10 »Fahrradbeleuchtung deregulieren«

Warum die Demokratiesoftware Liquid Feedback mit Piratinnen wie mir schlechte Aussichten hat

Meine Zwischenbilanz ist blamabel. Ich zähle im Kalender nach: Seit siebzehn Tagen bin ich nun bei Liquid Feedback angemeldet. Die Demokratiesoftware ist das Markenzeichen der Piraten – die FAZ hält sie für den »Kern der Partei«, ihren »eigentlichen Inhalt«. Die Zeit schwärmte: Liquid Feedback, das sei »Basisdemokratie, übersetzt in Programmiersprache«. Und ich? Boykottiere diese visionäre Technik. Nicht etwa vorsätzlich. Es hat sich einfach so ergeben.

Ungläubig zähle ich noch einmal im digitalen Kalender auf meinem Laptop nach. Es stimmt leider: Nach fast drei Wochen habe ich im Liquid Feedback genau eine politische Initiative unterstützt. Mehr nicht. Ich habe weder für noch gegen irgendetwas gestimmt, keine Änderungsvorschläge eingebracht, geschweige denn eine eigene Reformidee ins Rennen geschickt.

Wenn die Liquid Democracy, jene visionäre, »flüssige« Version der Demokratie, auf Bürger wie mich angewiesen ist, dann kann man sie wohl vergessen. Schön ist das nicht. Ausgerechnet Liquid Feedback macht mir seit Tagen schlechte Laune. Ich gestehe es ungern, aber es ist so: Auf nichts hatte ich mich seit meinem Eintritt in die Piratenpartei mehr gefreut – und nichts hat mich mehr enttäuscht als dieses angeblich so phänomenale Computerprogramm.

Wie konnte das passieren? Solange ich noch auf meinen Zugangscode für Liquid Feedback gewartet hatte, gehörte ich zu den Verfechtern der neuen Homeoffice-Demokratie. Ich brannte darauf, endlich abends daheim am Küchentisch mit ein paar Mausklicks die Parteipolitik mitzubestimmen. Ich wollte nicht länger nur auf Mumble mitreden oder irgendwelche Mailinglisten lesen, sondern auch: Abstimmen! Änderungsanträge stellen! Initiativen einbringen! Am liebsten natürlich so erfolgreich wie der Berliner Pirat Jan Hemme, dessen Datenschutz-Vorstoß es bis in den Bundesrat geschafft hatte.

Was ich über das neue Demokratie-Tool las, machte mich neugierig. Die Software Liquid Feedback war seit Herbst 2009 von Mitgliedern der Piratenpartei entwickelt worden. Sie sollte es den Piraten trotz einer wachsenden Mitgliederzahl ermöglichen, die Idee der Liquid Democracy in der Praxis zu testen. Allerdings gehört die Software nicht den Piraten, sie ist ein Open-Source-Programm und kann auch von anderen Parteien und Organisationen genutzt werden.

Liquid Feedback stehe für eine »Gamification der Politik«, stand im Spiegel, die Gesetzgebung funktioniere bei den Piraten wie ein Computerspiel. »Während in anderen Parteien politische Ideen den Ortsverein nicht verlassen und der Bundesvorstand die Richtung vorgibt«, laufe es bei den Piraten genau andersherum. »Eine Armee einfacher Parteimitglieder« entwerfe »einen Schlachtplan, den Abgeordnete exekutieren«.

Auch die »Chaos Computer Club«-Sprecherin Constanze Kurz pries das Potenzial der Internetsoftware an. Im Kern gehe es um »das Versprechen einer niedrigschwelligen Möglichkeit zur Mitgestaltung und politischer Teilhabe«, schrieb sie, und zwar »auch für Menschen, die nicht die Politik zu ihrem Lebensinhalt machen wollen und die nichts zu tun haben mit der Kaste der Berufspolitiker«. Die CCC-Sprecherin versicherte sogar: »Liquid Feedback und verwandte Werkzeuge sind das mächtigste Mittel der Piraten für diese neue Art des Politikprozesses. Der Gedanke: Jeder Pirat kann zu jedem Thema seine Meinung einbringen, beim Priorisieren der Inhalte mitentscheiden und darüber abstimmen.«

