2 »Schade, dass es das Internet vor 100.000 Jahren noch nicht gab«

Ein Berliner Piratenstammtisch bedient alle Klischees, und ich bin kurz davor zu flüchten

Der Pirat im Eingangsraum der Neuköllner Kneipe trägt das Motto auf der Brust. Fünf Buchstaben, leuchtend orange umrahmt: B A S I S. Daneben klein das Logo der Partei. Der Aufdruck ist kein Werbegag. Er ist ein Bekenntnis.

Ich weiß noch nicht viel über diese Partei, eines aber habe ich verstanden: Wer ein großer Pirat werden will, der sollte sich klein machen. »In der Partei habe ich nichts zu sagen, ich habe genau eine Stimme, genau wie jeder andere Pirat auch.« Diese Behauptung stammt nicht etwa von mir, sondern von der Parteiikone Marina Weisband. Egal, wie viele Journalisten die Mittzwanzigerin in ihrer Zeit als Politische Geschäftsführerin umzingelten, stets predigte sie Bescheidenheit: Die klassischen Hierarchien solle man vergessen. Bei den Piraten funktioniere politische Einflussnahme in umgekehrter Richtung: »In dieser Partei schläft man sich nach unten.«

Ich müsste also heute Abend die perfekte Beute für jeden Piraten sein: Dies ist mein erster Ausflug ins Parteileben. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Meinen Mitgliedsantrag habe ich erst vor einer Woche ausgefüllt, ich habe bisher kein Parteibuch und bin im Internet ein Niemand. Beim Kurzmitteilungsportal Twitter verfolgen mehr als 31.000 Menschen die Neuigkeiten von Marina Weisband. Wenn ich etwas bei Twitter schreibe, interessiert das gerade mal sieben andere Leute. Weiter unten geht kaum.

Ich stehe in der Tür zum »Kinski«, einer efeuberankten Kneipe mitten in »Kreuzkölln«, einem trendigen Westberliner Studentenkiez zwischen Kreuzberg und Neukölln. Es ist Dienstagabend, Berliner Piratenstammtisch. Dass der Stammtisch im »Kinski« stattfindet, ist das Ergebnis einer basisdemokratischen Abstimmung. Im Sommer 2010 wurde die Kneipe mithilfe der Meinungsbildungssoftware Liquid Feedback zum wöchentlichen Treffpunkt der Berliner Piraten bestimmt. Sie bekam 74 Ja-Stimmen bei neun Nein-Stimmen und vier Enthaltungen. Der »Club mit Kultstatus«, hieß es damals im Antragstext, sei »etwas vergammelt, schlecht beleuchtet, trotzdem gemütlich«.

Zwei Jahre später hat sich daran nichts geändert: Die Ledersofas sehen nach durchgesessener Flohmarktware aus, der fleckige Putz an den Wänden wirkt im Schummerlicht fahl. Gemütlich? Gemessen an den kargen Hallen, in denen Computerspiel-Fans ihre Lan-Partys feiern oder Hacker-Konferenzen stattfinden, zweifellos.

Gut zwanzig Männer sitzen an diesem Dienstagabend im schiefen Stuhlkreis um den Piraten im »Basis«-Shirt herum. Studenten, Familienväter, Rentner. Nie habe ich so viele Pferdeschwanzträger mit Mittelscheitel in einem Lokal gesehen. Nie so viele Club-Mate trinkende Jungs, die aussehen, als hätten sie einen beachtlichen Teil ihrer Jugend daheim einsam in den Computer geschaut. Außer mir entdecke ich nur eine Frau im Raum.

Insgeheim hatte ich gehofft, die Piraten sähen in echt ganz anders aus als in all den Reportagen, die ich in den vergangenen Monaten gelesen und angeschaut habe. Doch der Anblick im »Kinski« deckt sich verblüffend mit dem Klischee.

Ich lasse mich in ein tiefes Sofa hinter der Eingangstür fallen. Der Mann neben mir, Mitte dreißig, einer der wenigen Gäste im Jeans-und-Hemd-Look, findet sein Smartphone leider spannender als mich. Die meisten im Raum tippen auf ihren Telefonen herum oder schauen an ihren Sitznachbarn vorbei.

