23 »Es geht weiter mit grotesken Ansagen«
23 »Es geht weiter mit grotesken Ansagen«
Beim Bundesparteitag in Bochum inszenieren sich 2000 Piraten ein Wochenende lang selbst – und treiben mich in die Flucht
Dies könnte das wichtigste Ereignis des Jahres werden, der größte Tag, seit ich Piratin bin. Monatelang habe ich auf diesen Bundesparteitag hingearbeitet, habe mir in Gedanken ausgemalt, wie es sein wird, wenn wir vor Mitstreitern aus dem ganzen Land unsere Familieninitiative fürs Wahlprogramm vorstellen. Ich rechne längst nicht mehr damit, dass daraus etwas wird. Aber, wer weiß, vielleicht wendet dieses Wochenende meine Stimmung noch einmal. Vielleicht gibt es einen Zauber von Bochum, dem ich mich gar nicht entziehen kann. Mit dieser Hoffnung jedenfalls bin ich gestern Nachmittag am Berliner Alexanderplatz in den Sammelbus zum Parteitag gestiegen, habe acht Stunden lang verfolgt, wie meine Mitstreiter die Zeit tot-twitterten, und zwischendrin gelernt, dass Piraten an Raststätten gerne mal die Klos durch den Kindereingang entern und so die 70 Cent Toilettengebühr sparen.
Doch wie soll mich hier in Bochum eine Begeisterung erfassen, die es nicht gibt? Ich sitze mit meiner Crew in einer kaum zu überblickenden Kongresshalle. Vor uns auf dem Tisch stehen Laptops dicht an dicht, dazwischen Steckdosen, Kabelverteiler und ein Gewirr aus Leitungen verschiedenster Länge, Stärke und Farbe. Auch ich habe als gute Piratin meinen Rechner dabei, aufgeklappt, angeschaltet und eingestöpselt. Die Buchse an meinen Füßen ist so riesig, als solle sie nebenher noch einen Baustellenkran mit Strom versorgen. Aber: Es gibt kein Internet! In der ganzen Halle nicht. Weder über Kabel noch drahtlos. »Unser Netzwerkteam arbeitet dran«, verkündet die Versammlungsleitung von der Bühne herunter. »Wir haben kein Netz«, wiederholt Denis halblaut und starrt ungläubig auf seinen Laptop-Monitor mit der Fehlermeldung.
An unserem Prometheus-Tisch links vorne im Saal beginnt die Nachbarschaftshilfe. Anna zieht mir das 1471-Seiten-Dokument mit den Texten aller eingereichten Programmanträge von ihrer Festplatte auf meinen USB-Stick. »Willst du das vielleicht auch haben?«, frage ich Denis aufmunternd. Er nickt.
Eigentlich könnten wir uns aber jetzt mal wieder abregen. Wenn sich alle schnell gegenseitig das Antragsbuch auf ihre Laptop-Festplatten schieben, ist das tote Netz in dem Bochumer Kongresszentrum nämlich überhaupt kein Problem. Im Gegenteil frage ich mich gerade, wozu die Piraten hier alle so dringend Internet brauchen. Zum Twittern? Um sich die Zeit mit Online-Computerspielen zu vertreiben? Weil sie es gar nicht mehr ohne Netz aushalten? Oder ist die imposante Laptop- und Kabelkulisse am Ende nur dafür da, bei den Fernsehzuschauern daheim in ihren Wohnzimmern das Klischee von der Internetpartei zu bedienen?
Immerhin sind mehr als 200 Journalisten nach Bochum gekommen. Die Süddeutsche Zeitung hat gleich einen ganzen Jahrgang von Journalistenschülern für einen Liveticker vom Piratenparteitag eingespannt, Spiegel Online sendet ein »Minutenprotokoll«, Fernsehteams zoomen auf jeden Freak in der Halle. Selbst die Piratenpartei dürfte selten eine so geballte Aufmerksamkeit wie hier bekommen haben. Die Vorstandsmitglieder geben ein Interview nach dem anderen, um ihre Partei nach monatelanger Negativberichterstattung mal wieder besser aussehen zu lassen.
Auf der Tagesordnung steht seit anderthalb Stunden ein Zweikampf, auf den wir uns schon vor Wochen in der Crew vorbereitet haben. Es geht um das wichtigste Thema dieses Parteitages: die Frage, wo die Piraten künftig wirtschaftspolitisch stehen werden. Doch weder der Grundsatzantrag des Berliner Piraten Jan Hemme noch jener seiner Kontrahentin Laura Dornheim hat die erforderliche Zweidrittelmehrheit bekommen.