Bei so viel innovativem Potenzial war mir unbegreiflich, wie der Großteil der Piraten derart träge und unkreativ sein konnte: Wieso war fast zwei Jahre nach dem bundesweiten Start von Liquid Feedback im August 2010 immer noch nur etwa ein Drittel der Piraten bei der Demokratiesoftware angemeldet – obwohl die Piraten doch zum Start der Pilotphase getönt hatten, erstmals in der deutschen Parteiengeschichte könnten »alle« Mitglieder einer Organisation an der Meinungsbildung beteiligt werden und konstruktiv mitarbeiten? Warum nutzten die gut 9.000 registrierten Piraten ihre Ausflugsmöglichkeit in die Zukunft der Demokratie so wenig? Nach Angaben eines Parteivorstands hatten bis Anfang Juni 2012 nur 5.400 überhaupt je an einer Liquid-Feedback-Abstimmung teilgenommen und noch viel weniger selbst einen Antrag eingebracht. Ich fand das ein bisschen peinlich.

Schließlich hatte doch sogar der Kreistag in Jever am 11. Juli 2012 einstimmig beschlossen, die neue Form der virtuellen Mitbestimmung nicht den Piraten zu überlassen. Friesland solle als erster Landkreis der Republik mit Liquid Feedback arbeiten. Der stolze SPD-Landrat Sven Ambrosy verkündete, Liquid Friesland werde »noch mehr Transparenz und Bürgernähe« ermöglichen. Selbst die CDU in Nordrhein-Westfalen hatte kürzlich Interesse an der Mitmachsoftware gezeigt. Da musste doch allen Piraten klar sein, dass sie mit ihrer Enthaltsamkeit bei den Online-Voten ein zweifelhaftes Vorbild abgaben.

Sobald ich einen Zugangscode bekäme, würde ich mich bei Liquid Feedback in die Arbeit stürzen und die Mitmachstatistik der Piraten aufbessern. Das war mein Plan. Vor drei Wochen.

Es kam anders. Dabei hatte mein Einstieg in die Liquid Democracy noch mustergültig geklappt. Nur einen Tag nach meiner offiziellen Registrierung als Mitglied Nr. 39.120 der Piratenpartei bekam ich eine E-Mail mit meinem Zugangscode für die Abstimmungssoftware zugeschickt. Ich ließ alles andere liegen, setzte mich an den Computer und meldete mich an.

Zu meiner Freude klappten die ersten Schritte ohne größere Zwischenfälle: Keine Stimmen, die mich aus dem Computer heraus zur Ordnung riefen oder in die Neupiratenecke verwiesen wie bei meinem ersten Test der Telefonkonferenzsoftware Mumble. Ich musste nicht einmal meinen Freund um Hilfe bitten.

Ich las einmal quer über die Gebrauchsanweisung »Liquid Feedback in drei Minuten«, die ich zusammen mit dem Registrierungscode per E-Mail bekommen hatte – und los!

Als Erstes meldete ich mein Interesse für drei Themenbereiche an: »Satzung und Parteistruktur«, »Kinder, Jugend, Familie und Bildung« sowie »Innen, Recht, Demokratie und Sicherheit«. Dann schaute ich mich erwartungsfroh um.

Im Themenfeld Innen- und Rechtspolitik stieß ich an oberster Stelle auf die Initiative »Großkalibrige halbautomatische und automatische Waffen sind kein Sportgerät«. Der Vorstoß gefiel mir spontan, da brauchte ich nicht einmal die Begründung durchzulesen. Klick, schon hatte ich der Initiative meine Unterstützung erteilt – schließlich müssen zehn Prozent aller Piraten, die für ein Themenfeld registriert sind, eine Reformidee unterstützen. Ohne dieses Quorum werden Initiativen gar nicht erst zur Abstimmung zugelassen.

Ich surfte weiter – und begann zu staunen. Die Anti-Großkaliber-Initiative schien in ihrer schlichten Schönheit die Ausnahme zu sein. Vor mir auf dem Monitor reihten sich jetzt Initiativen, zu deren Inhalt ich am liebsten erst einmal ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags angefordert hätte. Sollte ich die »unbeschränkte Einkommenssteuerpflicht auch für im Ausland lebende Deutsche« befürworten? Würde ich ein »Initiativrecht für das EU-Parlament« oder eine »Direktwahl des EU-Präsidenten« unterstützen? Und wie wollte ich es mit dem »Abbau der degressiven Proportionalität im EU-Parlament« halten?

