18 »Christopher, das ist tolles Politikgeschwurbel!«
18 »Christopher, das ist tolles Politikgeschwurbel!«
Warum mir ein Wochenende beim Landesparteitag plötzlich doch wieder Lust auf die virtuelle Demokratie macht
Es ist noch nicht einmal Mittag, aber ich wünschte mir wirklich, es gäbe hier irgendwo einen »Logout«-Button. Stattdessen liegt vor mir ein Briefumschlag mit zwei Pappkärtchen: einer gelben Karte für die Ja-Stimmen und einer blassroten für die Nein-Stimmen. Eins der beiden Pappkärtchen soll ich gleich in die Luft strecken. Aber welches? Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich einfach gehen und die anderen Piraten, die um mich herum an langen Tischreihen sitzen, mit dieser Frage alleine lassen. Ich kenne solche Fluchtgedanken inzwischen schon von mir. Ganz ähnlich fühlt es sich an, wenn ich mich zu Hause im Liquid Feedback durch die Anträge klicke.
Es ist Tag zwei des Landesparteitags. Nach den Vorstandswahlen gestern steht heute Programmarbeit auf der Tagesordnung. Ich sitze, gemeinsam mit Piraten aus der Crew Prometheus, in der dritten Tischreihe ganz hinten. Wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich die Antragstexte vorne auf der Beamerleinwand gerade noch so entziffern. Knapp 300 Piraten dürften heute in die Backsteinhalle im Stadtteil Moabit gekommen sein, in der sich früher ein Pumpwerk befand. Fast ebenso viele Laptops stehen auf den Tischen herum. Natürlich sind wieder unzählige Pferdeschwanzträger in schwarzen Motto-T-Shirts da, aber auch ältere Männer in Batikoutfits, eine Frau mit Kopftuch, Menschen mit leuchtend bunt gefärbten Haaren und Herren im Business-Look.
Vorne hat Heiko Herberg, 25 Jahre, soeben den Antrag X032 vorgestellt. Der Jurastudent ist im Juni zum neuen Parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktion gewählt worden, jetzt steht er auf der karg dekorierten Bühne in einem blau-weiß gestreiften Hertha-Trikot mit DB-Logo auf der Brust und hält sich an seinem Smartphone fest, von dem er eben den Antragstext abgelesen hat. Antrag X032 hat es in sich. Die Piratenfraktion möchte von uns wissen, ob sie im Abgeordnetenhaus einen Nachtragshaushalt durchwinken soll, mit dem die schwarz-rote Berliner Regierungskoalition den verpfuschten Flughafenneubau in Berlin-Schönefeld retten will. Es geht um 440 Millionen Euro mehr für den Großflughafen, weil da »ein bisschen was schiefgelaufen ist«, wie Heiko Herberg es eben in seiner kurzen Rede lässig formuliert hat. Die Regierung habe ihren Nachtragshaushalt ohnehin schon eingebracht, erläuterte er. Die Piratenfraktion habe keine Wahl: »Wir müssen uns entscheiden.«
Nur wie? Ich will ja nicht undankbar sein, ganz grundsätzlich ist es natürlich großartig, dass ich als Neumitglied ohne Posten gleich auf einem Landesparteitag über einen so grundlegenden und wichtigen Antrag mitentscheiden darf. In keiner anderen Partei wäre das so einfach möglich. Denn nur die Piraten verzichten auf das Delegiertensystem, erlauben jedem Basismitglied, das seinen Jahresbeitrag gezahlt hat, beim Parteitag mit abzustimmen. Ich weiß dieses Privileg zu schätzen, zumal mich die Piraten hier bereits zum zweiten Mal mit abgelaufenem Personalausweis akkreditiert haben. Deshalb möchte ich auf jeden Fall verantwortungsvoll mit meinem Stimmrecht umgehen. Nur ist das gerade schwieriger als gedacht.