Nun bekommt Lauras Antrag noch eine Chance. Sie hat ihr Papier in Module unterteilt, genau wie wir seinerzeit unsere familienpolitische Initiative. Deshalb wird nun ein zweites Mal abgestimmt, diesmal Abschnitt für Abschnitt. Schriftlich. Auf kleinen orangen Zetteln, die wir bei der Akkreditierung in einem Briefumschlag mit den Wahlunterlagen ausgehändigt bekommen haben und gleich mit sieben Kreuzchen versehen in eine der Wahlurnen werfen sollen.
Die umständliche Prozedur ist mir nach zwei Bezirksparteitagen und einer Landesmitgliederversammlung inzwischen vertraut. Ich muss mich mit der Akkreditierungsnummer auf meinem grünen Papierarmband ausweisen, dann wird der Wahlhelfer auf einer meiner Stimmkarten markieren, dass ich abgestimmt habe. Aber erst einmal beginnt hektisches Getuschel am Prometheus-Tisch: Sag mal, was kreuzt du denn jetzt an? Und welche Felder stehen überhaupt für die Ja-Stimmen? Ob wir vielleicht doch irgendeinen Baustein aus Lauras Antrag beschließen sollten? So ähnlich klang das früher beim Abschreiben der Matheaufgaben auf dem Schulflur.
Eines ist immerhin klar bei ungefähr 2000 Piraten in der Halle und sieben Antragsmodulen, über die abgestimmt werden soll: Es kann dauern, bis dieser Wahlgang ausgezählt ist. Ich schaue mich erst einmal um.
Vermutlich hätte ich vor einem halben Jahr meinen Augen nicht getraut: Wie viele Mitstreiter mit grellbunt gefärbten Haaren zu diesem Bundesparteitag angereist sind! Und erst die ganzen Pferdeschwanz-Nerds an den Tischen! Inzwischen sind mir solche Anblicke vertraut. Dass draußen vor dem Eingang ins Kongresszentrum eine Hüpfburg für uns aufgebaut ist, scheint mir fast schon zwingend. Es hätte mich irritiert, wenn die Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg heute ohne Wollknäuel zum Parteitag angereist wäre, obwohl sie doch permanent ihr »guerilla knitting« auf Twitter bewirbt. Im Moment strickt sie einen vielfarbigen Schlauch, der das Geländer hoch zur Bühne »umgarnen« soll. Und die Ex-Grüne ist mit ihrem Hobby nicht alleine. Ich würde sogar behaupten, hier in der Halle klappern mehr Stricknadeln als bei den Grünen in den Achtzigern.
Einige Piraten scheinen es geradewegs darauf anzulegen, als Freaks in die Abendnachrichten zu kommen. Gerade stakst ein großer Mann im schulterfreien Top an mir vorbei. Untenherum trägt er eine zerfetzte Netzstrumpfhose, die den Blick auf seinen Po freigibt. Ist das etwa eine Werbeaktion für den Antrag PA605, der das Recht auf Nacktheit im öffentlichen Raum fordert? In der Sitzecke neben der Bar entdecke ich einen Mann, der im Frühjahr auf einem Spiegel-Cover abgebildet war – mit ebenjenem übergroßen Dreispitz-Piratenhut, den er auch heute auf dem Kopf trägt. Ein paar Meter weiter haben die parteiintern verrufenen Pro-Atomkraft-Piraten einen Infotisch eingerichtet und verteilen farbige Hochglanzflyer.
Im Bällebad im ersten Stock der Halle tollen zwei Kinder mit zwei Erwachsenen herum. Unten im Erdgeschoss segeln große und kleine Piratenschiffe über die Parteitagstische. Ein Metall-gestell ist mit rosa Plüsch-Einhörnern dekoriert. Wenige Schritte von unserem Crew-Tisch entfernt hat ein »Awareness«-Team seinen Stand aufgebaut. Es will in Streitfällen vermitteln. Die Frauen und Männer hinter dem Tisch tragen T-Shirts mit großen, roten Herzen auf der Brust.