Da ich weder Zeit noch Lust hatte, mich in meiner Freizeit eben mal in die Debatte um die EU-Parlamentsreform oder in das europaweite Einkommenssteuerrecht einzuarbeiten, lautete meine Antwort in allen Fällen: Keine Ahnung. Ich hielt das zunächst nicht wirklich für ein Drama. Mit diesem Eingeständnis war ich bei den Piraten ja in bester Gesellschaft. Schließlich hatten einige prominente Parteimitglieder in Talkshows mit ihrem selbstbewussten Bekenntnis zur Ahnungslosigkeit sogar Sympathiepunkte gesammelt. Andererseits: Liquid Feedback ist keine Talkrunde. Bei Liquid Feedback sind Entscheidungen gefragt.

Ich redete mir Mut zu: Von den gegenwärtig 620 Abgeordneten des Bundestags hätten die meisten vermutlich spontan auch keine klugen Argumente für oder gegen all diese anspruchsvollen Initiativen parat. Und wenn das Parlament über Gesetzentwürfe entscheidet, spielen bekanntlich selten nur Fakten eine Rolle – häufig aber Parteiinteressen, politische Befindlichkeiten, offene Rechnungen oder die Fraktionsdisziplin.

Es half nicht wirklich.

Vielleicht sollte ich es beruhigend finden, dass es vielen der gut 9.000 Liquid-Feedback-Teilnehmer aus der Piratenpartei wie mir gehen dürfte. Dass die wenigsten wirklich kompetent über den »Abbau der degressiven Proportionalität im EU-Parlament« urteilen könnten. Wem wäre mit dieser Einsicht geholfen? Stimmten bei Liquid Feedback womöglich vor allem jene ab, die sich ihrer Inkompetenz nicht bewusst waren? Eine gruselige Vorstellung. Wir durften Liquid Feedback doch nicht den Idioten überlassen!

Tapfer nahm ich mir die nächstbeste Liquid-Feedback-Initiative vor. Ihr Ziel – das Strafgesetzbuch um einen § 339a zu ergänzen: »Wer in den Fällen des § 339 fahrlässig handelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Ich wusste nicht einmal, was in § 339 steht. Aber immerhin, das schrieb der Antragsteller in seiner Begründung: »§ 339 regelt die Rechtsbeugung. Diese Rechtsbeugung ist ein Vorsatzdelikt – dem Täter müssen also Wissen und Wollen nachgewiesen werden.«

Es folgte ein längerer Ausflug zu den Schattenseiten unseres Rechtsstaats: Richter und Polizeibeamte kämen »prinzipiell straffrei« aus unrechtmäßigen Hausdurchsuchungen oder Blutentnahmen heraus. Dank des neuen Paragrafen sollten die Opfer solcher Grundrechtseingriffe eine »substanzielle Möglichkeit« bekommen, gegen »unrechtmäßiges Verhalten zum Beispiel von Richtern« vorzugehen. Das Anliegen erschien mir nicht abwegig – und machte mich doch skeptisch. Fahrlässige Rechtsbeugung, sollte ich das gutheißen?

Umso mehr erstaunte mich, dass die Initiative im Liquid Feedback bereits die erste Hürde genommen hatte. Mehr als zehn Prozent aller Piraten, die für das Themenfeld Rechtspolitik registriert waren, hatten diese Reformidee unterstützt. Es gab sogar sechs konkrete Verbesserungsvorschläge zu dem Vorhaben. Der erste Kritiker schlug vor, im Strafrecht sollte »nur grobe Fahrlässigkeit straftatsrelevant sein«, und warnte vor den Folgen der Reform für richterliche Eilentscheidungen. Ein anderer Kritiker regte an, man könne »alternative Maximalstrafen einführen«, allerdings wären hier »Juristen o. ä. gefragt, ob das sinnvoll wäre«. Ach wirklich?

Womöglich wäre diese Strafrechtsreform wegweisend. Vielleicht wäre sie vorsätzlich oder wenigstens fahrlässig idiotisch. Ich konnte es nicht beurteilen, gab vorerst auf – und flüchtete in ein anderes Themenfeld.

Als Mutter zweier kleiner Kinder könnte ich in der Rubrik Familie und Bildung vielleicht von meinem Alltagswissen profitieren. Gleich die erste Initiative auf der Übersichtsseite lautete: »Informatik als Pflichtfach«. Das hätte sich die Satirezeitschrift Titanic nicht besser ausdenken können, wenn sie sich über die Piraten lustig machen wollte. Ein dicker grüner Balken neben dem Titel der Initiative signalisierte: Dieses Projekt hatte bereits scharenweise Unterstützer angelockt. Liquid Feedback, das Königreich der Nerds?

