1 »Eigentlich müssten wir rufen: Aufnahmestopp!«
1 »Eigentlich müssten wir rufen: Aufnahmestopp!«
Wie ich auf die kuriose Idee komme, in der Parteizentrale einen Mitgliedsantrag zu erbitten
»Aber einen Computer und Internet hast du?!« Der Glatzkopf hinter dem Laptop schaut mich mitleidig an. Es ist der Montag nach der Wahl in Schleswig-Holstein. Die Piraten sind wieder in einen Landtag eingezogen – zum dritten Mal in acht Monaten. Erst 8,9 Prozent in Berlin, dann 7,4 Prozent im Saarland, nun 8,2 Prozent im Norden. Dort liegen sie gleichauf mit der FDP, als viertstärkste Fraktion hinter CDU, SPD und Grünen.
Und einige Zeitungen haben bereits den nächsten Aufreger entdeckt: Johannes Ponader, der politische Geschäftsführer der Piratenpartei, hat mit Trekkingsandalen an den nackten Füßen in Günther Jauchs Talkrunde gesessen und während der Sendung getwittert.
In einer Stunde werden Journalisten zur Pressekonferenz hier in die Parteizentrale in Berlin-Mitte drängen. Doch auf den Tischen liegen noch angebissene Krapfen herum. Das Klo ist verstopft. Ein Hausmeister im Blaumann stapft durch den Raum. Im Nebenraum läutet ein Telefon. Und ich stehe in der Tür und möchte Piratin werden.
»Wo ist nur dieses Formular für den Mitgliedsantrag …« Der Glatzkopf stöbert in seinem Laptop. Auf diese Idee muss erst mal jemand kommen: in der Parteizentrale persönlich die Mitgliedschaft zu beantragen, obwohl man sich das Formular auch daheim aus dem Internet herunterladen kann. Ein jüngerer Pirat deutet auf einen Ikea-Schwingsessel, der verloren im Raum steht. »Setz dich doch.« Vom Sessel aus mustere ich den dunklen Erdgeschossladen.
Als ich vom S-Bahnhof bis in diese unscheinbare Seitenstraße gelaufen war, vorbei an der Großbaustelle für die neue BND-Zentrale, einem Surfbrett-Shop und der Endhaltestelle der Straßenbahn, da hatte ich mir natürlich keinen vielstöckigen Prachtbau vorgestellt, wie ihn sich CDU und SPD in die Hauptstadt gebaut haben, kein repräsentatives Atrium und keine Hostess im Business-Kostüm, die mich am Empfangstresen begrüßt. Aber das hier überrascht mich doch.
Die hohen Schaufenster sind dicht mit Plakaten beklebt. Zwischen zerwühltem Infomaterial verstaubt ein Modellpiratenschiff auf einem Abstelltisch. An der Wandtafel stehen noch die Ergebnisse der Landtagswahl im Saarland vor sechs Wochen: 7,4 Prozent für die Piraten – das war ein besseres Ergebnis, als die Grünen dort je erreicht haben. Und in diesem Ladenlokal eines Berliner Altbaus stapeln sich zusammengefaltete Klappstühle neben der Tür. Vorne am Eingang warnt ein handgeschriebener Zettel, keine Pakete mehr für Nachbarn anzunehmen. Neben dem Kopierer türmen sich Getränkekisten. Bin ich hier in einer Parteizentrale oder in einer Männer-WG?
Endlich surrt im Nebenraum ein Drucker. »Du weißt, dass der Mitgliedsbeitrag gestiegen ist?« Der Kahlkopf drückt mir ein Blatt Papier in die Hand. »Kostet jetzt 48 Euro im Jahr statt 36 Euro.«
Dies sollte eigentlich ein großer Moment sein. Ich trete einer Partei bei. Zum ersten Mal in meinem Leben. Nicht etwa den Grünen, wie meine Eltern Ende der Siebziger, auch nicht der SPD, wie einige meiner Freunde vor Jahren – oder gar der FDP, wie Sascha, ein Kommilitone. Ich, Journalistin und Mutter zweier Kinder, möchte mit 37 Jahren Piratin werden. Doch niemand jubelt, keiner streckt mir die Hand entgegen, sagt höflich: Toll, dass du jetzt auch dabei sein willst! Oder gar: Willkommen an Bord! Beim Abschluss meines Handyvertrags war mehr Pathos in der Luft.