Vorne ergreift der schlaksige Pirat im »Basis«-T-Shirt das Wort. Er hält einen Kurzvortrag für alle Neuen und klingt dabei so wahnsinnig gut drauf wie Morgenmoderatoren im Privatradio. Gerade erklärt er eine Parteimaxime – das »allgemeine piratige Mandat«: Denke selbst, handele selbst, warte nicht auf Vorschläge oder Kommandos von oben! Eigentlich ein praktischer Ansatz. Ich frage mich nur, ob es nicht drunter und drüber gehen muss in einer Partei, wenn die Basis einfach beherzt ihre Ideen verwirklicht.

Der »Basis«-Pirat aber scheint tatsächlich zu brennen für seine Botschaft: Sogar der Bundesvorstand habe in seiner Partei nur verwaltende Aufgaben, erklärt er. »Entscheidungen treffen wir grundsätzlich so« – sein Blick senkt sich zu seinen Turnschuhen. »Was habt ihr denn für ’ne Meinung?«, fragt er die fiktive Basis unten am Boden. »Okay«, sagt er nach einer Kunstpause, »dann machen wir das so!« Er strahlt in die Runde.

Da ist es wieder, das Partei-Credo: Wir sind nichts, unsere Basis ist alles! Womöglich glauben viele Piraten wirklich daran. Mich verwundert das ein wenig. Klar, auch ich bin heute hier, weil mich der neue, basisdemokratische Ansatz der Piraten verlockt. Aber ist es nicht trotzdem naiv zu glauben, dass in einer Partei alle auf gleicher Augenhöhe mitbestimmen können, egal ob Anfänger oder Profi? Je flacher die Hierarchien, desto stärker die informellen Machtgefüge. Und die können ziemlich unangenehm sein.

Hier im »Kinski« aber widerspricht niemand. Der Referent im »Basis«-T-Shirt ist inzwischen beim Thema Engagement angekommen. Die Piraten, sagt er, lebten vom ehrenamtlichen Einsatz jedes einzelnen Mitglieds. Nur sehr wenige Aktive seien für ihr Engagement bis heute mit Geld entlohnt worden. »Pirat zu sein, das ist eine Leidenschaft, die man sich leisten können muss!« Dafür bekomme man aber auch außergewöhnliche Chancen.

Er zeigt jetzt auf den gediegen gekleideten Mittdreißiger, der neben mir auf der Couch an seinem Smartphone herumfingert. Das sei Jan, bekannt aus dem Spiegel. Ich linse zur Seite. Mir wird klar, wer da auf meinem Sofa sitzt. Ich habe Beeindruckendes über diesen Mann gelesen und kürzlich sogar schon seine Twitter-Nachrichten abonniert: Jan Hemme, Politikberater von Beruf. Ein Berliner Pirat, der es mit einer politischen Idee vom Küchentisch in die Bundespolitik geschafft hat – und nebenbei auch in den Spiegel. Kürzlich hat das Nachrichtenmagazin ihm zwei Seiten gewidmet. Denn Hemme war etwas Außergewöhnliches gelungen: Er hatte eine Initiative mit dem sperrigen Titel »Datenschutzniveau des Landes Berlin durch die Novellierung der EU-Datenschutzrichtlinien erhalten und ausbauen« auf direktem Weg online über die Meinungsbildungssoftware Liquid Feedback ins Berliner Abgeordnetenhaus gebracht.

Bei Liquid Feedback stimmten zwar nur 104 Piraten für die Datenschutz-Idee, aber im Abgeordnetenhaus erwärmten sich plötzlich selbst CDU und SPD für den Vorstoß des Berliner Piraten. Das Landesparlament stimmte einer leicht abgewandelten Initiative zu, brachte sie bis in den Bundesrat. Und die Länderkammer sprach schließlich Ende März eine Rüge gegen die EU-Kommission aus.

