16 »Transparenz ist wie Liebe ...«
16 »Transparenz ist wie Liebe ...«
Je länger ich Piratin bin, desto mehr wird mir klar, wie wenig ich in meiner Partei durchblicke
Niemand bittet um meinen Ausweis. Keiner will wissen, wer ich bin oder was mich in diesen säulenverzierten Renaissancebau treibt, der das Berliner Abgeordnetenhaus beherbergt. Der Pförtner wirft einen kurzen Blick in meine Umhängetasche, ich laufe durch die Sicherheitsschleuse, schon bin ich drin. Nur eine Frage hätte ich noch: »Wo bitte geht’s zum Sitzungssaal 107?«
Wenig später sehe ich den Piraten-Abgeordneten Martin Delius oben auf dem Treppenabsatz, er spricht mal wieder in eine Fernsehkamera. Schräg hinter ihm trottet jemand in ausgebeulten Cargohosen und an Gummiflossen erinnernden Zehenschuhen über den Gang. Das ist doch Simon Kowalewski, der frauenpolitische Sprecher der Fraktion! Gerade verschwindet er nach links durch eine geöffnete Tür. Saal 107. Hier bin ich richtig. In vier Minuten soll die 39. Sitzung der Piratenfraktion beginnen. Wie immer öffentlich. Ich eile hinter dem »Radikalfeministen« Kowalewski her und überlege mir, was ich gleich dem Türsteher sagen werde: dass ich Piratin bin und heute mal die Fraktionssitzung miterleben möchte. Doch neben dem Eingang zu Saal 107 steht nur eine Verkäuferin mit einem Servierwagen und bietet Getränke an.
Drinnen haben die ersten Abgeordneten an einem Kreis aus Konferenztischen schon ihre Laptops aufgeklappt. Hinten im Besucherbereich vor den hohen Fenstern aber sind fast alle Stühle frei. Wie anders war das im Herbst 2011, als die Piraten in Berlin die ersten öffentlichen Fraktionssitzungen abhielten. Ich erinnere mich noch an die Fernsehbilder aus gepackt vollen Fraktionsräumen. Doch was vor elf Monaten als kleine Revolution im Parlamentsbetrieb galt, scheint heute kaum noch jemanden zu interessieren.
Dabei sind die öffentlichen Fraktionssitzungen der Piraten im Abgeordnetenhaus eigentlich ein permanenter Ausnahmezustand. Schließlich tagen CDU, SPD, Grüne und Linkspartei in der Regel weiter hinter geschlossenen Türen, damit keiner mitbekommt, worüber die Parlamentarier bei ihren Strategietreffen streiten. Die Öffentlichkeit soll nur das erfahren, was die Fraktionen mit Absicht streuen oder offiziell verlautbaren.
Die Piraten hingegen haben nicht nur die Türen geöffnet, sie übertragen ihre Sitzungen als einzige Fraktion im Abgeordnetenhaus außerdem live ins Internet und protokollieren sie in Echtzeit, online, für alle einsehbar.
Türen auf, Livestream an, Transparenz hergestellt, ein erstes Wahlversprechen eingelöst? Keine Ahnung, ob sich einige Piraten das vor dem Einzug ins Berliner Landesparlament so ähnlich vorgestellt hatten – ich zugegeben bis vor Kurzem schon. Die Transparenzversprechen der Berliner Piraten fand ich einfach klasse: »Wir werden Maßnahmen umsetzen, die das Nachvollziehen des Handelns und Wirkens der gewählten Vertreter zulassen«, stand 2011 in ihrem Wahlprogramm. Und: »Transparenz ist keine Anordnung, Transparenz muss gelebt werden.«
Inzwischen lese ich solche Sätze nicht mehr ganz so unbefangen. Denn ein Jahr nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus streitet niemand leidenschaftlicher über diese Transparenzversprechen als die Piraten, von denen sie stammen. Die Debatten in den Mailinglisten würden ausgedruckt meterlange Papierbahnen ergeben.