Ich überflog die anderen Initiativen: Auch die »Berücksichtigung neurobiologischer Erkenntnisse im Bildungssektor« stieß auf großes Interesse. »Maschinenschreiben als Pflichtfach« war deutlich weniger beliebt, hatte aber etwa gleich viele Unterstützer gefunden wie »Kein Maschinenschreiben als Pflichtfach«.

Beim Gedanken an die Demokratie der Zukunft hatte ich anderes vor Augen gehabt als die Frage, ob meine Kinder in der Schule eines Tages das Tippen nach dem Zehnfingersystem lernen sollten.

Siebzehn Tage ist mein Fehlstart bei Liquid Feedback nun her. Seither habe ich mich noch ein paar Mal eingeloggt, die Themenübersicht aufgerufen, quer über die Initiativen gelesen – und dann das Abstimmungsprogramm schnell wieder verlassen. Natürlich stets mit dem Vorsatz, mich beim nächsten Anlauf endlich mit viel Zeit und gutem Willen daranzusetzen. Nur: Das ist nicht passiert. Ich suche missmutig nach den Gründen. Habe ich versagt? Oder ist das Programm schuld?

Als ich einem Kollegen davon erzähle, legt er mir einen Text ans Herz. Solle ich unbedingt lesen, dann wisse ich, warum Liquid Feedback absolut überbewertet sei. Eigentlich habe ich keine Lust darauf, denn ich weiß, der Kollege hält sowieso nichts von den Piraten, genau wie Michael Spreng, ehemaliger Chefredakteur der Bild am Sonntag und Autor dieses angeblich so erhellenden Textes. Nun rufe ich den Blog-Beitrag doch auf. Er trägt den Titel »Die Mitmach-Illusion« und ist eine schwungvolle Polemik.

Spreng schreibt, die überwältigende Mehrheit der Piraten habe keine Zeit für endlose Diskussionen und Abstimmungsprozesse. »Für die meisten ist Privatleben und Beruf wichtiger und spannender als die virtuelle Welt.« Die Mitmachdemokratie werde zwar von vielen gewünscht, aber nur von wenigen genutzt. »Theorie und Praxis klaffen selten so weit auseinander wie beim Thema politische Partizipation.«

Und der Autor setzt noch einen obendrauf. Er behauptet, die Mitmachdemokratie sei eine Illusion, denn die Menschen hätten ganz andere Sorgen und Interessen. Die »Kernbotschaft« der Piraten laufe deshalb »auf Grund«.

Mindestens ebenso interessant wie der Text ist die Debatte in den Kommentaren darunter. Einer der Leser merkt an, es gebe doch bei Liquid Feedback auch die »Möglichkeit der Repräsentation«. Ein anderer bekräftigt, das System der Liquid Democracy gehe viel weiter als von Spreng beschrieben. Wer sich selbst nicht um ein Thema kümmern könne, keine Ahnung oder kein Interesse habe, der könne seine Stimme an eine Person seines Vertrauens delegieren.

Darauf erwidert Spreng, das »System der Superdelegierten« erhöhe doch nur die Intransparenz dieser Software und bedeute, »dass sich an den Diskussionen und Abstimmungen in Wirklichkeit noch weniger Menschen beteiligen«. Außerdem ergebe sich der »Juso-Effekt«: »Früher wurden Diskussionen und Abstimmungen bei der SPD von denen beherrscht, die bis tief in die Nacht bleiben konnten, weil sie nicht am nächsten Morgen um 6 Uhr zur Arbeit fahren mussten. Das Pendant dazu ist heute das Internet-Prekariat.«

Ich gebe den Kommentatoren des Blog-Beitrags recht: Wer die Qualitäten von Liquid Feedback beurteilen will, darf die Möglichkeit der Stimmweitergabe nicht ausblenden. Und meine Parteifreunde sehen das ähnlich. Abends beim Piratenstammtisch im »Kinski« oder beim Crew-Treffen im »Caminetto« – wann immer ich meine Startschwierigkeiten mit Liquid Feedback erwähnte, lautete der Rat: Ich solle meine Stimme anderen Piraten übertragen, statt sie verfallen zu lassen. Solche Delegationen seien einfach einzurichten und obendrein im Sinne der Liquid Democracy. Sie machten die Demokratie erst so richtig flüssig.