Für die Piraten ist Jan Hemme seither der leibhaftige Beweis, dass Bundespolitik anders funktionieren kann als in den großen Volksparteien – nämlich »bottom up«, also von unten nach oben. Auch der Spiegel notierte respektvoll: »Vom Laptop in die Volksvertretung: Was Hemme in der Hauptstadt gelang, könnte bald bundesweit die eingespielten demokratischen Prozesse durcheinanderbringen.«

Hemme brummelt etwas, das sich anhört wie: »Guter Artikel.« Dann richtet er vom Sofa aus ein paar knappe Sätze an uns. Bei den Piraten etwas zu werden, das sei harte Arbeit. »Es leidet das Privatleben, es leidet der Job«, sagt er kühl. Wer denke, er könne hier die schnelle Karriere machen, der täusche sich.

Wie charmant. Damit sind immerhin drei Dinge gesagt: Die Ochsentour scheint es auch bei den Piraten zu geben. Karrieristen sind offenbar ein Thema in der Partei. Und: Wir Neuen stehen unter Verdacht.

Ich halte Ausschau nach Gestalten, die aussehen, als könnten sie klassische Karrieristen sein und wollten nur die jüngsten Erfolge der Piraten abschöpfen: Träumt vielleicht der auffällig seriös gekleidete Mann im braunen Cordsakko da drüben schon vom Einzug in den Bundestag im Herbst 2013? Oder der smart wirkende Student mit der Umhängetasche aus bunter Industrieplane? Einer der schwarz gekleideten Pferdeschwanzträger mit iPad auf den Knien? Oder bin vielleicht ich selbst die Verdächtige?

Einerseits übers »Nach-unten-Schlafen« philosophieren, andererseits den Neuen erst mal Karrierismus unterstellen – mir kommt das ziemlich dialektisch vor. Aber ich kenne das schon. Als vier Tage nach mir die Netzaktivisten Anke und Daniel Domscheit-Berg ihre Mitgliedschaft bei den Piraten beantragten, ging es bei Twitter sofort los. Jemand fragte süffisant, wann sich die grüne Ex-Microsoft-Managerin wohl »spontan« zu einer Bundestagskandidatur entschließen werde. Ein anderer lästerte, was den Grünen einfalle, dieses »Karrieristen-Ehepaar bei uns endzulagern«. Es war der Pirat Jan Hemme, neben dem ich nun auf der Couch im »Kinski« sitze.

Am liebsten würde ich ihn jetzt ansprechen und fragen, ob ich ihm irgendwie karrieristisch vorkomme. Aber ich will mich nicht unbeliebt machen. Nicht gleich am ersten Abend.

Vorne startet der Pirat im »Basis«-T-Shirt gerade eine offene Diskussionsrunde. Und plötzlich geht es einmal quer durch die Bundes- und Landespolitik, von der CDU-Spendenaffäre zum Atomausstieg zum neuen Berliner Großflughafen. Einer bedauert mit ernster Miene, »dass es das Internet vor 100.000 Jahren noch nicht gab« – sonst hätte man viele gesellschaftliche Probleme vermeiden können. Ein alter Mann mit stattlichem Bauch wirft einen Kohl-Witz in die Runde. Dann schmettert er: »Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten!« Er redet sich in Schwung, prophezeit der Atomenergie ein Revival, kommentiert die neuen Flugrouten über der Hauptstadt. Und als es um das von der Piratenpartei propagierte bedingungslose Grundeinkommen geht, meldet er lautstark Zweifel an: »Ich selbst bin nämlich an Faulheit nicht zu überbieten!« Von hinten ruft jemand: »Immerhin biste hier!« Der Alte grinst zufrieden. Er genießt es, mal so viele Zuhörer zu haben.

Es ist, als hätte jemand ein Internetforum ausgeschüttet und die Diskutanten in diesen Raum gepfercht. Jeder sagt, was ihm einfällt. Ich wünschte, ich könnte jetzt vorwärtsscrollen wie daheim am Computer.

Ein unscheinbarer Mann ergreift das Wort. Er berichtet über eine Firmengründung, ihr Scheitern – und über die Schuldigen. Er wirkt aufgewühlt. Im Raum ist es unruhig geworden, der Lärm schluckt die Hälfte seiner Sätze. »Sorry, hast du die Geschichte verstanden?«, frage ich flüsternd den erfahrenen Piraten neben mir auf dem Sofa. Er murmelt etwas, das für mich wie »Keine Ahnung, irgendein Schwachsinn« klingt. Kurz darauf steht er auf und geht an die Bar.

