20 »Die Kandidaten müssen den Rubikon überschritten haben«

Warum der Bundestagswahlkampf die Partei verändert und fast jedes Mitglied antreten könnte

Tom lässt heute mal Hitler für sich sprechen. Natürlich nicht den historischen, sondern eine mehr als zwei Millionen Mal geklickte Parodie auf YouTube, bei der ein Schauspieler als Hitler verkleidet zehn Minuten lang cholerisch auf den Tisch haut und dabei unzählige Male »Nein!« brüllt. »Nein! Nein! Nein! Nein!« Was Tom von den umstrittenen Programmentwürfen zur Wirtschaftspolitik der Piraten hält, ist damit klar.

Während also vorne an der Beamer-Leinwand, die mal ein Bettlaken war, der Diktator herumbrüllt und auf den Schreibtisch trommelt, hält Denis im virtuellen Sitzungsprotokoll der Crew Prometheus fest: »Zu allen Anträgen sagen wir« – und dann folgt der Link auf das Video.

Toms Meinung zählt etwas in der Crew, er ist ein kluger, ausgleichender Typ – und hat obendrein Ökonomie studiert. Er hat sich bereit erklärt, uns heute Abend zu erläutern, was er von zwei umfangreichen Grundsatzanträgen zur Wirtschaftspolitik hält. Die Anträge sollen in fünf Wochen in Bochum beim Bundesparteitag auf die Tagesordnung kommen – und von dort, noch rechtzeitig zur Bundestagswahl, ins Grundsatzprogramm der Partei. Damit niemand mehr behauptet, die Piraten hätten keine Inhalte zu bieten.

Auf den ersten Blick geht es nur um die Frage, welches der konkurrierenden Wirtschaftskonzepte das Bessere ist: das »Grundsatzprogramm Wirtschaftspolitik« oder der Gegenantrag »Wirtschaftspolitische Grundsätze der Piratenpartei«. Doch letztlich steht an diesem Oktoberabend im Hinterzimmer des »Caminetto« das künftige Profil der Partei zur Debatte: Sind die Piraten links- oder wirtschaftsliberal, sozialliberal, freiheitlich oder stattdessen eher undogmatisch, emanzipatorisch, progressiv beziehungsweise halt irgendwie voll anders?

Schon in den vergangenen Wochen kamen bei unseren Crew-Treffen immer öfter Richtungsstreits in der Partei zur Sprache. Es ging um Parteichef Bernd Schlömer, um die Frage, wie FDP-nah er wirklich ist, und auch um die Sorge einiger Berliner Piraten, mit ihrem vergleichsweise linksalternativen Kurs von mitgliederstarken Landesverbänden wie Bayern und Baden-Württemberg an den Rand gedrängt zu werden.

Tiefe Risse ziehen sich durch die Partei, vielleicht sind es auch längst Spalten. Einige Piraten hören sich an, als wären sie in den Achtzigerjahren mit Jutta Ditfurth im linken Flügel der Grünen groß geworden. Andere scheinen auf der Suche nach einer cooleren Version der Linkspartei. Manch einer wäre mit seinen marktradikalen Thesen zweifellos auch in der FDP willkommen. Wieder andere würden sich vermutlich ersatzweise in der STATT-Partei abreagieren, wenn diese Protestgruppierung nicht vor Jahren in der Bedeutungslosigkeit versunken wäre. Und es wäre naiv, die Parteibasis einfach nur als bunt einzuordnen. Bei den Berliner Piraten fühlte sich zwischenzeitlich auch ein Rechtsanwalt aufgehoben, der eine steile Karriere im »Bund Freier Bürger« gemacht hatte und außerdem auf der Autorenliste der Rechtspostille Junge Freiheit stand.

Der Richtungsstreit betrifft aber nicht allein programmatische Fragen, es geht auch um das Selbstverständnis dieser Partei: Wollen die Piraten als utopistische Alternative von außen zuschauen und kritisieren oder sich pragmatisch ins politische Alltagsgeschäft einbringen?

Die beiden Grundsatzanträge zur Wirtschaftspolitik, um die es heute Abend geht, stammen nicht von irgendwem, sondern von zwei der »zehn wichtigsten Strippenzieher der Piraten«, so jedenfalls sieht das Spiegel Online. Hinter dem ersten Entwurf steht Laura Dornheim, jene Piratin aus dem »Kegelklub«, mit der ich im Frühsommer aus Protest gegen das Betreuungsgeld vor dem Kanzleramt herumgestanden habe. Der andere stammt von Jan Hemme, dem Piraten, der eine seiner Liquid-Feedback-Initiativen bis in den Bundesrat brachte und bei meinem ersten Stammtisch-Besuch im »Kinski« zufällig neben mir auf dem Sofa saß.