Der Akkreditierungsstatistik zufolge ist der Durchschnittspirat in der Halle 38 Jahre alt. Zu meinem Erstaunen sitzen aber auch viele grauhaarige, alte Männer an den Tischen, die ich spontan nicht mit dieser jungen Partei in Verbindung gebracht hätte.
Wenn die Piraten programmatisch auch nur annähernd so krude zusammengewürfelt sind wie optisch, dann könnte dies die heterogenste Partei der Republik sein. Die Frage ist nur, ob man überhaupt Rückschlüsse von den anwesenden Piratinnen und Piraten auf die mehr als 34.000 Mitglieder zählende Partei ziehen darf.
Denn eines ist dieser Bundesparteitag mit Sicherheit nicht: repräsentativ. Die Piraten verzichten auf jede Form von innerparteilicher Hierarchieleiter oder Stimmenbündelung. Es gibt keine Mechanismen, um bei einem Parteitag wie diesem irgendeinen Proporz abzubilden. Und genauso soll es sein.
Die verlockende Einladung der Piraten an jedes Mitglied lautet: Komm zum Parteitag, bring deine Anträge ein, entscheide selbst mit! Das klingt ganz besonders demokratisch und durchlässig – und ist es theoretisch ja auch. Denn bei der CDU beispielsweise könnte ich als Neumitglied ohne Funktion niemals einfach zu einem Bundesparteitag fahren, dort bei jeder Gelegenheit das Wort ergreifen, mit abstimmen und gleich auch noch beliebig viele eigene Anträge zu allen möglichen Themen einreichen.
Die Piraten hingegen wollen ohne verkrustete Delegiertensysteme, ohne kaum kontrollierbare, innerparteiliche Machtzentren auskommen, für die sie die »etablierten« Parteien scharf kritisieren. Bei ihnen führt kein mächtiges Vorstandsgremium die Parteitagsregie, sondern einzig und allein die angereiste Basis. Man könnte auch sagen: Die Basis inszeniert und feiert sich ein Wochenende lang selbst.
Welche gravierenden Nebenwirkungen dieses idealistische Konzept birgt, wird mir erst hier in Bochum so richtig bewusst. Logischerweise ist immer das Bundesland überrepräsentiert, das den Parteitag ausrichtet. Bei diesem 11. Bundesparteitag kommen sogar mehr als ein Drittel aller Akkreditierten aus Nordrhein-Westfalen. Die Piraten haben in NRW zwar weniger Mitglieder als in Bayern, aber hier in Bochum ist ihr Stimmgewicht dreimal so groß wie das ihrer Mitstreiter aus dem Süden.
Die großzügigen Mitmachrechte für alle Parteimitglieder haben also eine Kehrseite. Sie bedeuten im Umkehrschluss: Wenn du nicht selbst zum Parteitag kommst, hast du halt Pech gehabt. Bei den Piraten muss man seine Stimme selbst wahrnehmen, sonst verfällt sie. Wer bettlägerig ist, einen Angehörigen pflegen muss oder von seinem Arbeitgeber kein freies Wochenende bekommt, wer mit krankem Kind nicht verreisen möchte oder gerade kein Geld für eine Fahrt zum Parteitag hat, der bleibt außen vor. Umso mehr Einfluss auf die Parteigeschicke bleibt den anderen: flexiblen, wirtschaftlich gut gestellten Menschen mit der nötigen Freizeit. So entmachtet die Partei bei ihrem ehrenwerten Versuch, möglichst viele Menschen in die aktive Politik einzubeziehen, de facto einen erheblichen Teil der eigenen Basis. Einige Mitstreiter haben diese Parteiversammlung auf Twitter deshalb bereits umbenannt – in »Bundesprivilegiertenkonferenz«.
So wahnsinnig privilegiert komme ich mir allerdings inzwischen nicht mehr vor. Nach mehr als 4,5 Stunden ist kein Einziger der mehr als 700 eingereichten Programmanträge beschlossen, stattdessen wird noch immer die Abstimmung über Lauras sieben wirtschaftspolitische Antragsmodule ausgezählt. Dafür haben wir nebenbei schon über mindestens vier Geschäftsordnungsanträge zur Änderung der Tagesordnung entschieden. Oben auf der Bühne warnt die Versammlungsleiterin: »Es geht weiter mit grotesken Ansagen.« Wer sich Essen bestellt habe, solle es bitte vor der Halle abholen. »Der Pizzabote steht da und wartet!«
Erst nach fünf Stunden und einer Minute gibt der Wahlleiter mit tonloser Stimme bekannt: »Liebe Piratinnen und Piraten, wir haben ein Wirtschaftsprogramm.« Kurzer Applaus in der Halle. Fünf der sieben Module aus Lauras Antrag haben knapp die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht. Tom aus meiner Crew hatte vorhin auf Twitter orakelt: »Ich wage zu prophezeien, dass das Ergebnis grotesk wird.« Die Auszählung gibt ihm recht. Im Wirtschaftskapitel des Grundsatzprogramms fehlen nun ausgerechnet die wichtigen Abschnitte »Wirtschaft und Staat« und »Steuern«.