Schön zu wissen, dass nicht alle Piraten im Raum diese Form der Basisbeteiligung genießen. Geht mir genauso. Nur was sollen dann die Hymnen auf das Potenzial der Nobodys? Mit jeder Minute im »Kinski« wird mir das Verhältnis der Partei zu ihren Neulingen unklarer.

Ich sehe mich um und beschließe, einen Blick in den hinteren Raum der Kneipe zu werfen. Dort sitzen in kleiner Runde schwarz gekleidete Männer um einen Couchtisch. Die Luft ist neblig von Zigarettenqualm, die Pferdeschwanzquote noch höher als vorne im Eingangsbereich. Tagt hier etwa ein Inner Circle? Könnte dies der eigentliche Piratenstammtisch sein? Auf alle Fälle ist dieses Hinterzimmer kein Ort für eine Nichtraucherin mit Holunder-Bionade in der Hand. Sollte ich vielleicht gleich nach Hause gehen?

Auf halbem Weg nach draußen begegnet mir ein schlaksiger Typ. Er trägt einen dicken Rucksack auf dem Rücken und einen mit Buttons besetzten schwarzen Herrenhut, unter dem lange Haare herausbaumeln. »Ich bin der Simon.« Er streckt mir die Hand entgegen, sein Händedruck ist weich.

Ich kenne den Mann – aus dem Fernsehen, aus der Zeitung, von Twitter. Simon Kowalewski, 31 Jahre, ist einer der fünfzehn Piraten, die seit Herbst 2011 im Berliner Landesparlament sitzen. Er war mal in der PDS aktiv, später in der Esoterikpartei »Die Violetten«. Vor der Wahl hat Simon Kowalewski sich als »Radikalfeminist« präsentiert, jetzt dient er der Piratenfraktion als frauenpolitischer Sprecher. Bei Twitter stenografiert er sein Leben so: »Mitglied des Abgeordnetenhauses. Veganer. Polyamor. Ingenieur der Informationstechnik. Administrator. Elektronik-Hacker. Nerd. Apple-User. Pirat.«

Ob ich neu hier sei, fragt Simon Kowalewski mich freundlich. Ich berichte vom ausgefüllten Mitgliedsantrag und dass ich seither warte: auf eine Bestätigung von der Partei, einen Mitgliedsausweis, einen Zugang zu Liquid Feedback.

Simon Kowalewski hört so gelassen zu, als habe er diese Geschichte schon sehr oft gehört. Er kann sie sogar erklären. Jedenfalls kommt es mir so vor. Im freundlichen Plauderton führt er mich in die informationstechnologischen Schwierigkeiten bei der Aufnahme und Registrierung neuer Mitglieder ein. Schade, dass ich kein IT-Diplom habe – sonst hätte ich ihn vielleicht sogar verstanden. Aber bevor ich mich entscheiden kann, ob ich noch einmal nachfragen sollte, entschuldigt sich Simon Kowalewski auch schon, er müsse noch weiter, und verschwindet im Hinterzimmer.

Ich schaue ihm staunend nach. Simon Kowalewski kann nicht ahnen, dass er mit seinem Small Talk gerade das Ansehen der Partei gerettet hat. Zumindest bei mir. Abend Nummer eins unter Piraten und schon mit jemandem aus der Landtagsfraktion gesprochen! Klar, ich habe schon tiefgründigere Gespräche geführt. Aber ich will auch nicht undankbar sein. Mit ein bisschen Glück werde ich hier demnächst mit dem Parteivorsitzenden Bernd Schlömer über die besten Bundestagskandidaten fachsimpeln.

Auf dem Heimweg, kurz nach Mitternacht, erreicht mich eine Botschaft meines Sofanachbarn beim Stammtisch: »Heute viele interessierte Bürger im Kinski. Schön, zu sehen, dass Liquid Democracy das Ding ist, mit dem man sie immer wieder kriegt ...!«, twittert Jan Hemme. Ich lese den Tweet ein zweites und ein drittes Mal. Meint er das vielleicht ironisch? Ich tippe: »Man sieht sich 2013 im Bundestag.« Dann lösche ich den Satz wieder – und schalte das Smartphone aus.