Seit ich Piratin bin, habe ich einige Mitstreiter kennengelernt, die sich unter Transparenz im Parlamentsbetrieb etwas anderes ausgemalt hatten. Vor allem die Wahl des Parteipromis Christopher Lauer in den Fraktionsvorstand direkt im Anschluss an eine mehrtägige nichtöffentliche Klausur der Berliner Abgeordneten gilt vielen als Sündenfall. Die Personalie, so die Kritik, sei zuvor hinter verschlossenen Türen ausgehandelt worden und damit eine Farce gewesen.
Auch bei den Crew-Treffen im »Caminetto« wirft regelmäßig jemand den Piraten im Abgeordnetenhaus vor, sie hielten sich nicht an ihre eigenen Wahlversprechen. Unlängst zum Beispiel empörte sich ein Mitstreiter, ihn interessiere nicht, wann die Landtagsabgeordneten »in die U-Bahn einsteigen oder was die gerade beim Inder essen«. Er wolle wissen, »wie deren Politik zustande gekommen ist«. Doch eben das sei oft nicht möglich. Die Fraktionssitzungen seien zwar öffentlich, würden aber zunehmend zur »Abnickveranstaltung«. Wichtige Entscheidungen fielen zu oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Auch ich hatte mir unter Transparenz eigentlich etwas anderes vorgestellt, als von den Landtagsabgeordneten meiner Partei via Twitter zu erfahren, dass diese dicker geworden sind und deshalb nach einer Personenwaage mit Netzwerkanschluss und Linux-Treiber suchen, dass auf der Speisekarte der Abgeordnetenhaus-Kantine mal wieder veganes Sojaragout steht oder die Armlehnen der neuen Stühle nicht unter die Tische passen. Aber was?
Nach der umstrittenen Fraktionsklausur im Sommer hatte Parteichef Bernd Schlömer in einem Interview gemahnt, es gebe auch für die Berliner Piratenfraktion im Politikbetrieb eine »Präventivkraft des Nichtwissens«. Einige vertrauliche Gespräche müssten unbedingt geschützt werden. »Würden wir vollkommene Transparenz herstellen, würden unsere politischen und Moral- und Rechtssysteme zusammenbrechen.« Schwierig zu beurteilen, ob das eher als Eingeständnis gedacht war oder eine clevere Ausrede.
Ich will nicht unfair sein. Schon jetzt verwenden viele Piraten eine ungeheure Energie darauf, transparent zu sein – oder zumindest zu erscheinen. Und viele ihrer Initiativen sind vorbildlich: Die meisten Abgeordneten der Berliner Piratenfraktion dröseln im Internet ausführlich und für jedermann zugänglich ihre Einkünfte auf. Einige stellen sogar den Einkommensteuerbescheid ins Netz, um ihre Redlichkeit zu belegen. Auf der Website des Abgeordneten Martin Delius findet sich inzwischen eine 276 Seiten lange Liste sämtlicher Veranstaltungseinladungen, die er als Parlamentarier erhalten hat, und obendrein die Information, welche davon er angenommen oder abgelehnt hat. Auch seine Lobbykontakte listet der 28-jährige Softwareentwickler minutiös auf. Ähnlich praktiziert es Fraktionschef Lauer.
Ich frage mich nur manchmal, wann unsere Volksvertreter überhaupt inhaltlich arbeiten sollen, wenn sie ständig damit befasst sind, ihren Politikalltag zu protokollieren, in Blog-Beiträge zu gießen oder bei Twitter auszudiskutieren. Erwarten wir Basispiraten vielleicht alle längst viel zu viel von ihnen?