Denn ein Nein zu diesem Antrag wäre ebenso falsch wie ein Ja. Die Gründe hat der Landtagsabgeordnete Martin Delius vorne am Saalmikrofon bereits auf den Punkt gebracht. Die Partei stehe vor der Entscheidung: Wolle sie sich als Opposition profilieren und deshalb grundsätzlich ablehnen, was die Berliner Landesregierung beim Flughafen verbockt habe? Oder den Nachtragshaushalt freigeben, damit der Flughafen für die Berliner am Ende nicht noch teurer werde? Ich würde antworten: Am liebsten beides. Nur kann ich ja schlecht meine zwei Stimmkarten gleichzeitig heben.
Der Versammlungsleiter, den alle ganz selbstverständlich nur »Plätzchen« nennen, holt mich aus meinen Gedanken. »Heiko muss leider weg«, gibt er vom Podium hinunter bekannt. Und jemand ruft belustigt: »Zum Fußball!« Dann trottet der Parlamentarische Geschäftsführer in seinem Fußballtrikot vom Podium hinunter, während »Plätzchen« über einen Schalke-Witz kichert, den ich nicht kapiere.
Heiko muss zum Fußball? Ich hoffe, das war nur ein Scherz. Sicher bin ich mir nicht. Denn im Berliner Olympiastadion empfängt Hertha BSC an diesem Sonntag den VfR Aalen zum Heimspiel. Und Heiko Herberg hat heute früh getwittert, er habe leider seine Hertha-Dauerkarte im Abgeordnetenhaus vergessen und müsse deshalb einen Umweg nehmen. Aber kann es wirklich sein, dass dem Parlamentarischen Geschäftsführer die Zweite Fußballbundesliga gerade wichtiger ist als die anspruchsvolle Frage, die er uns vorhin selbst auf die Tagesordnung gesetzt hat? Als wüsste ich nicht auch Besseres anzufangen mit meinem Sonntag, als mich mit der noch nicht vorhandenen Oppositionsstrategie dieser fünfzehn Piraten im Berliner Landesparlament herumzuquälen!
Am Saalmikrofon hat sich längst eine meterlange Schlange gebildet. Piraten wollen ihre Argumente zum Flughafen loswerden. Ein langhaariger Redner versichert, der Squad Finanzen-Haushalt-Steuern sei dafür, den Nachtragshaushalt »kategorisch abzulehnen«, denn eigentlich gehe es hier doch um die Frage: »Vertraut man der Regierung?« Und das könne er nur verneinen. Martin Delius aus dem Abgeordnetenhaus schaltet sich noch einmal ein. Die Basis solle sich doch bitte mal der Verantwortung bewusst werden, sagt er: »Wenn wir die Regierung wären, könnten wir in dieser verkackten Situation damit leben, dass die Flughafengesellschaft insolvent geht?«
Nicht, dass ich mich nach vier Monaten in dieser Partei noch über ein Wort wie »verkackt« wundern würde. Solche Vokabeln sind unter Piraten so selbstverständlich wie »geil« oder »cool«. Aber ich halte noch immer ratlos den Briefumschlag mit meinen Stimmkarten in der Hand. Die Berliner Piraten sind also in den Niederungen der Realpolitik angekommen. Und ich soll ihnen nun mit meiner Stimme etwas von der Last ihrer Verantwortung abnehmen.
Vorne ist gerade Fraktionschef Christopher Lauer ans Mikrofon getreten. Kein Pirat ist so präsent in den Medien wie dieser 28 Jahre alte Mann in Jeans und grauem Sakko – und kein anderer Pirat annähernd so verschrien an der Parteibasis. Wenn in der Crew Prometheus jemand einen Satz mit »Der Lauer hat ...« beginnt, was gar nicht selten passiert, dann ahne ich inzwischen: Das wird wohl keine Anekdote mit Happy End.
Christopher Lauer, der Anfang 2012 öffentlich machte, dass er am Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom leide (»Ich habe ADHS – und das ist auch gut so«), gilt als machtbewusster Selbstdarsteller und rücksichtslos auf die eigene Publicity bedacht. Seine Kritiker werfen ihm vor, er schere sich nicht um das Piraten-Motto »Themen statt Köpfe« und stoße mit egozentrischen Alleingängen regelmäßig Parteifreunde vor den Kopf.