Dabei habe ich mir diesen Gang nicht leicht gemacht. Es dauerte Wochen, bis ich mich selbst überzeugt hatte: Jetzt wäre es an der Zeit. Die Piraten hatten in Umfragen gerade die Grünen überholt. In der Presse stritten sich Kommentatoren, ob diese Neuen mit ihrer »aggressiven Naivität« eine Gefahr für die Demokratie seien, wie die Welt behauptet, oder, wie die Frankfurter Rundschau schrieb, ein Segen, weil sie mehr »Innovation und Nachdenken über alternative Mechanismen der Demokratie« böten als alle anderen Parteien.
Seit ein paar Monaten spalteten die Piraten meinen Freundeskreis: Die einen vergötterten die 24-jährige Psychologiestudentin Marina Weisband, die bis vor Kurzem noch Politische Geschäftsführerin war, für ihre Klugheit und ihr rhetorisches Talent und sahen in ihr den »nächsten Joschka Fischer«. Die anderen verspotteten sie als »Prinzessin Lillifee mit Laptop«. Die eine Hälfte meines Freundeskreises vermutete bei den Piraten das größte innovative Potenzial innerhalb unseres Parteiensystems. Die andere Hälfte hielt die Neulinge, die sich in Talkshows setzten und auf Fragen des Moderators einfach »Keine Ahnung« antworteten, für eine riesige Luftnummer.
Ich selbst fand es überfällig, dass Politiker endlich mal ihre Ahnungslosigkeit gestanden. Mir kam es zeitgemäß vor, dass die Partei so postideologisch auftrat. Denn: Wer aus der Generation der unter 40-Jährigen mag sich noch klar auf eine parteipolitische Dogmatik festlegen?
Dann las ich einen Essay von Constanze Kurz, Sprecherin des Hacker-Vereins »Chaos Computer Club«, im Spiegel. »Ein Neumitglied der Piraten erlebt praktische Politik fundamental anders als Neugenossen anderswo im politischen Spektrum«, versprach die Informatikerin. »Unabhängig von Alter, Eloquenz oder Protegés ist der Zugang zum inhaltlichen Herz der Partei sofort gegeben. Diese Durchlässigkeit ist prägend und motivierend, ebenso wie die überwiegend positive Neugier, die den Piraten allerorten entgegenschlägt.« Ja wirklich?
Sicherheitshalber lud ich mir vor fünf Tagen das komplette Grundsatzprogramm der Piraten aus dem Internet herunter – und las es von vorn bis hinten durch. Bei gerade einmal 13 Seiten, Deckblatt und Inhaltsverzeichnis inklusive, ging das zugegeben erfreulich schnell.
Das Papier ist das Rudiment eines Programms. Es enthält Passagen, die mich befremdeten: »(…) Die Rückführung von Werken in den öffentlichen Raum ist daher nicht nur berechtigt, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit der menschlichen Schöpfungsfähigkeiten von essenzieller Wichtigkeit.« Und andere Abschnitte, die mich kaltließen. Wenn ich bisher für eine Partei gestimmt hatte, dann nicht wegen ihrer Positionen zu Musiktauschbörsen oder zum Informationsfreiheitsgesetz. Aber: Nichts von all dem, was ich las, schreckte mich wirklich ab.
Seit Wochen wurde dieser Partei vorgehalten, jedes ihrer programmatischen Ziele könne, kaum proklamiert, von der allmächtigen Basis quasi per Mausklick wieder gekippt werden. Wunderbar! Ich verstand das als Aufforderung zum Mitmachen, als verlockendes politisches Experiment. Zumal die Piraten in dem Programm versprachen, die digitale Revolution endlich auch für die Demokratie nutzbar zu machen.
Aus dem Ikea-Schwingsessel in dem engen Ladenlokal in Berlin-Mitte betrachtet, erscheint mir diese Verheißung plötzlich einigermaßen größenwahnsinnig. Aber sie trifft meine Stimmung. Ich habe sieben Monate Elternzeit hinter mir, ich fühle mich fällig für ein politisches Abenteuer.
Ich lege das leere Beitrittsformular auf meine Knie, fülle es aus. Als ich fertig bin, fällt mir auf, was ich da in der Hand halte. Einen weißen Kuli mit rotem Logo: SPD! Ein Souvenir aus dem Berliner Wahlkampf im vergangenen Sommer. Wochenlang hatten uns die Sozialdemokraten mit Aufmerksamkeiten am Spielplatz aufgelauert.