Die eigentliche Überraschung aber kommt noch. Die Versammlungsleitung ruft einen weiteren wirtschaftspolitischen Grundsatzantrag zur Beratung auf. Ich frage meine Crew-Kollegen: Kann das sein? Wieso sollten wir jetzt noch ein zweites Wirtschaftsprogramm obendrauf beschließen? Einige aus meiner Crew sind der Ansicht, dieser Antrag höre sich gar nicht blöd an. Vorne am Saalmikrofon hingegen warnt Laura Dornheim, wir sollten das Programm jetzt bitte nicht unnötig aufblähen. Ich bin ratlos, enthalte mich. Um kurz vor 16 Uhr steht fest: Die Piraten haben künftig zwei Kapitel zur Wirtschaftspolitik mit zwei unterschiedlichen Präambeln in ihrem Grundsatzprogramm. Das immerhin dürfte inhaltlich vorerst mal ein Alleinstellungsmerkmal meiner Partei sein.
Vorne unterhalb der Bühne sortieren ehrenamtliche Helfer derweil schon die nächsten Geschäftsordnungsanträge. Langsam kommt es mir vor, als wollten viele, die hier in Bochum mit ihren monatelang ausgearbeiteten Programminitiativen nicht zum Zuge kommen, zumindest ein paar gerissene Geschäftsordnungsanträge durchbringen. Ganz besonders beliebt sind Anträge, einzelne Initiativen auf der Tagesordnung vorzuziehen. Ständig werden Abstimmungsergebnisse angezweifelt. Die einen fordern, eine Auszählung zu wiederholen. Die anderen verlangen eine geheime Wahl.
Momentan geht es um die Frage, ob bei einem basisdemokratischen Parteitag wie diesem die Rednerliste nach der 15. Person beendet werden darf. Ein heiteres Raunen geht durch die Halle, als der Antrag zur Begrenzung der Rednerliste vorgestellt wird. Denn als Nummer 16 wartet nicht irgendwer hinter dem Saalmikrofon. Dort steht der Berliner Fraktionschef Christopher Lauer. Der Antrag verlangt also, just ihm das Wort zu verbieten. Lauer ist in Rage.
Eigentlich erstaunlich. Unlängst bei einem Besuch in unserer Nachbar-Crew war er leidenschaftlich über die nervige Parteibasis hergezogen und hatte sie wahlweise mit al-Qaida, Schlumpfhausen und Porsche Cayenne fahrenden Biomarktbesuchern verglichen. Nun hält ausgerechnet er ein flammendes Plädoyer gegen den Abbruch der Diskussion. Das wäre, ruft er entrüstet, »das Undemokratischste, was ich mir vorstellen kann!«. Wenig später faucht unten am Saalmikrofon die saarländische Landtagsabgeordnete Jasmin Maurer: »Die Tatsache, dass wir hier einigen Menschen das Wort verboten haben, ist eine Form von Zensur! Ich bin gerade tierisch angepisst!« Wie bitte, Zensur? Warum spricht sie nicht gleich von Folter oder Diktatur?!
Ich verstehe ja, dass möglichst viele Teilnehmer hier auch mal was sagen wollen, wenn sie schon aus allen Ecken des Landes nach Bochum reisen. Aber deshalb müssen doch nicht alle zu jedem Thema sprechen. Die Debatten sind ohnehin so strukturlos, dass sie kaum bei der Entscheidungsfindung helfen. Und das Arbeitspensum für diesen Bundesparteitag ist enorm.
Am Vormittag hat die Versammlung eine Tagesordnung mit 111 zu behandelnden Programmanträgen beschlossen. Wir sollen nicht nur über ein Rentenkonzept für unsere Partei entscheiden, sondern auch Grundsatzkapitel zur Außen-, Umwelt-, Europa-, Landwirtschafts- und Gesundheitspolitik beschließen. Auf nichts davon bin ich vorbereitet.