Es ist ein bemerkenswerter programmatischer Zweikampf: Jan und Laura sind beide noch kein Jahr bei den Piraten. Beide kommen beruflich aus der Berater-Branche. Beide rackern seit Monaten für die Partei, als hätten sie ihr Leben lang von nichts anderem geträumt. Jan, im Spiegel-Online-Ranking als »rhetorisch geschickter Karrierist« eingeordnet, hat dem Bericht zufolge sogar seinen Job aufgegeben und ist nun Berater von Parteichef Bernd Schlömer.

Vermutlich könnte man auch sagen: Der Wahlkampf ist eröffnet. Nicht irgendwo draußen auf der Straße, nicht im Fernsehen oder bei Facebook, sondern in der Partei – und hier, im schummrigen Hinterzimmer des »Caminetto«. Es geht um das beste Wirtschaftsprofil, aber nebenbei auch um die optimale Startposition zur Bundestagswahl, für die gesamte Partei und für einzelne Mitglieder.

Längst haben überall im Land zahllose Piraten ihre Bewerbung für den Bundestag bekannt gemacht, und es wäre eine kleine Sensation, wenn ausgerechnet Jan und Laura nicht ebenfalls demnächst aus der Deckung kämen.

In jedem Fall dürfte der Wettstreit um die wenigen, aussichtsreichen Listenplätze wohl nirgendwo härter werden als hier in Berlin. Gerade hat jemand via Mailingliste verkündet: Wenn die Partei fünf Prozent der Stimmen hole, wären das nur zwei sichere Listenplätze für die Berliner Piraten.

Wer einen davon haben will, sollte deshalb Meilensteine vorweisen. Und das eine oder andere Kapitel im Grundsatzprogramm könnte so einer sein. Während also Jan und Laura darum ringen, wer der Partei das bessere Wirtschaftsprofil verpassen und sich damit hervortun kann, zerlegt Tom deren Entwürfe. Sind die Piraten kurz davor, ausgerechnet ihr Grundsatzprogramm um fürchterlichen Unsinn zu erweitern? Auf Toms Laptop jedenfalls sind beide Antragstexte mit roten Markierungen und Randnotizen überzogen.

Dutzende Kritikpunkte habe er aufgelistet, berichtet Tom. Der Großteil betreffe Lauras Konzept, aber auch an Jans Programmentwurf habe er allerhand auszusetzen. Es geht auf Mitternacht zu, vorne im »Caminetto« packen Kellner schon die Wäschesäcke. Wie sollen wir das in dieser Sitzung noch schaffen?

Tom hat eine Idee: Wir könnten ja eine beliebige Zahl nennen und er werde uns erklären, was er an ebendiesem Punkt kritisiere. Oder fänden wir das geschmacklos? »Achtzehn!«, ruft jemand vergnügt. Die Crew Prometheus spielt heute also Programm-Bingo! Was Tom an den Entwürfen bemängelt, ist schnell klar. Er findet, für so grundlegende Fragen hätten sich Laura und Jan viel mehr Zeit nehmen sollen. Ihre Texte seien floskelhaft, oberflächlich, zum Teil in sich widersprüchlich – kurzum, nicht ausgereift.

Zufällig hatte ich gerade vorgestern Abend daheim auch ein kleines Quiz veranstaltet. Mein Freund sollte zum Spaß raten, von welcher Partei die programmatischen Aussagen stammten, die ich ihm vorlas: »Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen.« Klinge nach SPD, fand mein Freund. »Es gehört zu den Aufgaben des Staates, sicherzustellen, dass auch im freien Markt die Menschenwürde respektiert wird.« Mein Freund tippte auf die Grünen. »Als Vertreter aller Bürgerinnen und Bürger hat der Staat nicht nur das Recht, sondern in besonderen Situationen auch die Pflicht, regulierend in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen, sofern dies im Sinne des Allgemeinwohls ist.« Das hörte sich für ihn nach CDU an. Bei keinem der Sätze tippte er auf die Piraten – obwohl alle aus Lauras Wirtschaftskonzept stammten.

Klar, wer denkt bei Wirtschaftspolitik schon an die Piraten? Andererseits gab mir dieses Ergebnis zu denken: Würde im nächsten Herbst irgendjemand auf dem Wahlzettel sein Kreuz bei der Piratenpartei machen, weil sie in ihrem Grundsatzprogramm dann womöglich verspricht, sie »strebe die Verbindung von Wettbewerbswirtschaft und sozialem Ausgleich an«, wie es in Jans Antragspapier heißt? Oder weil die Partei behauptet, ihr »wirtschaftspolitisches Grundverständnis« gründe »auf den ursprünglichen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft«, was Lauras Konkurrenzpapier vorschlägt?