Ich las ein bisschen im Internet nach und stellte fest: Es stimmte. In einem Grundlagentext über die Liquid Democracy schreibt Andreas Nitzsche, einer der Entwickler von Liquid Feedback: Da niemand genug Zeit und Wissen habe, um alle Fragen selbst zu entscheiden, sehe die »Liquid Democracy eine übertragbare, themenspezifische Delegation des Stimmrechts an beliebige andere Personen vor«. Die Liquid Democracy erhebe diese Möglichkeit der Stimmendelegation sogar »zum Prinzip«. Man gebe seine Stimme an eine Person weiter, der man grundsätzlich oder zumindest in einer Sachfrage die Vertretung seiner Interessen zutraue – oder wenigstens die Entscheidung überlassen wolle, wer die konkrete Frage am besten beantworten könne.

Nach Ansicht des Liquid-Feedback-Erfinders ergibt sich in der Liquid Democracy deshalb automatisch ein »fließender Übergang zwischen direkter und repräsentativer Demokratie«. Jeder Teilnehmer könne für sich entscheiden, wie er beide Systeme mischen wolle – und zwar bei jedem einzelnen Thema neu.

Nun sitze ich am Computer und ringe mit mir selbst. Die Sache mit den Delegationen ist mir irgendwie suspekt. Natürlich: Die Stimmweitergabe ist wunderbar flexibel und transparent geregelt. Ich muss meine Stimme nicht für vier Jahre abgeben, wie bei einer Bundestagswahl, sondern darf sie mir zurückholen, wann immer ich möchte. Sobald ich bei Liquid Feedback doch an irgendeiner Abstimmung teilnehmen will, ist die Delegation durchbrochen. Wenn mir danach ist, kann ich mein Stimmrecht auch mehrmals täglich neu verteilen.

Nur: Wer in dieser Partei denkt wohl so ähnlich wie ich und würde in meinem Sinne votieren? Denis, der sympathische Kapitän der Crew Prometheus? Ralf, unser meinungsstarker Bezirksverordneter? Johannes Ponader, der medial omnipräsente Politische Geschäftsführer der Piraten? Oder vielleicht niemand?

Ich bin neu. Ich weiß wenig über die politischen Ansichten von Denis oder Ralf. Und selbst wenn ich beide richtig gut kennen würde: Könnten Denis oder Ralf oder Johannes Ponader deshalb besser als ich beurteilen, ob das Strafgesetzbuch um einen §339a ergänzt werden sollte? Oder wären sie ähnlich ahnungslos wie ich?

Ich stöbere im Liquid Feedback, das Grundsatzpapier des Liquid-Feedback-Entwicklers hat mich neugierig gemacht: Ob die Piraten wirklich ihre Stimmen weiterreichen?

Und tatsächlich: Fast alle Piraten, die ich bisher kenne, nutzen die Möglichkeit. Der eine delegiert sein Stimmrecht komplett an einen bekannten Piraten aus dem Berliner Abgeordnetenhaus. Und weil auch der Abgeordnete eine sogenannte Globaldelegation eingerichtet hat und der Empfänger dieser Delegation ebenfalls seine Stimmrechte weiterreicht, sehe ich die Stimmen vor meinem inneren Auge bereits durchs Liquid Feedback flitzen wie Datenpakete durchs Internet. Der Kreativität scheinen kaum Grenzen gesetzt: Wenn Ernie an Bert delegiert – delegiert Bert halt an Ernie.

Oder an Martin Haase. Haase, ein internetbegeisterter Linguistikprofessor und Pirat ohne Parteiamt oder Mandat, versammelt derzeit mehr als 200 Stimmen auf sich. Der Spiegel erklärte ihn deshalb zum »wohl mächtigsten Piraten«. Das mag übertrieben sein. Aber bei dem einen oder anderen Thema kann Haase mit seinen vielen Huckepack-Stimmen schon mal den Ausgang der Abstimmung entscheiden. Und weil das so ist, kommt es vor, dass ein Pirat dienstags vor dem »Kinski« herumsitzt, wo sich die Berliner Piraten zum Stammtisch treffen, und Martin Haase abfangen will, um ihn von seiner Liquid-Feedback-Initiative wissen zu lassen. Schließlich geht mit Haase vieles in der Demokratiesoftware, ohne ihn manchmal nichts.