Klar, eigentlich hätte ich mich einlesen müssen. Woher aber sollte ich wissen, welche der 1471 Seiten aus dem Antragsbuch es hier in Bochum mithilfe des basisdemokratischen Zufallsgenerators auf die Agenda schaffen würden? Und selbst wenn ich es geahnt hätte: Ob das soeben zur Debatte gestellte »Rentenmodell für das 21. Jahrhundert« zukunftsweisend ist, könnte ich auch nach sorgfältiger Lektüre nicht einschätzen.
Es ist 17.30 Uhr, fast schon Halbzeit, wir sind beim vierten von 111 ausgewählten Anträgen auf der Tagesordnung. Am Saalmikrofon hat sich schon wieder eine meterlange Schlange gebildet. Gerade kritisiert jemand, er habe ein Problem mit der Formulierung »Jeder Rentner soll eine Mindestrente erhalten«. Es müsse im Antrag stattdessen heißen: »Jeder Mensch soll eine Mindestrente erhalten.« Jeder Mensch? Auch ich? Und meine fünfzehn Monate alte Tochter ebenfalls? Ich frage mich ernstlich, was diese ganzen Piraten davon überzeugt, ihre Gedanken zu den Antragstexten seien unverzichtbar und könnten die Meinungsfindung bereichern.
Eine weitere Dreiviertelstunde vergeht bis zur Abstimmung. Dann ist klar: Die anwesenden Piraten nehmen nur die vage Präambel und einen weiteren Absatz des Rentenkonzepts an. Der Trend hier in Bochum geht offensichtlich zu unverfänglichen Programmhäppchen. Auch ich scheue mich, Dinge durchzuwinken, deren Tragweite ich nicht abschätzen kann. Doch wenn die Konsequenz heißt, dass am ehesten leere Floskeln mehrheitsfähig sind, dann finde ich das bedenklich.
Was ist denn nun schon wieder auf der Bühne los? Da steht jemand und bittet, wir sollten noch einmal über das Anti-Diskriminierungsprogramm abstimmen, das heute beschlossen worden ist. Es enthalte nämlich die Formulierung »nationale Identitäten« – und das gehe gar nicht. Wie jetzt? Wir sollen wieder zurücknehmen, was bereits beschlossen wurde, weil wir nicht erkannt haben, dass es einen missverständlichen Satz beinhaltet? So fragwürdig auch mir der Satz mit den »nationalen Identitäten« erscheint – ich wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, dass das geht: einen Antrag auf Rücknahme eines Beschlusses stellen. Da kann ja jeder kommen und wieder von vorne anfangen wollen! Aber meine Mitstreiter sehen das wohl anders. Die Abstimmung wird wiederholt.
Langsam verliere ich den Überblick. Jemand beantragt, auch die Wiederholungsabstimmung zu wiederholen, weil die Versammlungsleitung die Mehrheiten falsch beurteilt habe. Wir heben also noch einmal die Stimmkarten. Doch jedes Mal, wenn die Versammlungsleitung uns aufruft, nun für oder gegen den strittigen Antrag zu votieren, verändert sich das Ergebnis. »Das war schon mal effizienter, wisst ihr, ja?«, mault Bundesvorstand Klaus Peukert auf Twitter.
Als ich am Abend die Halle verlasse, sind vier von 111 Anträgen beschlossen. Der fünfte beschlossene Antrag ist nach einer weiteren Auszählung gekippt worden.
Ich muss an das vergangene Frühjahr denken. Als die Piraten sich im April in Neumünster zum Parteitag trafen, saß ich daheim vor dem Fernseher mit dem Gefühl, womöglich eine bedeutende politische Entwicklung zu verpassen. Die Aussicht, mich direkt und ganz persönlich, ohne lange Ochsentour in einer jungen, unkonventionellen Partei einbringen zu können, erschien mir einfach nur verlockend. Das würde ich jetzt nicht mehr behaupten. Meine Partei soll auf diesem Weg zu einem anspruchsvollen, pointierten Wahlprogramm kommen? Mir erscheint das fast ausgeschlossen.