Mich als Wählerin würden solche Behauptungen weder abschrecken noch begeistern, wobei Jans Entwurf ein wenig unkonventioneller klingt. Er enthält einen Querverweis zu der unter Piraten geschätzten Idee der »Plattformneutralität«, der zufolge alle Menschen einen »diskriminierungsfreien Zugang« zu den wichtigsten gesellschaftlichen Infrastrukturen bekommen sollen – und obendrein die Behauptung, für die Piraten messe sich wirtschaftlicher Erfolg nicht nur an »ökonomischen Parametern«, sondern auch an Größen wie »Wohlbefinden und Zufriedenheit der Bevölkerung im Sinne des Bruttonationalglücks«. Aber letztlich ist auch das ja nur Geschwurbel.

Müssen Grundsatzprogramme womöglich wolkig klingen? Oder sollten zumindest wirtschaftspolitische Grundsatzanträge bei den Piraten genauso vage sein, weil jeder klar positionierte Entwurf in einer so weit auseinanderdriftenden Partei niemals die nötige Mehrheit bekommen könnte? Ich weiß das nicht.

Die anderen Parteien aber werden wissen, warum sie sich wohlklingende, von Allgemeinplätzen strotzende Programmpapiere verpassen. Die CDU behauptet nicht zufällig in ihrem Grundsatzprogramm, sie sei »die Partei der Sozialen Marktwirtschaft«. Und im Grundsatzprogramm der SPD steht mit Absicht: »Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.« Brauchen die Piraten das auch?

Ich frage jetzt einfach mal Tom, er ist ja heute im »Caminetto« unser Ratgeber. »Nein«, sagt er mit ernstem Blick. Wir Piraten seien mal angetreten, um ohne die austauschbaren Phrasen auszukommen, mit denen andere Parteien auf Wählerfang gehen. Und diesen Unterschied müssten wir uns bewahren. Seine Empfehlung: Lieber beim Bundesparteitag kein Wirtschaftsprogramm unterstützen als so eines. Wir könnten ja, regt Tom an, aus der Crew heraus viele gute Fragen an die Antragsteller richten. Er liefere auch gerne die Ideen. Und es beginnt sofort ein so heiteres Gemurmel, als könnten einige es gar nicht abwarten, endlich in Bochum den Parteitag aufzumischen.

Aber ist es wirklich klug, ein Wirtschaftsprofil dieser Partei zu verhindern? Der ARD-Deutschlandtrend sieht die Piraten gerade erstmals seit einem Jahr wieder unter der Fünf-Prozent-Marke. Und eine der beliebtesten Begründungen lautet: Den Piraten fehlt ein richtiges Programm, wie es die anderen Parteien haben.

Auch mein Freund redet davon, wenn wir auf die Piraten zu sprechen kommen. »Die kommen mir vor wie eine Partei im Leerlaufbetrieb«, hat er mir am Sonntagnachmittag bei einem Pistazien-Eis verkündet. Ständig gebe es nur Gezicke und Skandale. »Wissen die überhaupt, was die wollen?« Er könne sich jedenfalls nicht erinnern, dass die Piraten in den vergangenen Monaten inhaltlich irgendeinen Punkt gemacht hätten. Vor einem halben Jahr sei es ja noch ganz lustig gewesen, wenn Leute aus der Piratenpartei in den Talkshows ihre Ahnungslosigkeit zur Schau stellten. Inzwischen habe er aber andere Erwartungen. Wenn seine Meinung exemplarisch ist, dann steht es wirklich nicht gut um das Image meiner Partei.

Eigentlich hätte ich ihm gerne versichert, er solle sich nicht so an diese Programmdebatte klammern. Vermutlich habe er ja auch noch nie einen Blick in ein Wahlprogramm von SPD, CDU, FDP oder Grünen geworfen. Es sei doch viel wichtiger, dass die Piraten mit innovativen Konzepten und zeitgemäßen politischen Prozessen das demokratische System neu belebten. Nach meinen zweifelhaften Erfahrungen mit der angeblich so wegweisenden Demokratiesoftware Liquid Feedback bringe ich solche Sätze aber noch nicht wieder über die Lippen.