Das alles ist grundsätzlich nachvollziehbar geregelt. Doch je länger ich mich durch die Delegationslisten klicke, desto weniger steige ich noch durch, wer in dieser Partei eigentlich für wen über was entscheidet – und dabei welchen Einfluss hat. Wenn ich Martin Haase meine Stimme gäbe, würde er dann im Zweifelsfall wirklich selbst für mich entscheiden? Oder am Ende jemand ganz anderes? Und wenn ja, woher soll ich wissen, ob ich dieser Person wirklich meine Stimme schenken wollen würde? Weil jeder, den Martin Haase für kompetent hält, wirklich kompetent sein muss, selbst wenn er dann auch nur wieder jemanden für kompetent hält, der wiederum jemand anderen für kompetent hält? Mit Transparenz hat diese Vorstellung für mich nicht mehr besonders viel zu tun. Eher mit blindem Vertrauen. Oder mit Demokratie-Lotto.

Delegieren scheidet für mich vorerst aus. Wenn ich mein Stimmrecht nicht verfallen lassen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als es noch einmal selbst mit Liquid Feedback zu versuchen.

Ich nehme mir den Bereich Bildungspolitik vor. »Informatik als Pflichtfach«? Idiotisch, sagt mein Bauchgefühl. Ich verschiebe die Initiative mit dem Mauszeiger in ein rotes Feld auf dem Bildschirm. Und schon habe ich das Projekt abgelehnt. »Maschinenschreiben als Pflichtfach«? Auch Unfug, sagt mein Bauch. Ich schiebe die Initiative in das rote Feld, die Gegeninitiative »Kein Pflichtfach Maschinenschreiben« in das grüne. Eigentlich läuft es plötzlich doch ganz flüssig.

Vielleicht darf man das alles hier nicht zu ernst nehmen. Wer weiß, nach welchen Kriterien meine Mitstreiter abstimmen?

Auch ein anderer Gedankengang erleichtert mir die Entscheidungen: Ich frage mich einfach regelmäßig, wen außerhalb der Partei solch ein Meinungsbild interessieren wird. Piraten befürworten Maschinenschreiben als Pflichtfach. Piraten lehnen Maschinenschreiben als Pflichtfach ab. Ist dem Rest der Welt doch wahrscheinlich ohnehin egal.

Richtig effizient bin ich, wenn ich mich auf die simplen Initiativen beschränke. »Fahrradbeleuchtung deregulieren«? Wunderbar. »Die Piratenpartei beteiligt sich nicht an der Verbreitung und Ausarbeitung von Verschwörungstheorien«? Natürlich! »Erhöhung der Eigenkapitalquote der Banken im Euro-Raum«? Leider nicht meine Liga. »Änderung der Baunutzungsverordnung«? Irgendwie unsexy.

Ich stelle mir lieber nicht vor, wohin es führte, würden alle nach diesen Lust-und-Laune-Kriterien votieren und sich sogar der Bundestag immer nur die einfachen Fragen aus der Tagesordnung heraussuchen. Aber: Dies hier ist ja nicht der Bundestag! Das »Computerspiel Politik«, von dem im Spiegel die Rede war, muss ja auch mal Spaß machen.

Ich springe zum Themenbereich Parteisatzung. Oha! Da hätte ich beinahe etwas verpasst. Einige Piraten wollen die Mitgliedsausweise abschaffen. Was soll das? Ich warte seit Mai auf meinen Ausweis, ich habe mit meinem Beitrag dafür bezahlt – im Gegensatz zu Tausenden Piraten, die ihrer Partei die Jahresgebühr schulden. Diese Initiative kann sich nur jemand ausgedacht haben, der längst sein orangefarbenes Kärtchen im Geldbeutel herumträgt!

Es gibt zwar auch eine Gegeninitiative zur Rettung der Mitgliedsausweise, aber die scheint in der Piratengunst weit abgeschlagen. Was soll’s! Jede Stimme zählt. Ich votiere gegen die Initiative »Streichung § 3 Absatz 6 (Mitgliedsausweise)« und für »Mitgliedsausweis in der Satzung behalten« – und klappe meinen Laptop zu. Ob und wann eines dieser hübschen Piratenkärtchen in meinem Briefkasten landet, hängt wohl kaum von diesen Liquid-Feedback-Initiativen ab.