Hektisch lasse ich das Werbegeschenk in meiner Manteltasche verschwinden. Zum Glück sind die zwei Piraten in der Parteizentrale an diesem Montagmorgen viel zu beschäftigt, um sich für meinen Kugelschreiber zu interessieren. Die Partei sei gerade in einer ziemlich irren Phase, sagt der ältere Pirat entschuldigend. Vor lauter Aufnahmeanträgen kämen sie gar nicht mehr hinterher mit den Mitgliedsausweisen. »Eigentlich«, verkündet er, »müssten wir rufen: Aufnahmestopp!« Ein prüfender Blick in meine Richtung, dann ergänzt er: »War ein Witz.« Aber klar doch: Wieso sollte ich auch Scherze kapieren, wenn ich mir offensichtlich nicht mal selbst ein Beitrittsformular aus dem Internet ausdrucken kann?
Ich muss wieder an meinen Kommilitonen Sascha denken: Als er in die FDP eintrat, hieß ihn der Bundesgeschäftsführer der Partei persönlich im Thomas-Dehler-Haus willkommen – mit Blumenstrauß, einer limitierten und damit sehr begehrten »FDP-Jubiläumsuhr« aus der »FDP Quality Collection«, auf deren Rückseite die Namen Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher eingraviert waren, und den sagenhaften Worten: »Sie sind unser ›Mehr Brutto‹.« Das zumindest verbreitete die FDP in einer Pressemitteilung. Denn Sascha war angeblich das 10.000 Neumitglied des Jahres 2009. Und damals wähnte sich die FDP auf der Siegerstraße. Als ich Sascha unlängst anrief und ihn auf seine Parteimitgliedschaft ansprach, war er schon wieder ausgetreten.
Ich versuche mir vorzustellen, womit wohl die Piraten im Jahr 2020 ihr hunderttausendstes Mitglied begrüßen könnten: Vielleicht mit einem Marina-Weisband-Gedenk-USB-Stick? Oder wird der heutzutage so wahnsinnig praktische Datenspeicher dann längst Geschichte sein – genau wie die Partei?
Der kahlköpfige Pirat holt mich aus meinen Gedanken zurück. Seine Partei habe einfach nichts von Mitgliedern, die nur das orangefarbene Parteibuch wollten, weil das gerade angesagt sei, rumpelt er. »Wir brauchen Leute, die wirklich mitmachen!« Aus welchem Stadtteil ich überhaupt komme? Friedrichshain, antworte ich kleinlaut. Er deutet auf den Computerbildschirm: Das hier sei das Piraten-»Wiki«, das Online-Lexikon der Partei. »Hier findest du alle Informationen«, sagt er. »Die meisten kapieren’s aber erst mal nicht.« Er meint das gewiss freundlich.
Inzwischen hetzt die Pressesprecherin, eine sportliche Mittdreißigerin mit blondem Kurzhaarschnitt, durch den Raum, sammelt wortlos die angebissenen Krapfen ein. Ihr Mitstreiter scheint nicht mehr an die Pressekonferenz zu denken, die hier in einer guten Stunde beginnen soll. »Geh am besten einfach mal zu einem Crew-Treffen«, rät er mir. Die Crews seien so was wie Ortsgruppen. Er klickt sich durch ein paar Internet-Seiten, dann zeigt er mir auf seinem Monitor: In meiner Berliner Nachbarschaft seien inzwischen schon drei Crews aktiv. Außerdem, sagt er, gebe es noch »Squads« – also landesweit aktive Arbeitsgruppen zu den unterschiedlichsten Themen- und Aufgabenfeldern. Er zum Beispiel sei im »Squad P9« aktiv, der Parteizentralen-AG, benannt nach deren Postadresse: Pflugstraße 9a. Die Mitglieder des »Squad P9« kümmerten sich ehrenamtlich um alles hier in der Parteizentrale: Bürgeranfragen am Telefon beantworten, Post bearbeiten, Glühbirnen auswechseln. »Die Termine unserer Squad-Treffen findest du im Wiki«, sagt er. »Komm einfach vorbei und mach mit, wenn du willst!«
Ist das sein Ernst? Sollte ich nicht erst mal die Partei ein bisschen kennenlernen, bevor ich als ahnungslose Freiwillige in der Parteizentrale den Hörer abnehme, wenn das Telefon klingelt? Ach was, sagt der Pirat. »Ich bin hier auch ins kalte Wasser gesprungen.« Er klingt jetzt väterlich.