Nach dem jüngsten Crew-Treffen im »Caminetto« wollte ich es genauer wissen. Ich schaute ins Piraten-»Wiki«, weil ich mir sicher war, dort ein paar halbwegs taugliche Leitlinien zu finden. Und tatsächlich, es gab sogar eine AG Transparenz, auf deren »Wiki«-Seite ich gleich zuoberst die Rubrik »Definition« entdeckte. Doch als ich den Link anklickte, stand dort nur ein einziges Wort: »folgt ...« und darunter ein weiterer Link zu einer Diskussionsseite. Auf der Diskussionsseite wiederum fand sich eine bunte Ideensammlung, die mich an Brainstorming-Runden bei Kirchentagen erinnerte. Sie begann mit assoziativen »Wort-Bedeutungs-Spielen« wie: »Transparenz ist nicht abgrenzbar, sondern lebendig, muss gelebt, gefordert, kontrolliert und immer wieder und wieder neu erdacht werden.« Oder: »Transparenz zeigt sich nur in Taten, nicht in Versprechen.« Oder: »Transparenz ist wie Liebe – nicht zu definieren.«
Am liebsten hätte ich das Browserfenster sofort wieder geschlossen, las dann aber doch noch etwas weiter. Immerhin, weiter unten auf der Seite formulierte die AG einige wichtige Fragen: »Wie weit kann/muss Transparenz gehen?« Oder: »Welche Daten sind im Einzelnen schützenswert und unterliegen deshalb nicht dem Transparenzgesetz?« Nur eine brauchbare Antwort hatte die »Wiki«-Seite nicht zu bieten.
Dafür entdeckte ich einen weiteren Link, der zu einer offiziellen Definition des Begriffs auf der Website der Piratenpartei führen sollte. Was ich dort vorfand, klang ziemlich überzeugend: Der Einblick in die Arbeit von Verwaltung und Politik sei ein »fundamentales Bürgerrecht« und müsse »zum Wohle der freiheitlichen Ordnung entsprechend garantiert, geschützt und durchgesetzt werden«. Außerdem sollten Verwaltung und Politik den Informationszugang für die Bürger »effizient, komfortabel und mit niedrigen Kosten« ermöglichen. Aber was stand denn da ganz oben im Seitenkopf? »Die Informationen auf dieser Seite sind lediglich archivierte Inhalte und höchstwahrscheinlich veraltet.« Na toll.
Ich hatte fürs Erste genug von der Begriffsfindungsdebatte. Mit der »gelebten Transparenz« unter Piraten schien es wie mit der gelebten Demokratie oder der gelebten Nächstenliebe: Grundsätzlich sind stets alle dafür, nur weiß keiner wirklich, was gemeint ist. Vielleicht wäre es erhellender, mir statt der Theorie einfach mal die Praxis im Abgeordnetenhaus anzuschauen?
Die gelebte Transparenz im Berliner Landesparlament beginnt an diesem Dienstagnachmittag mit sieben Minuten Verspätung und absolut unspektakulär. Andreas Baum, der zweite Fraktionschef neben Christopher Lauer, referiert zur Eröffnung erst einmal die Formalitäten. Ich nutze die Zeit, mir die Runde genauer anzuschauen.
Noch nie habe ich so viele VIP-Piraten aus nächster Nähe gesehen. Hinten sitzt Martin Delius im seriös-grauen Sakko, jener Pirat, der mich unlängst in der Parteizentrale ermutigt hatte, als ehrenamtliche Helferin weiterzumachen. Gleich vor mir hat sich der »Tittenbonus«-Pirat Gerwald Claus-Brunner niedergelassen, heute mal im lila T-Shirt und mit lila Palästinensertuch zur beigen Latzhose. Andere Piraten am Tisch kommen mir auch nach elf Monaten im Landesparlament unbekannt vor. Wolfram Prieß? Der Name wäre mir ohne Google nicht eingefallen.
Inzwischen sind immerhin um die zehn Zuschauer da, nach den Aufnahmegeräten und Notizblöcken zu urteilen, eine ganze Reihe Journalisten.