Ich finde diese Haltung schizophren. Christopher Lauer ist extrem schlagfertig, mit großem Redetalent und mindestens ebenso großem Machtinstinkt ausgestattet. Eine seiner Grundsatzreden im Berliner Abgeordnetenhaus wurde bei YouTube inzwischen mehr als 230.000 Mal abgerufen – über solche Klickzahlen freuen sich manche Popstars. Andere Parteien wären dankbar, wenn sie zwischen Hunderten glatten Langweilern ein Talent wie ihn hätten.
Und Christopher Lauer spricht mir gerade aus der Seele. Ob die Partei wirklich über diesen Antrag zum Nachtragshaushalt abstimmen wolle, fragt er in den Saal. Sollten wir uns nicht lieber eine cleverere Lösung für dieses offensichtlich ziemlich komplexe Problem überlegen? Lauer wedelt ziellos mit den Händen, deutet auf die Leinwand hinter sich, auf die der Beamer seit einer halben Stunde den Antrag von Heiko Herberg wirft. Dann ergänzt er: »Das ist jetzt nur ein Input. Ich hab ad hoc auch keine Lösung.«
Hinter dem Saalmikrofon stehen immer noch Piraten in einer langen Schlange, offensichtlich sind alle überzeugt, weitere unverzichtbare Argumente in die Flughafendebatte einbringen zu können. Viele Wortmeldungen sind so unsachlich und selbstverliebt, dass sie mich kribbelig und müde zugleich machen.
Es vergehen 43 Minuten, bis Christopher Lauer nach einer unübersichtlichen Zahl von Diskussionsbeiträgen noch einmal ans Mikrofon tritt. Diesmal balanciert er seinen silbrigen Laptop auf den Händen und verkündet trocken: »Jetzt ist die Verwirrung komplett. Ich hab hier ’nen schönen Alternativantrag in komplettem Politikgeschwurbel.«
Für diese schonungslos ehrlichen Selbsteinschätzungen liebe ich die Piraten ja. Andererseits: Dies hier ist nicht »Hart aber fair« oder »Günther Jauch«, sondern ein Landesparteitag. Erwartet dieser Pirat allen Ernstes, dass ich gleich meine gelbe Ja-Karte für »komplettes Politikgeschwurbel« hebe?
Der Alternativantrag, den Christopher Lauer auf die Schnelle zusammengeschwurbelt hat, beginnt staatstragend: »Die Piratenpartei Berlin ist sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und unterstützt daher eine Fertigstellung des Flughafens Berlin Brandenburg.« Ähnlich luftig geht es weiter. Ich überfliege den Antrag mehrmals, denn ich suche das ursprüngliche Thema, also die Frage, ob die Piratenfraktion den Nachtragshaushalt in Höhe von 440 Millionen Euro absegnen soll. Ich finde sie nicht mehr. Ich frage Bastian, meinen Tischnachbarn aus der Crew Prometheus. Er weiß auch keine Antwort. Ich könne doch einfach nach vorne gehen und fragen, schlägt Bastian vor. Soll ich?
Hinter dem Saalmikrofon steht noch immer ein knappes Dutzend Piraten an. Natürlich ist ein Parteitag unter anderem für solche Aussprachen da. Womöglich fänden einige im Saal es sogar toll, wenn endlich mal wieder eine Frau das Wort ergreifen würde. Aber ich entscheide mich dagegen. Denn sonst würde ich ja diese Debatte weiter verlängern, obwohl ich sie längst unerträglich finde.