Parteipolitik mag eine vergnügliche Sache sein, solange es um wenig geht. Doch diese Zeit ist für die Piraten vorbei. Es geht jetzt um Ruhm, Ehre, Einfluss, Gestaltungsmacht, Geld und ganz, ganz viele Rentenpunkte. Der Wettstreit beschränkt sich nicht auf die Frage, welche Piraten in den nächsten Monaten die steilste Karriere hinbekommen. Die Partei muss gleichzeitig ihren Kurs klären und entscheiden, mit welchen Leuten sie bei der Bundestagswahl über die Fünf-Prozent-Hürde kommen will.

Kaum zu glauben, wie verspielt namhafte Piraten im Mai noch auf Twitter über die Anforderungen an ihre künftigen Bundestagskandidaten brainstormten: »Die Kandidaten müssen einen Kodex unterschreiben, an den sie sich dann nicht halten«, witzelte Christopher Lauer, der Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie müssten »eigenhändig die Sprinkleranlage eines internationalen Flughafens ersetzen können« und »mit einer Hasenzüchtung mindestens einen internationalen Hasenzüchtungszüchterpreis gewonnen haben«. Gerhard Anger, inzwischen wieder zum Vorsitzenden der Berliner Piraten gewählt, fabulierte: »Die Kandidaten sollen ferner bereit sein, Ilias, Odyssee, Zivilprozessordnung, Grundgesetz und die GO des Bundestages auswendig zu lernen«, und außerdem »mit ihrer Herzenswärme einen Bundesparteitag beheizen können«. Simon Weiß, medienpolitischer Sprecher im Berliner Abgeordnetenhaus, ergänzte, die Kandidaten sollten »auf einem Bären zur Aufstellungsversammlung reiten«. Und der Bezirksverordnete Marcel Geppert regte an: »Die Kandidaten müssen den Rubikon überschritten haben.«

Diese Leichtigkeit ist dahin. Wenn ich die Witzeleien heute lese, kommen sie mir vor wie aus einer anderen Zeit.

Ich weiß noch, wie ich staunte, als an einem Vormittag im August während einer meiner Aushilfsdienste in der Parteizentrale ein Pirat hereinspazierte, sich zu Wuerfel und mir an den Tisch setzte und freimütig erzählte, er habe beschlossen, für den Bundestag zu kandidieren. Er wolle sich dort für seine Themen engagieren – welche das waren, habe ich vergessen – und hoffe, damit seine Rente aufzubessern. Mir war diese Ehrlichkeit damals spontan sympathisch.

Inzwischen aber frage ich mich ernsthaft, was jemand eigentlich mitbringen muss, um sich guten Gewissens als Bundestagskandidatin oder -kandidat für die Piraten anzubieten.

Schon vor Monaten haben die Berliner Piraten im Liquid Feedback dazu Vorschläge gesammelt und schließlich über insgesamt 75 Ideen abgestimmt. Die wichtigsten zehn Anforderungen wären demnach: Bundestagsabgeordnete der Piraten sollten Liquid-Feedback-Entscheidungen berücksichtigen, anständig mit anderen Kandidaten aus der eigenen Partei umgehen, das Parteiprogramm gut kennen, kritikfähig, selbstkritisch, teamfähig und aufrichtig sein. Sie sollten Verantwortung übernehmen, Sozialkompetenz haben und »neben den Eierlegendenwollmilchsaueigenschaften vor allem unbestechlich sein«.

Ich hätte ja gedacht, es wäre auch wichtig, dass die Bundestagsabgeordneten der Piraten ihre programmatischen Ziele prägnant zur Geltung bringen und als Oppositionsfraktion die Regierungsparteien damit unter Druck setzen, dass sie Ideale wie Transparenz oder Basisdemokratie in den Bundestag tragen, obendrein mit überdurchschnittlichen Redebeiträgen im Plenum bestechen, in Talkshows punkten – und grundsätzlich einigermaßen unfallfrei kommunizieren. Aber da lag ich wohl mal wieder daneben.

Schon Mitte Juli kürten die Piraten in der Oberpfalz einen 19-jährigen Azubi einstimmig zum Direktkandidaten, der erst drei Wochen zuvor Parteimitglied geworden war. Auf seiner »Wiki«-Seite versichert der Teenager, er sei weder in Privatinsolvenz noch vorbestraft, habe nie für die Stasi gearbeitet und gehöre nicht zu Scientology. Wie beruhigend.

Im baden-württembergischen Rastatt stellten die Piraten einen Lehrer als Direktkandidaten auf, der seine Eignung so begründet: »Ich will in den Bundestag, weil ich die PIRATEN als ›Entlauser‹ der derzeitigen Parteienlandschaft sehe. Ich habe ein anderes Politikverständnis als die meisten Abgeordneten, mein Betriebssystem ist Herz, Verstand und Transparenz.«

Im Piraten-»Wiki« finden sich »Logbücher«, in denen potenzielle Bundestagskandidaten jede E-Mail aufführen, die sie in Parteiangelegenheiten verschickt, und jeden Anruf, den sie für die Partei getätigt haben.