Ich reiche ihm mein ausgefülltes Antragsformular. Er schaut sich hilflos um. »Da muss ein Eingangsstempel drauf!«, ruft der jüngere Pirat aus dem Nebenraum. Der Glatzkopf holt einen Stempel, fummelt an der Datumsanzeige herum. Bum. Der erste Eingangsnachweis sitzt verkehrt herum auf dem Papier. Bum. »7. Mai 2012«.
Der Tag, an dem ich unter die Piraten fiel.
Er steckt das Formular in eine Plastikablage. Ich bekomme ein ungutes Gefühl. Wird in den nächsten Wochen irgendwer in dieses Schubfach schauen? Interessiert sich hier überhaupt noch jemand für bedrucktes Papier? Der Pirat streckt mir seinen Daumen entgegen. Die Fingerkuppe ist dick mit blauer Tinte beschmiert. Er grinst schräg.
Auf dem Heimweg fällt mir auf: Niemand in der Parteizentrale hat sich mir mit Namen vorgestellt. Vielleicht haben die beiden ehrenamtlichen Helfer das in der Hektik vergessen. Vielleicht hielten sie es auch für überflüssig. Schließlich veröffentlichen die Piraten ja so ziemlich alles im Internet.
In der Straßenbahn ziehe ich mein Smartphone aus der Anoraktasche, tippe in der Suchmaschine ein: »Wiki P9 Squad«. Tatsächlich. Sogar der Schichtplan für die Geschäftsstelle findet sich im Netz. Und darin steht, welche Piraten an diesem Montagmorgen Dienst hatten. Wie es sich unter Piraten gehört, haben beide einen Steckbrief von sich ins Netz gestellt. So erfahre ich: Ronny, der Jüngere der beiden, ist Anfang dreißig, Elektrotechnik-Ingenieur und »Freund des technischen und menschlichen Fortschritts«. Michael, Anfang fünfzig, bringt gleich drei berufliche Qualifikationen für sein Ehrenamt in der Parteizentrale mit: »Fotograf, Journalist, Universaldiletant«. Ich muss schmunzeln: Ob der Tippfehler wohl Absicht ist?
Als mein Freund abends aus dem Büro nach Hause kommt, ruft er neugierig: »Und?« Eigentlich keine übermäßig komplexe Frage. Aber ich stehe da, als sollte ich erklären, warum die Rückführung von Werken in den öffentlichen Raum im Sinne der Nachhaltigkeit der menschlichen Schöpfungsfähigkeiten von essenzieller Wichtigkeit ist. »Puh«, sage ich erst mal. Dann: »Ziemlich unübersichtlich.«
»Für eine Karriere bei denen bist du wahrscheinlich eh schon zu alt«, analysiert mein Freund auf seine unvergleichlich charmante Art. Wieso reden eigentlich alle immer gleich von Karriere, sobald es um mich und die Piraten geht? Meine Mutter warnt: »Pass auf, demnächst sitzt du im Bundestag!« Ein Kollege versichert: »Die brauchen genau solche Frauen wie dich, du wirst da bestimmt was!« Ich hingegen wäre schon froh, wenn ich in etwa wüsste, was ich als Nächstes tun soll. Auf den Tag zu warten, an dem ein Mitgliedsausweis in meinen Briefkasten liegt, scheint mir jedenfalls keine kluge Strategie. Ich versuche, mich an die Ratschläge des »Universaldiletanten« zu erinnern: Crew, Squad, Wiki. Vielleicht sollten die Piraten allen Neulingen erst mal ein Lexikon in die Hand drücken.
Während mein Freund die Spaghetti für das Abendessen in den Topf wirft, frage ich heimlich Google um Rat: »Pirat Neuling Berlin«. Ich lande auf einer »Wiki«-Seite der Berliner Piratenpartei. »Du bist interessiert und möchtest uns genauer kennenlernen?«, steht dort fett gedruckt. Darunter eine Liste mit Adressen, Terminen und Links – vom wöchentlichen Piratenstammtisch im »Kinski Club« in Berlin-Neukölln bis zum »Counsellor Squad« für alle, die »Probleme oder Sorgen« haben. Danke, so schlimm ist es bis jetzt noch nicht.
»Halt dir mal den nächsten Dienstagabend für die Kinder frei«, verkünde ich meinem Freund. »Da geh ich zum Stammtisch im Kinski. Ist ein wichtiger Piratentreffpunkt.« Es klingt verblüffend überzeugt.