Ich bleibe lieber ganz hinten auf meinem Stuhl und staune über Christopher Lauers Gespür für die Befindlichkeiten in dieser Partei. Jene Piraten, die sich vor einer Stunde noch über den Fraktionsantrag empört haben, klingen am Saalmikrofon plötzlich versöhnlich. »Christopher, das ist tolles politisches Geschwurbel«, versichert ein Pirat aus dem Haushalts-Squad mit kumpelhaftem Lachen. »Aber es ist auch unser Geschwurbel und deshalb muss ich sagen: Ich find’s eigentlich ganz gut.« Szenenapplaus im Saal. Dann hat der Pirat noch eine Frage: Wenn der Parteitag diesen Antrag nun beschließe, was heiße das eigentlich konkret für den Nachtragshaushalt? Danke. Damit hat sich meine Wortmeldung ohnehin erledigt.
Christopher Lauer grinst verschmitzt, als habe er nur auf diesen Einwand gewartet. »Das ist ja das Tolle!«, ruft er mit erhobenem Zeigefinger und führt aus, dass der neue Antrag ein Ja zum Nachtragshaushalt an verschiedene Bedingungen knüpfe. Er hätte auch sagen können: Sein Antrag umschifft die entscheidende Frage zugunsten der politischen Mehrheitsfähigkeit. Diese Strategie kennt man von anderen Parteien, aber Piraten wie Lauer sind offensichtlich auch schon so weit.
Die Basis darf noch ein paar kleine Änderungswünsche anbringen. Christopher Lauer gibt sich großzügig, er scheint zu wissen, er hat die Partei jetzt in der Hand. »Psst«, flüstert er mit theatralischen Armbewegungen ins Mikrofon. »Es tut immer ein bisschen weh, kurz davor, aber das Baby ist gleich da.« Vereinzelte Lacher im Saal. »Oh«, stöhnt Lauer, »ihr seid so gut!«
Zeit für die Abstimmung. Ich hebe meine rote Nein-Karte in die Höhe und sehe ringsherum fast ausschließlich Gelb. Bemerkenswert, was man mit »Politikgeschwurbel« erreichen kann! Es sieht ziemlich schlecht für meine Position aus, ein Gefühl, an das ich mich auch erst noch gewöhnen muss. Der Antrag von Christopher Lauer habe »eine überwältigende Mehrheit« bekommen, verkündet der Versammlungsleiter. Johlen und Applaus. Vorne am Mikrofon steckt Christopher Lauer seine gelbe Ja-Karte in die Sakko-Tasche, dann lacht er überdreht los und ruft: »Vielen, vielen lieben Dank!« Das »komplette Politikgeschwurbel« mit der Kennziffer 0X35 ist also beschlossene Sache.
Wenig später meldet die Nachrichtenagentur dpa: »Die Berliner Piratenfraktion hat sich die Unterstützung der Mitglieder der Piratenpartei gesichert, dem Nachtragshaushalt zum Flughafen-Desaster im Abgeordnetenhaus zustimmen zu können.« Nanu, das hatte ich vorhin aber etwas anders verstanden. Und wo bitte ist der Hinweis geblieben, dass Christopher Lauer diesen vorhin mit großer Mehrheit beschlossenen Antrag selbst als Geschwurbel eingestuft hatte?
Es ist jetzt 14 Uhr. Draußen strahlt die Septembersonne, womöglich wird es keinen so spätsommerlich warmen Tag mehr geben in diesem Jahr. Aber die Landesmitgliederversammlung ist noch längst nicht zu Ende. Im Gegenteil: Die Programmarbeit geht gerade erst richtig los.
Vorne am Mikrofon stellt Jan Hemme, dieser vom Spiegel bewunderte Berliner Basis-Pirat, bereits den nächsten Antrag vor. Das Papier trägt den sperrigen Titel »Berliner Stromnetz ab 01.2015: Rekommunalisierung nach dem Konzept des Berliner Energietisches«. Ich habe keine Ahnung, wie es um das Stromnetz in der Hauptstadt bestellt ist, das Konzept des Energietisches ist mir unbekannt. Mein Magen knurrt. Ich hole mir erst mal einen Teller veganes Chili draußen an der Gulaschkanone und setze mich auf eine Treppe am Rande der Halle. Als die Versammlungsleitung zur Abstimmung aufruft, merke ich: Meine Stimmkarten liegen hinten an meinem Platz auf dem Tisch. Zu spät – aber was soll’s: Insgeheim bin ich froh, mich um die Entscheidung drücken zu können. Denn ich weiß ja gar nicht, ob ich die Rekommunalisierung nach dem Konzept des Berliner Energietisches unterstützen möchte.