Im August war es für mich noch eine Nachricht, als Anke Domscheit-Berg, die ehemals grüne Netzaktivistin, Ex-Microsoft-Managerin und Frau des WikiLeaks-Aussteigers Daniel Domscheit-Berg, ihre Bewerbung für die Bundestags-Spitzenkandidatur in Brandenburg bekannt gab. Die 44-Jährige war schließlich vier Tage nach mir Piratin geworden. Mein Freund fragte mit spöttischem Unterton: »Und, kandidierst du jetzt auch?« Damals reagierte ich entrüstet: »Bin ich etwa Anke Domscheit-Berg?« Heute muss ich zugeben: Seine Bemerkung war zwar ironisch gemeint, aber nicht so abwegig.

Manchmal frage ich mich, ob sich eigentlich irgendjemand nicht wenigstens um einen hinteren Listenplatz oder eine aussichtslose Direktkandidatur bemüht. Längst steht jeder halbwegs profilierte Pirat unter Verdacht, vielleicht ja doch zu wollen. Die Piratin Julia Schramm richtete zur Klarstellung sogar eine Internetseite ein, mit der Botschaft: julia-schramm-kandidiert-nicht-fuer-den-bundestag.de

Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet in der Piratenpartei der Ansturm so riesig ist: Wenn alle beim Bundesparteitag ihre Anträge einbringen und mitentscheiden dürfen, wenn alle – angeblich – gleich viel zu sagen haben und der Anforderungskatalog an die Kandidaten nach unten viel Luft lässt, wieso sollte dann nicht auch die halbe Partei denken, sie sei reif für den Bundestag?

Inzwischen kann ich kaum noch glauben, wie sich Anke Domscheit-Berg auf Twitter beschimpfen lassen musste, als sie im August ihre Ambitionen öffentlich machte. »Mal schnell bei den Piraten eintreten und für den Bundestag kandidieren« – das könne doch jeder, polterte jemand. Die Kandidatur stärke seinen Verdacht, dass »wir für viele nur ein Sprungbrett sind«, warnte ein anderer. Klaus Peukert aus dem Bundesvorstand der Piraten witzelte zweideutig: »Ich bin im Herzen ja schon immer Kandidat.« Und Jan Hemme, der Pirat mit dem Wirtschaftsprogrammantrag, kramte eine Twitter-Nachricht vom Mai hervor. Damals hatte ein Pirat orakelt, er sei gespannt, wann sich Anke Domscheit-Berg »spontan« zu einer Bundestagskandidatur entschließe – nun ergänzte Hemme: »Sie nannten ihn den Seher.«

Als ich vor zwei Monaten Anke Domscheit-Bergs Bewerbungsseite im Partei-»Wiki« las, war mir endgültig klar, dass jetzt andere Zeiten bei den Piraten anbrechen dürften. Hatte sich nicht der Liquid-Feedback-Bundesvorstand Klaus Peukert schon Wochen zuvor auf Twitter über »das merkwürdige Verhalten mandatswilliger Piraten zur Aufstellungszeit« mokiert? Wie wahr!

Anke Domscheit-Bergs Bewerbungsseite schien mir zwar nicht schlecht aufgezogen. Aber ich fand darin keinen Funken jener liebenswert ironischen Grundhaltung, die ich bisher für piratentypisch gehalten hatte. Im Gegenteil: Die Netzaktivistin stellte ihre Bewerbung um den ersten Listenplatz in Brandenburg als persönliches Opfer dar und versicherte, sie mache das alles nur, weil sie »an den gesellschaftlichen Nutzen und den Nutzen für die Piratenpartei glaube«. Und in der Presse versicherte die Bewerberin, sie bringe einfach bei wichtigen Themen »große Expertise mit, von der es in der Partei nicht beliebig viel gibt«. Mir wurde ein bisschen schlecht, als ich das las. Fand sie das nicht unbescheiden?

Zwei Monate und unzählige Bewerbungsankündigungen später merke ich: Mein Blick hat sich verändert. Mich beruhigt plötzlich der Gedanke, dass im Bundestagswahlkampf eine intelligente, fachkundige und erfahrene Frau wie Anke Domscheit-Berg für die Piraten werben könnte. Ich ertappe mich sogar dabei, glatte, machtbewusste Profis gut zu finden. Ob das anderen Piraten ähnlich geht?