Zwei neue Praktikanten stellen sich der Fraktion vor und versichern, sie seien »von lauter netten Menschen umgeben«, es sei »eine super Stimmung« und mache »auf jeden Fall viel Spaß«. Ein Abgeordneter kündigt die öffentliche Sprechstunde des Petitionsausschusses in einem Berliner Einkaufscenter an, die Fraktion bespricht die Frage, welcher Pirat ein Märchen bei den Berliner Märchentagen vorlesen würde. Man könnte meinen, es sei an diesem Dienstag nichts von Belang passiert. Dabei ist gerade bei Twitter die Hölle los: Fraktionschef Lauer, der links vor mir am Konferenztisch sitzt und nervös mit dem Fuß wippt, hatte am Vormittag einen Gesetzentwurf zum Urheberrecht, immerhin eines der Kernthemen der Partei, an die Presse gegeben – und das Papier wohl als Entwurf der Piratenfraktion verkauft, obwohl er es offenbar nicht mit den Abgeordnetenkollegen abgesprochen hatte.
Einer von ihnen, Simon Weiß, der drei Meter von Lauer entfernt sitzt, hat vorhin in einem Tweet klargestellt, der Gesetzentwurf sei keiner seiner Fraktion und »insbesondere nicht meiner als medienpolitischer Sprecher«. Nun thematisiert der promovierte Mathematiker das Papier auch im Sitzungssaal 107. Er spricht von einem »Urheberrechtsgesetzentwurf, den wir heute anscheinend veröffentlicht haben«, ringt um die passenden Worte. »Im Nachhinein mit so was umzugehen ist nicht schön«, klagt Weiß. Eigentlich müsse man nun die Pressemitteilung auf der Fraktionsseite richtigstellen und dazuschreiben: »Das stimmt nicht, was hier drinsteht, das ist nicht die Position der Fraktion.«
Der Fraktionschef Christopher Lauer schenkt dem aufgebrachten Kollegen keinen Blick. »Es freut mich natürlich, dass wir uns hier um unsere Außenwirkung Gedanken machen«, sagt er ironisch. Dann legt er nach: Er werde sich als Fraktionschef halt künftig einfach nur noch zu Themen aus seinem persönlichen Fachgebiet äußern. Das sei doch »’ne tolle Sache«, die man aus »dieser Geschichte« lernen könne. »Und wie gesagt, falls ich da jemandem auf den Schlips getreten sein sollte, tut mir leid. Wird so in der Art mit Sicherheit nie mehr vorkommen.« Betretenes Schweigen am Tischkreis.
Es ist mal wieder so weit. Die Piraten streiten ganz transparent über ihre Fraktionsarbeit. Ein paar Journalisten hinten im Saal schreiben fleißig mit. Parlamentsberichterstattung kann ein mühseliges Geschäft sein. Bei anderen Parteien müssen Reporter schon mal stundenlang vor verschlossenen Türen herumlungern, in der Hoffnung, dass ihnen der eine oder andere Politiker auf dem Weg nach draußen ein paar Informationen steckt. Gemessen daran sind die öffentlichen Fraktionssitzungen der Piraten für die Medien ein Geschenk. Wo sonst im Parlamentsbetrieb bekommen Journalisten ihre Geschichten quasi in den Block diktiert?
Gerade appelliert der Abgeordnete Alexander Spies, Mitte fünfzig, Schiebermütze, stattlicher Bauch, an die Vernunft seines Fraktionschefs: »Als Fraktionsvorsitzender musst du dich doch zu allem äußern«, sagt er väterlich zu Lauer. Ein Fraktionschef könne Journalisten doch im Interview nicht mit dem Hinweis abfertigen, er müsse sich erst noch beim zuständigen Kollegen erkundigen. »Werd ich aber in Zukunft so machen«, entgegnet Lauer beleidigt. Im Chat zum Online-Protokoll der Sitzung ruft jemand belustigt nach »Popcorn«.
Die Piraten haben sich zum Zoff vor großem Publikum verdammt. Noch vor einem Jahr wurden sie für ihren Mut zur Öffentlichkeit von Kommentatoren gepriesen – und vom Wähler geliebt. Das an der Bevölkerung vorbeigeplante Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 oder die Geheimdienstpannen um die rechtsextreme Mörderbande NSU waren dringliche Gründe, sich Politikbetrieb und Staatswesen grundsätzlich transparenter zu wünschen. Inzwischen ist den Piraten statt Anerkennung für ihren Transparenz-Selbstversuch meist nur noch der Spott des Publikums gewiss.
