leicht illuminierten und von allem Weiblichen leicht zu beeindruckenden Kurt auf sich zu ziehen und dem Abend zu später Stunde jede gewünschte Wendung zu geben. Ihr Charme bewirkt sogar Wunder: Unser Kurt lädt die Dame von Welt in seine kärgliche Behausung, was ihm ein unvorstellbares Maß an Selbstüberwindung gekostet haben muß.
Im Zuge einer stürmischen Liebesnacht vergißt der diesbezüglich nicht gerade verwöhnte Gastgeber alle seine guten Vorsätze und flüstert Marlene so manches Geheimnis ins Ohr, nicht aber den derzeitigen Aufenthaltsort der AAS-Cassetten.
Als er wieder zu sich kommt, sind Zimmer und Küche sorgfältig durchsucht, und die Schöne der Nacht ist verschwunden.
Möglich (aber nicht sehr wahrscheinlich), daß sich Marlene tatsächlich in unseren Kurt verliebt hat und ihn deshalb tags darauf in ihren Ring-Palast entführt.
Viel eher ist anzunehmen, daß sie einen zweiten und letzten Versuch startet, über ihre Kaffeehausbekanntschaft an die Bänder heranzukommen. Daß der Kurt auch in den vielen Stunden, die er in Marlenes Palace-Suite verbringt, mit der Wahrheit hinterm Berg halten kann, darf bezweifelt werden, spielt aber für den weiteren Verlauf der Ereignisse keine entscheidende Rolle.
Freitag abend hat nämlich der“Schlächter von Sechshaus“ in den Medien seinen zweiten großen Auftritt: Im Schuppen hinter dem Rallye wurde am Nachmittag der Rudi ermordet und der Herr Josef schwer verletzt.
Daß der zweite Mord auf das Konto des deutschen Profis Ulrich Höhne geht und sozusagen ein Betriebsunfall bei der Wiederbeschaffung der Bananenkisten ist, stellt sich erst zwei Tage später heraus, nachdem sein Komplize Eduard Jerabek gesungen hat.
Für Donna ist der Mord im Rallye-Schuppen das Kamikaze-Unternehmen eines völlig durchgedrehten Gily. Und da hört es sich bei ihr mit der großen Liebe auf.
Irgendwann zwischen Freitagnacht und Samstagmittag gibt sie ihm das auch unmißverständlich zu verstehen. Worauf der trübsinnige Knabe in abgrundtiefe Schwermut verfällt. Er hat für sie aus Liebe gemordet, und nun storniert Donna ihre Liebe wegen eines Mordes, den er gar nicht begangen hat.
Am späten Nachmittag - unser Kurt wurde verabschiedet und ist auf dem Weg ins traute Eigenheim - kommt es im Palace zu einer folgenschweren Auseinandersetzung zwischen Marlene und Gilbert: Sie fühlt sich als Mutter von zwei Morden - auch sie weiß es ja nicht besser -schlicht überfordert und ordnet die sofortige Flucht nach Paris an. Gilbert kann sich ihr ebensowenig erklären wie zuvor seiner geliebten Donna und entscheidet sich für die Flucht aus Marlenes mütterlichem Klammergriff.
Während Marlene die Nachtmaschine nach Paris besteigt, irrt Gily durch das nächtliche Wien. Und seine Verzweiflung treibt ihn schließlich in die Berufsschule Längenfeldgasse, wo er hofft, Donna nach ihrem Konzert doch noch zurückzugewinnen.
Doch dort muß er mitansehen, wie seine Herzensdame zuerst einen Dichter, der ihr in Sonetten seine glühende Liebe gesteht, mit Arschtritt aus der Garderobe befördert, um kurz darauf dem A&R-Manager ihrer Plattenfirma die Nase zu pudern und den Schwanz zu lutschen.
Gily zieht sich diskret und unbemerkt zurück. Er wartet in seinem weißen Miet-Citröen, bis die kleine Gruppe um Donna und Steve vom Schauplatz seines Desasters aufbricht und folgt ihr unauffällig.
Gily wartet bis halb zwei in Blicknähe des Quell und folgt dann Turbos Leichenwagen, der Donna und Steve in die Florianigasse bringt. Gily wartet vor Donnas Haus bis fünf Uhr früh und folgt dem Taxi, das Steve zur Pension Gloriette chauffiert.
Gily wartet.
Und läuft dabei ganz leise Amok.
Als Steve am Nachmittag schließlich die Pension verläßt, um zum Flughafen zu fahren, wird das Problem genauso erledigt, wie das Problem Wickerl vier Tage zuvor.
Und das Herz, das nicht mehr schlägt, ist für Donna.
Aber die will es nicht.
Denn als Gily Sonntag abends in der Florianigasse vorfährt, kommt er wiederum zu spät. Da steigt eben ein Typ aus dem Taxi, den er bereits während seines gestrigen Desasters in der Berufsschulgarderobe gesehen hat und der nun, mit einem Billa-Sack in der Hand, vor dem Haustor steht, über die Gegensprechanlage mit Donna redet und dann im Haus verschwindet.
Und Gily wartet. Und läuft weiter Amok. Ganz leise.
Und er folgt dem Taxi, das den Kurt um halb fünf von Donnas Haus in die Reindorfgasse bringt.
Und während Gilbert Levy in Wien damit beschäftigt ist, alle Männer zu töten, die zwischen ihm und Donna stehen, gibt seine Zwillingsschwester Sarah in Paris ihr Debut als Schauspielerin.
Sie glänzt, an der Seite von Mutter Marlene, in einer Hosenrolle.
Als ihr schöner, trauriger Bruder Gily.