Am nächsten Morgen eröffnet Johannes Ponader den Parteitag. Erstaunlich, der Politische Geschäftsführer der Piraten verbreitet gute Nachrichten. »Wir haben wieder Profil gezeigt«, ruft er, »wir haben gezeigt, dass wir keine neue FDP sind, nicht die Grünen 2.0 und auch keine Linkspartei mit Internetanschluss.« Bei den Piraten, versichert Ponader, gebe es keine »Pseudodemokratie«, Prozesse würden so basisdemokratisch gestaltet, »dass am Ende jedes Mitglied hinter den Ergebnissen stehen« könne. Und wenn die Programmarbeit gestern manchmal etwas länger gedauert habe, sei das völlig in Ordnung, tröstet uns der Geschäftsführer: »Es zählt die Qualität und nicht die Quantität.«
Ponader, wegen seines schrulligen Lebenskünstlertums in der Partei umstritten, empfängt uns heute also mit einer klassischen Politikerrede. Während ich noch staune, geht es im Internet bereits zur Sache. »Jetzt redet Johannes Ponader den gestrigen Tag schön«, twittert der Berliner Fraktionschef Christopher Lauer und zitiert die Erich-Honecker-Parole »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!«.
Nicht auszudenken, was los wäre, wenn Delegierte beim CDU-Bundesparteitag ihre Parteispitze öffentlich derart respektlos angehen würden. Der Politische Geschäftsführer meiner Partei hingegen versichert derweil am Rednerpult: »Bei uns gewinnt nicht der, der am lautesten schreit oder der am heftigsten beleidigt, sondern hier bei uns gewinnt das bessere Argument. Bei uns gibt es keine Diktatur des Shitstorms, sondern bei uns gibt es demokratische Mehrheiten.«
Was für ein groteskes Szenario. Ponader versucht, uns auf den fairen Meinungsstreit einzuschwören. Doch noch während er spricht, ätzen die eigenen Leute auf Twitter gegen ihn: »Kann der Herr Ponader mal seine rosarote Flauschbrille abnehmen?« »Alle Lebenslügen der Piratenpartei in einer Rede. Chapeau Johannes Ponader.« »Der Johannes Ponader macht gerade Bullshit-Bingo.« Soll ich mich an solche Szenen gewöhnen? Eigentlich finde ich diese Diskussions-»Kultur« peinlich und ekelhaft.
Außerdem fällt es mir persönlich schwer, nach den ersten Programmbeschlüssen ein klareres Profil meiner Partei zu erkennen. Ich sehe keine Idee, die ein Markenzeichen der Piraten werden könnte. In den neuen Wirtschaftskapiteln zum Beispiel stehen Sätze wie: »Die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialordnung soll allen Menschen und der Gemeinschaft dienen.« Oder: »Das Leitbild der Piraten ist eine Ordnung, die sowohl freiheitlich als auch gerecht als auch nachhaltig gestaltet ist.« Trotz vier neuer Programmpunkte weiß ich noch immer nicht, wo meine Partei genau steht. Da ruft Ponader von der Bühne zu uns hinunter: »Wir sind der 11. Bundesparteitag der Piratenpartei. Und wir sind Piraten!« Ist das vielleicht schon alles?
Wenn ich an diesem Novembersonntag wirklich noch auf etwas neugierig bin, dann auf die angekündigte Abstimmung über ein neues virtuelles Beschlussorgan für die Piratenpartei, das seit geraumer Zeit unter dem Schlagwort »Ständige Mitgliederversammlung« diskutiert wird. Die Befürworter hoffen, sie könnte bald permanente Online-Parteitage ermöglichen und damit zähe, chaotische Bundesparteitage wie diesen verhindern.
Spätestens seit gestern Abend ist diese »Ständige Mitgliederversammlung« bei vielen Piraten wieder im Gespräch – als Mittel gegen Parteitagsdebakel. Sogar der stellvertretende Parteisprecher Jörg Blumtritt warnt offen auf Twitter, der Bundesparteitag der Piraten sei zwar »großartig« für »Austausch und Vernetzung«, aber als »Parteiorgan völlig unbrauchbar«. Doch alle Versuche, den Antrag auf der Tagesordnung nach vorne zu ziehen, scheitern an den Mehrheiten im Saal. Am späten Nachmittag ist klar: Das Projekt wird hier in Bochum nicht mal mehr zur Sprache kommen.