Flüchten sich die Fraktionsmitglieder jedoch aus Angst vor negativen Schlagzeilen oder Anwürfen aus der eigenen Partei mit ihren Streitereien in den nichtöffentlichen Teil der Sitzung, ist ihnen der Vorwurf sicher, diese Heimlichkeiten widersprächen den eigenen Transparenzversprechen.
Vor Monaten schon befasste sich ein Spiegel-Essay mit diesen Paradoxien: Die Piraten befriedigten mit ihren öffentlichen Fraktionssitzungen in Berlin auf »verhängnisvolle Weise das Unterhaltungsbedürfnis der Medien«, warnte der Autor. Die neue Transparenz im politischen Entscheidungsprozess habe nicht etwa zu einer genaueren Auseinandersetzung mit den Inhalten der Partei geführt, sondern zu einer noch stärkeren Fixierung auf die Inszenierung. Denn jedes Ringen der Piraten um eine Position – »eigentlich das Wesen von Demokratie« – lasse sich medial als Streit und Schaukampf darstellen.
Eigentlich aber, so die Analyse des Journalisten, verdienten die Piraten besondere Nachsicht: »Das Recht, Fehler zu machen, ist eine Voraussetzung dafür, Dinge in der Öffentlichkeit zu tun. Das ist ein Paradox der Transparenz: Je größer die Zahl der Informationen, die uns zur Verfügung stehen, umso wichtiger ist es, dass wir lernen, sie zu ignorieren, zu verzeihen und zu vergessen.« Interessiert hat das aber offensichtlich nicht mal die Kollegen aus der eigenen Redaktion.
Gerade twittert ein Spiegel-Korrespondent aus Raum 107 im Abgeordnetenhaus, Lauer werde in der Fraktionssitzung von den übrigen Fraktionsmitgliedern wegen seines Urheberrechtsentwurfs kritisiert. Und es ist klar, die Presse wird auch dieses Spektakel nicht ignorieren, verzeihen und vergessen, sondern ausschlachten.
Schon am Mittag meldete Welt Online: »Urheberrecht: Berliner Piraten düpieren Parteispitze«. Es dauert nicht lange, dann titelt die Wirtschaftswoche in ihrer Onlineausgabe: »Piraten streiten um Urheberrechtsreförmchen«. Am übernächsten Tag wird in der FAZ ein Interview mit dem Titel »Weniger Demokratie wagen« erscheinen, in dem sich Fraktionschef Lauer fragen lassen muss, ob er mit seinem Alleingang beim Urheberrecht das »Ende der Basisdemokratie bei den Piraten« eingeläutet habe. Und der Spiegel legt schließlich mit einer Geschichte über den »Showpiraten« Lauer nach, der mal wieder die Prinzipien seiner Partei drangebe. Denn Lauer habe den umstrittenen Gesetzentwurf weder der Basis noch dem Parteivorstand gezeigt, dafür aber zwei Anwälten, deren Namen er nicht verraten wolle – »so viel zum Thema Transparenz«.
Mir kommen inzwischen nicht mehr nur die Piraten beim Thema Transparenz unentschieden vor. Auch die Öffentlichkeit bedient sich dieses Schlagworts, wie es ihr gerade passt. Einerseits verlangt sie maximale Transparenz und rügt jeden Verstoß der Piraten gegen die eigenen Maßstäbe, andererseits erwartet sie von deren Parteigremien und Fraktionen maximale Geschlossenheit und Harmonie – obwohl das eine das andere zwingend ausschließt.
