15 »Nach Telefonkette doch noch beschlussfähig«
15 »Nach Telefonkette doch noch beschlussfähig«
Wieso ich nicht noch einmal 117 Minuten auf den Beginn eines Lokalparteitags warten werde
Seit fast einer Stunde schlage ich meine Zeit tot. Es ist der letzte Sonntag im August, meine Familie ist an den Badesee gefahren – und ich? Sitze in der »Jägerklause«, einer speckigen Friedrichshainer Kneipe, herum, mustere die Geweihe und Tierfelle an den dunkelrot getünchten Wänden. Und warte.
Die Piraten aus meinem Bezirk haben zum zweiten Lokalparteitag in diesem Jahr geladen. »Kommen lohnt sich«, hieß es vielversprechend in der Einladungsmail, »denn wer kommt, kann auch beim Liquid Feedback für unseren Bezirk mitmachen.« Natürlich wollte ich das! Und wer, dachte ich, würde das nicht wollen?
Immerhin soll hier und heute endlich ein sogenanntes »Klarnamen«-Liquid-Feedback auf den Weg gebracht werden. Das heißt: Eine virtuelle Meinungsbildungsplattform, bei der man sich leibhaftig und mit vollem Namen registrieren muss – damit die Abstimmungsergebnisse auch überprüfbar sind und keine Zweifel aufkommen, ob hinter all den pseudonymen Nutzern wirklich Parteimitglieder stecken. Wenigstens in meinem Bezirk wollen die Piraten endlich seriöse Meinungsbilder ermöglichen, damit die Ergebnisse für unsere Mandatsträger bindend werden können. Ich halte das für absolut wichtig.
Doch nun ist niemand da. Außer mir und gut 25 anderen. Die Versammlung ist nicht beschlussfähig. Kann das sein? Genauso war das doch auch vor zwölf Wochen beim ersten Bezirksparteitag im Kreuzberger Sportlerheim »Willi Boos«, als die Versammlung aus Mangel an Piraten ebenfalls verspätet losging und dann in hitzigen Endlosdebatten mündete. Damals hatte ich die geringe Beteiligung noch für eine unerfreuliche Ausnahme gehalten. Daran glaube ich nun nicht mehr. Meine Nachbarschaft soll eine Piratenbucht sein? Guter Witz!
Immerhin, der gepolsterte Klappsessel hier in der »Jägerklause« ist bequemer als mein Holzstuhl damals im Sportlerheim.
»Jetzt geht’s los!«, ruft jemand draußen vor der Kneipentür. Ein paar Piraten drängen nach drinnen. Ich richte mich erschrocken auf. War ich etwa kurz davor, in meinem ausrangierten Kinosessel einzunicken? Ist der Parteitag nun endlich beschlussfähig? Fehlalarm. Es hat nur angefangen zu regnen. Auch das noch.
Nötig wären auch diesmal wenigstens fünf Prozent der inzwischen angeblich 580 Piraten in unserem Bezirk. Falls es so viele Parteimitglieder gibt, warum interessieren sie sich nicht mal mehr für ihr eigenes Vorzeigeprojekt Liquid Feedback? Was ist los mit dieser Partei?
Um mich herum wird hektisch getwittert. »Wo bleibt ihr?« Und: »Kommt vorbei, liebe XHainer Piraten!« Nach 58 Minuten vergeblichen Wartens bilanziert Sebastian aus meiner Crew Prometheus: »Ein trauriger Tag für die Demokratie ...« Und für diese »Mitmachpartei«, würde ich ergänzen.
Mich ärgert meine eigene Betriebsamkeit. Ich hätte wenigstens daheim schnell noch die Wäsche aus der Maschine holen oder mit der Wochenendzeitung bei einem Milchkaffee auf dem Balkon gemütlich auf das »Wo bleibt ihr?« meiner Parteikollegen warten können. Wahrscheinlich hätten sie sich dann sogar mehr über meine verspätete Ankunft gefreut als jetzt, wo ich von Anfang an da bin, lustlos in dem Kinosessel herumhänge, ab und an Spiegel Online auf meinem Smartphone aufrufe und auf Twitter verfolge, wie der Ton der Mitgliederakquise schärfer wird: »Wenn mal noch ein paar in XHain gemeldete Piraten ihren Hintern in die Jägerklause bewegen könnten?«
Pünktlich zum Bezirksparteitag erscheinen – so dumm werde ich mit Sicherheit kein drittes Mal sein. Mir kommen Zweifel, ob es bei einer so überschaubaren Einsatzbereitschaft taktisch klug ist, neben dem Bundes- und dem Landes-Liquid-Feedback nun auch noch eines für die Bezirksebene freizuschalten. Kaum vorstellbar, dass sich die Piraten aus Friedrichshain-Kreuzberg eifrig mit den lokalpolitischen Anträgen befassen, wenn sich bisher nicht einmal genug aufraffen können, heute den Startschuss zu erteilen.
Mehr als anderthalb Stunden liegen nun das rote Kärtchen, das blaue Kärtchen und der kleine Block mit Zetteln für die geheimen Abstimmungen in dem weißen Umschlag vor mir auf dem Tisch. »Jetzt noch schnell drei inaktive Piraten zum Austritt bewegen«, witzelt jemand bei Twitter, dann sei die Gebietsversammlung beschlussfähig. Draußen vor dem Saal dreht sich ein Pirat einen dicken Joint.