Bis ich meinen Teller zurück auf den Geschirrwagen getragen habe, sind auch die Anträge P024 »Einführung der Doppik zur Verbesserung der Übersichtlichkeit und Information des Haushalts« und P009 »Die Piratenpartei lehnt undemokratische Wahlen zur IHK-Vollversammlung ab« ohne mich beschlossen. Ich hole mir noch eine Cola an der Bar und riskiere dafür ein paar irritierte Blicke der umstehenden Club-Mate-Trinker.
Pünktlich zum »Positionspapier Medienpolitik« mit der Kennziffer P037 aber bin ich wieder am Platz. Medienpolitik – das könnte ja etwas für mich als Journalistin sein. Doch als die Versammlungsleitung zur Abstimmung ruft, habe ich nicht einmal die Knackpunkte des Papiers erkannt. Ich entscheide kurzerhand aus dem Bauch heraus. Schnell die gelbe Ja-Karte in die Luft! Denn irgendwie kommt mir dieser Simon Weiß, ein promovierter Mathematiker aus dem Abgeordnetenhaus, der sich unlängst mit Christopher Lauer in der Fraktionssitzung wegen dessen Alleingang beim Urheberrecht gestritten hatte, vergleichsweise seriös vor. Zumindest gemessen am Parteidurchschnitt.
Mitentscheiden, ohne es wirklich zu können – ein schönes Gefühl ist das nicht. Ich habe diese Veranstaltung unterschätzt. Nachdem Denis, der Kapitän der Crew Prometheus, zum vergangenen Treffen im »Caminetto« für jeden eine Kopie der Wahl- und Geschäftsordnung und eine Liste aller Vorstandskandidaten mitgebracht hatte, fühlte ich mich gewappnet. Zumal wir ja auch gemeinsam durchgesprochen hatten, welche Piraten wir uns gut im Landesvorstand vorstellen könnten und was die idiotischsten Programmanträge für den Parteitag sein dürften. Nun stelle ich fest, dass ich mich eigentlich eine Woche lang hätte vorbereiten müssen. Aber: Macht das irgendjemand?
Anders als ich noch vor Kurzem dachte, sind diese Abstimmungen im Real Life mitnichten leichter als im Liquid Feedback. Sie haben dafür einen zusätzlichen Nachteil: Ich sitze an einem prächtigen Septembertag in einer Veranstaltungshalle fest und muss mir seit Stunden nicht besonders erhellende Kurzreferate meiner Parteifreunde anhören. Soll ich Bundeswehrwerbung in Schulen ablehnen? Radfahrstreifen gegenüber Fahrradwegen bevorzugen? Oder mehr Transparenz vom Europäischen Gouverneursrat verlangen?
Ich gehe erst einmal nach draußen und rufe meinen Freund an. Als ich wieder nach drinnen komme, wird ein Antrag mit dem Titel »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« debattiert, dessen Leitsatz auch ziemlich perfekt verschwurbelt klingt: »Die Reduzierung und Überwindung von Gewalt erfordern zunehmend eine Entfaltung vielfältiger Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung.« Ich überfliege staunend die Begründung. Darin erklärt die Antragstellerin, sie verstehe »Friedenslogik als eine Methode wissenschaftlichen und politischen Denkens« und wolle »erstens zeigen, dass sich ein friedenslogisches Vorgehen von einem sicherheitslogischen Vorgehen tatsächlich unterscheidet und dass man zu unterschiedlichen praktisch-politischen Schlussfolgerungen gelangt, wenn man Friedenslogik konkret anwendet«.