Zu Recht wird den anderen Parteien und ihren Protagonisten vorgehalten, sie nährten mit ihrer Geheimniskrämerei die Politikverdrossenheit und verwechselten Demokratie zunehmend mit PR. Doch wenn eine Partei wie die Piraten in einer inhaltlichen Debatte nicht maximal glattgebügelt und pseudoharmonisch auftritt, fehlt den Leuten die gewünschte Orientierung.
Wer Transparenz hört, unterstellt gerne, hinter der durchsichtigen Fassade gebe es nichts zu verbergen. Sobald sich die Tür zum Fraktionssaal öffnet, sollen drinnen keine verfeindeten Karrieristen mehr sitzen, sondern ausnahmslos uneigennützige Idealisten. Doch natürlich ist die Annahme abwegig, durch Livestreams verringerten sich die Intrigen in einer Partei. Wer Strippen ziehen und kungeln will, macht das trotzdem: auf dem Flur, beim Mittagessen, in der Kneipe. Und man kann weder jedes Mittagessen streamen, noch dort, wo gerade keine Webcam ist, nur über Nebensächlichkeiten oder Privates reden.
Als die Piraten sich auf das Kernthema Transparenz verständigten, waren sie eine Kleinstpartei, für die sich nur eine Nischenöffentlichkeit interessierte und deren Mitglieder das Parteigeschehen ohne größere Schwierigkeiten zumindest einigermaßen überblicken konnten. Inzwischen ist die Mitgliederzahl explodiert, Abgeordnete der Partei sitzen in vier Landesparlamenten, und weil alle möglichen Parlamentarier, Funktionsträger, Referenten, Arbeitsgruppen und leidenschaftlichen Einzelkämpfer permanent im Namen der Transparenz großzügig alle möglichen Informationen und Desinformationen streuen, wird die Parteiarbeit selbst für erfahrene Piraten mehr und mehr zu einem kaum durchschaubaren Dickicht.
»Alle Informationen sind unmittelbar und nachvollziehbar zu veröffentlichen«, lautete eine der zentralen Transparenzforderungen im Wahlprogramm der Berliner Piraten 2011. Ein Jahr später stellte Michael Hartung, Sprecher des Orga-Squads, auf der Hauptmailingliste der Berliner Piraten ernüchtert fest: »Das ist genau die Tragik der Partei: Alles ist wahnsinnig transparent, aber keiner kriegt was mit.«
Als der ehemalige Berliner Piratenchef Gerhard Anger unlängst seine erneute Kandidatur für den Landesvorsitz bekannt gab, versprach er, sich des Problemthemas Transparenz anzunehmen. Natürlich könne die Partei einfach »weitermachen wie bisher – twittern, Mailinglisten benutzen, podcasten, Blogs schreiben, Dinge im Wiki verstecken«, mahnte er. »Und wir können weiter glauben, dass uns das zu einer transparenten Organisation macht.« Damit aber verkenne die Partei die immensen »praktischen Probleme, die durch den derzeit fehlenden Überblick entstehen«.
Was er so auflistete, kam auch mir spontan bekannt vor: Piraten, die sich engagieren wollten, wüssten oft nicht wo und wie. Arbeit werde entweder mehrfach oder gar nicht gemacht. Parteimitglieder erführen von den Projekten anderer Piraten oft erst aus der Presse. Und: »Wir halten uns für eine unglaublich transparente Organisation, sind es aber nur in Ansätzen.« Gerhard Anger, Geschäftsführer einer Softwareentwicklungsfirma, hat den Berliner Piraten ein Angebot gemacht. Er will einen neuen Transparenz-Vorstoß im Landesverband anschieben. Ein Softwareprojekt, was sonst. Alle gesammelten und aufbereiteten Daten sollen in eine »OpenData-basierte Software für OpenGovernment« eingespeist und dort laufend aktualisiert werden.
Auch wenn ich höchstens die Hälfte verstehe, klingt das natürlich erst einmal gut: Informationen sollen systematischer gesammelt, aufbereitet, aktualisiert werden. Nur eines kann ich mir trotzdem nicht vorstellen: wie dieses Programm das taktische Verhältnis der Parteimitglieder zur eigenen Transparenz verarbeiten soll.