Die Organisatoren haben inzwischen beschlossen, schon mal mit ein paar Tagesordnungspunkten anzufangen, über die nicht abgestimmt werden muss. Und so berichtet Ralf, der Fraktionschef der Piraten in der Bezirksverordnetenversammlung, genau wie damals beim chaotischen Lokalparteitag im Juni auch heute über die Arbeit seiner Fraktion. Er macht das bravourös, eine Minute nach der anderen zu füllen.
Um drei Minuten vor fünf schließlich haben 31 Piraten aus dem Bezirk in der »Jägerklause« eingecheckt. »Nach Telefonkette doch noch beschlussfähig«, twittert Ralf. Ein anderer Pirat meldet stolz, die Gebietsversammlung sei »keine 1:57 später« gestartet. »Ihr habt nicht wirklich zwei Stunden gewartet, bis genug Piraten akkreditiert waren, oder?!«, fragt jemand ungläubig via Twitter zurück. »Ihr seid ja krass.«
»Du bist ja echt noch mal gekommen«, begrüßt mich ein Pirat, dem ich bei der vorigen Gebietsversammlung mein Entsetzen über die endlosen Streitereien gestanden hatte. Er selbst allerdings stiehlt sich wieder davon, kaum dass die Beschlussfähigkeit festgestellt ist. Hauptsache, die Stimmkarten nicht zurückgeben, wenn du gehst, lautet die Devise – denn wer nicht auscheckt, gilt weiter als anwesend. Offenbar eine recht beliebte Mitmachstrategie.
In den folgenden zwei Stunden diskutieren und entscheiden wir im kleinen Kreis über das große Bezirks-Liquid-Feedback. Wie lange sollen Informationen über die Abstimmungen abrufbar sein: zehn Jahre, fünf Jahre oder lieber nur zwölf Monate? Tobias aus meiner Crew fordert ein »Recht auf Vergessen«. Andere argumentieren, das Internet vergesse ohnehin nichts. Am Ende gewinnt der Antrag für eine Löschfrist von fünf Jahren gegen den Antrag für eine Löschfrist von zehn Jahren – und zwar mit zehn zu acht Stimmen. Mehrheit ist Mehrheit.
Je älter der Nachmittag, desto größer scheint das Bedürfnis der Piraten in der »Jägerklause«, die Anträge zügig durchzuwinken. Das Bezirksliquid soll zunächst drei Themenbereiche bekommen? Einstimmig angenommen. Die anwesenden Piraten sollen sich heute noch akkreditieren? Einstimmig angenommen. Es muss weitergehen, die »Jägerklause« steht der Partei schließlich nur bis 20 Uhr zur Verfügung. Mit jeweils 18 von 18 Stimmen wählen wir zum Abschluss in geheimer Abstimmung auch drei neue Liquid-Feedback-Beauftragte. Als das Ergebnis verkündet wird, ruft Ralf in den Saal: »Auf unser sozialistisches Einheits-Liquid!«
Kaum zu glauben, dass sich die Piraten beim vergangenen Lokalparteitag endlose Wortgefechte geliefert haben. Und wie vergiftet die Stimmung damals war.
Gegen 19 Uhr rücken die ersten Piraten auffällig nah zum Saalmikrofon vor. Gleich soll dort die offizielle Akkreditierung beginnen, und offensichtlich läuft bereits ein Wettrennen um die besten Plätze. Ein Pirat verliest noch einmal die Spielregeln: Jeder, der sich bei der Demokratiesoftware auf Bezirksebene anmelden wolle, müsse sich vorne am Mikrofon mit Namen und Mitgliedsnummer vorstellen, dann müsse er am Akkreditierungstisch den Mitgliedsausweis und einen gültigen Personalausweis beziehungsweise einen Reisepass und eine Meldebestätigung vorlegen und ein Formular ausfüllen.
Da verkündet einer der Piraten aus dem Berliner Abgeordnetenhaus bereits per Twitter: »Ich bin akkreditiert! Erster!« Jetzt steht ein Bezirksverordneter vorne am Mikro und gibt nach kurzer Kunstpause bekannt, er sei das Parteimitglied mit der Nummer »... zwei!« Szenenapplaus im Saal.
Als vierzehnte Piratin aus Friedrichshain-Kreuzberg gehe ich ans Mikro: »Astrid Geisler, Mitgliedsnummer 3-9-1-2-0.« Dann geht’s weiter zur Akkreditierung, ich strecke einer der Prüferinnen meinen Personalausweis entgegen: »Den Mitgliedsausweis habe ich leider noch nicht.« Sie lächelt mich freundlich an. »Das macht doch nichts! Ich bin drei Jahre dabei und hab auch noch keinen Ausweis.«
Dieses Bezirks-Liquid-Feedback ist wirklich eine überschaubare Veranstaltung. An diesem 26. August haben sich genau 22 Piraten angemeldet. Selbst ich als dienstjüngste Teilnehmerin kenne die Hälfte von ihnen schon persönlich. Ich würde mich dafür verbürgen, dass hier bislang alles mit rechten Dingen zugeht. Die andere Frage ist: Welche Aussagekraft hat es, wenn demnächst womöglich schon ein Dutzend delegierter Stimmen ausreicht, um im Bezirk Richtungsentscheidungen alleine zu treffen? Und: Ist das unsere Idee von Basisdemokratie, wenn am Ende genau jene engagierten Lokalpiraten die wichtigen Entscheidungen unter sich ausmachen, die dies auch ohne virtuelle Hilfsmittel tun würden?