Das Zweitens spare ich mir. Draußen auf dem gepflasterten Hof dieser Veranstaltungshalle stehen inzwischen auffällig viele Piraten in der Nachmittagssonne herum, denen das Verhältnis von Friedens- und Sicherheitslogik wohl auch nicht so wahnsinnig wichtig erscheint.
Später am Abend, die Kinder schlafen schon, klicke ich daheim am Laptop noch einmal den Live-Stream vom Landesparteitag an. Zu meiner Überraschung ist er noch aktiv, obwohl die Veranstaltung vor einer halben Stunde mit dem Tagesordnungspunkt »Verabschiedung und Knuddeln« hätte enden sollen. Da können einige Piraten wohl gar nicht genug kriegen! Ich weiß nicht, ob ich sie für ihre Ausdauer bewundern oder bedauern soll.
Vorhin hat eine Mitarbeiterin der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus einen Antrag vorgestellt. Er trägt den fürchterlich unverschwurbelten Titel »Geschäftsordnung für Plattformen zur Willensbildung lt. § 11 der Satzung der Piratenpartei Deutschland Berlin«, und für einen kurzen Moment bin ich sehr zufrieden, daheim am Küchentisch zu sitzen und nicht mehr in dieser Veranstaltungshalle am anderen Ende der Stadt – bis ich merke, worum es gerade drüben in der »Universal Hall« geht. Hinter dem Antrag mit dem arglosen Titel verbirgt sich einer der leidenschaftlichsten Richtungsstreits in der Partei: Sollen die Piraten weiterhin unter Pseudonym am Liquid Feedback teilnehmen dürfen oder künftig nur noch mit ihrem vollem Namen? Oder anders gefragt: Hat der Schutz der Privatsphäre, den ein Pseudonym bietet, bei Meinungsäußerungen im Liquid Feedback Vorrang vor der Nachvollziehbarkeit der Meinungsbilder mittels Klarnamen? Nicht zuletzt wegen meines Zweitaccounts Pirat111 interessiert diese Frage auch mich. Aber warum wird dieses brisante Thema am Sonntagabend ausgerechnet um kurz nach halb neun diskutiert, als der Parteitag eigentlich schon hätte beendet sein sollen und nur noch die tapfersten Piraten in der Halle ausharren?
Mein Freund kommt gerade nach Hause, er schaut mir einen Moment über die Schulter und fragt belustigt: »Sitzt du jetzt immer mit solchen Pferdeschwanz-Typen zusammen? Die sehen ja aus wie die Heavy-Metal-Szene vom Dorf!«
Ich nicke abwesend. Denn gerade geht Tom aus meiner Crew ans Saalmikro. Er erinnert daran, dass beim letzten Landesparteitag im Frühjahr ein ähnlicher Antrag für ein sogenanntes »Klarnamensliquid« abgelehnt worden sei. Nun werde wohl versucht, »das über die Geschäftsordnung durchzudrücken«, kritisiert Tom: »Ich weiß nicht, ob wir ein Klarnamensliquid jetzt nach zwei vollen Tagen um diese Uhrzeit einführen sollen.«
Andere aber wollen offensichtlich gerade jetzt Fakten schaffen. Jemand hat einen Gegenantrag gestellt. Es kommt zur Kampfabstimmung, der Gegenantrag gewinnt, bevor ich überhaupt nur die Unterschiede entdeckt habe. Wenig später fragt der für Liquid Feedback zuständige Bundesvorstand Klaus Peukert auf Twitter: »Bevor ich pennen geh, was kam beim Liquiddingsi raus und wie schlimm ist es?« Offensichtlich hat selbst er das entscheidende Parteitagsfinale verpasst. Nun bekommt er von Christopher Lauer via Twitter erklärt, der Alternativantrag habe gewonnen. »Was ist der Diff zum Original und finden wir das gut?«, hakt Peukert nach. Lauer versichert: »Ja, wir finden das gut.« Schön zu wissen.