Als der Sitzungsleiter an diesem Dienstag im Raum 107 nach 43 Minuten das Ende der 39. Fraktionssitzung verkündet, weiß ich: Es herrscht mal wieder dicke Luft in der Piratenfraktion. Aber ich habe mitnichten verstanden, was tatsächlich gelaufen ist. Hatte wirklich monatelang keiner der 14 anderen Abgeordneten mitbekommen, dass Fraktionschef Christopher Lauer an einem Gesetzentwurf zum Kernthema Urheberrecht saß? Und wieso hat der ansonsten so engagierte Fraktionskollege Martin Delius heute kein Wort zu diesem Streit gesagt? Die Fraktionssitzung der Piraten war öffentlich – damit war sie transparent. Trotzdem lässt sie mich ratlos zurück.
Am Tag nach meinem Besuch im Abgeordnetenhaus stellt Martin Delius, wie so oft, einen frischen Podcast über seine Parlamentsarbeit ins Netz. Neugierig klicke ich die Sounddatei an, ich will endlich wissen, wie sich einer der prominentesten Berliner Piraten in dem Urheberrechtsstreit positioniert, über den die Medien inzwischen rauf und runter berichten. Delius’ Lagebericht hört sich ein wenig so an, als lese er aus seinem Terminkalender vor. Er listet auf, dass er einen Kollegen im Kuratorium des Lette-Vereins vertreten habe, für ein Fotoshooting auf dem Dach des Parlaments gewesen sei und eine unglaubliche Zahl von Interviews absolviert habe. Eher nebenbei protokolliert er: »Fraktionssitzung war dann auch noch um 15 Uhr, die war relativ kurz, aber dafür umso interessanter.« Mehr nicht.
Ich sitze daheim vor meinem Laptop und frage mich: Wofür macht er diesen Podcast? Wenn die Sendung dazu beitragen soll, seine politische Arbeit nachvollziehbarer zu machen, dann würden mich andere Dinge interessieren: Seit wann wusste er von der Urheberrechtsinitiative des Fraktionschefs? Fand er es eine gute oder eine schlechte Idee, dieses Papier im Namen der Fraktion herauszugeben?
Und Christopher Lauer? Auch er fabriziert regelmäßig Folgen der Hörsendung »Lauer informiert«. Da wäre es interessant zu erfahren, wie er diese Fraktionssitzung einordnet. Doch leider dauert es ausgerechnet diesmal drei Wochen, bis sich der Fraktionschef mit einer neuen Podcast-Episode aus dem Parlamentsalltag zurückmeldet. Sein Vorstoß zum Urheberrecht und die Reaktionen darauf fehlen darin. Klar, auch die Presse interessiert sich inzwischen längst nicht mehr für Lauers Gesetzentwurf und dessen Entstehungsgeschichte. Andererseits: Just an diesem Septembertag stellt der Parteivorsitzende Bernd Schlömer gemeinsam mit dem offiziellen Urheberrechtsbeauftragten der Piratenpartei, Bruno Gert Kramm, in Berlin eine Broschüre mit Forderungen der Piraten zum Urheberrecht vor – ein Heft, dem Lauer mit seinem Alleingang zuvorgekommen war. Doch auch darauf geht Lauer nicht ein.
Stattdessen plaudert er ein wenig über seine Arbeit im Innenausschuss, bevor er bemerkt: »Heute ist Dienstag, wir haben um 15 Uhr wieder Fraktionssitzung. Wie ihr hoffentlich alle wisst, sind die Fraktionssitzungen öffentlich.« Er erinnert mich jetzt an einen Fernsehmoderator. »Ihr seid natürlich herzlich eingeladen, euch das alle mal anzusehen!«, bekräftigt Lauer, »15 Uhr, Berliner Abgeordnetenhaus – Raum 107! Fraktionssitzung der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus!« Ich klinke mich aus. Danke für die Einladung. Da gehe ich heute lieber mit meinen Kindern zum Sandkasten.