Die Piraten wollen lieber noch möglichst viel Programm machen. Bereits am Mittag haben wir ein Umweltkapitel verabschiedet. Es beinhaltet den Atomausstieg binnen drei Jahren, es positioniert sich gegen Gorleben als Standort für ein Atommüll-Endlager, tritt für Pilotprojekte zum fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehr ein und umfasst auch ein Kapitel zur Nachhaltigkeit. Grundsätzlich finde ich das alles klasse. Endlich Konkurrenz für die Grünen! Aber ich wundere mich auch ein bisschen. Auf dem Gang wird an einem Catering-Stand warmes Mittagessen serviert – je nach Belieben mit Fleisch oder vegan, entweder gegen ein Pfand von einem Euro auf Porzellantellern oder pfandfrei auf Wegwerf-Plastikgeschirr. Wann immer ich dort vorbeikomme, sehe ich fast nur Piraten, die von Plastiktellern essen. Wie passt das zu einem so ehrgeizigen Ökoprogramm?
Ja, manchmal frage ich mich, ob es vielen Mitstreitern im Saal am Ende gar nicht so wichtig ist, was sie im Detail so alles in ihr Programm beschließen. Soeben ruft der Versammlungsleiter einen Grundsatzantrag zur Landwirtschaft auf. »Gibt’s dazu Redebeiträge?« Niemand meldet sich. Also wird sofort abgestimmt – ohne Diskussion. Ich schaue mich um. Kann das sein? Die Luft ist voller gelber Ja-Karten. »Die Zweidrittelmehrheit wurde erreicht«, verkündet der Versammlungsleiter trocken.
Ich bin baff. Heute früh in seiner Begrüßungsrede hatte Johannes Ponader sich empört, dass in unserem parlamentarischen System wichtige Gesetze schon mal in 45 Sekunden beschlossen würden. Und was machen wir? Verabschieden ein Kapitel zur Landwirtschaft für das Grundsatzprogramm, ohne dass auch nur ein Satz dazu gesagt worden wäre. Selbst der Antragsteller hatte das neue Kapitel mit keinem Wort eingeordnet, sondern nur bekräftigt, es sei wichtig, dass wir auch zur Landwirtschaft künftig eine Position beziehen könnten. Das mag sein. Aber dieses Kapitel enthält weitreichende Forderungen. Wir stellen uns darin gegen die »industrielle Massentierhaltung« und fordern, dass Deutschland eine »gentechnikfreie Region« wird. Passt das überhaupt zu unserem neuen Umweltprogramm? Auch darin sind Forderungen zum Thema Gentechnik enthalten, bloß klingen die für mich viel laxer. Und so frage ich mich gerade: Hätte nicht wenigstens in diesem Fall jemand aus dem Bundesvorstand ans Saalmikrofon eilen und eine Debatte eröffnen können?
Den gesamten Parteitag über hat sich niemand aus dem Leitungsgremium der Piraten in irgendeine Programmdiskussion eingemischt. Ich weiß natürlich, dass das kein Zufall ist. Die Piraten erwarten von ihren Vorständen, nur verwaltend zu arbeiten –und sich bloß nicht als Vordenker zu betätigen. Wie selbstschädigend diese Haltung ist, wird mir heute so richtig klar. Der Parteivorstand betätigt sich wie eine Riege von Pressesprechern, er interpretiert Vollzogenes für die Medien. Bei der wichtigen Kursfindung aber lässt er die überforderte Partei alleine.
Natürlich wünsche ich mir keinen Starkult, wie ihn andere Parteien zu solchen Anlässen pflegen, keine Jubelinszenierungen mit minutenlangem Applaus für die Vorsitzenden. Ich hätte mir aber gerne Schlömers Plädoyer für oder gegen die wirtschaftspolitischen Grundsatzanträge angehört. Warum soll sich ein kluger Mann wie er eine solche Empfehlung verkneifen, die jedem vorgestern eingetretenen Basispiraten ohne Durchblick erlaubt ist? Warum darf niemand aus dem Vorstand eine Route für meine Partei entwerfen? Wir könnten die Ideen ja im Zweifelsfall auch ablehnen. Ich finde dieses Führungskonzept wirklich abwegig.
Wenn es überhaupt einen Star bei diesem Parteitag gibt, dann ist es ein kleiner Mann mit oranger Krawatte und schwarzem Zylinder auf dem Kopf. Er sitzt im Berliner Landesvorstand und nennt sich F0O0, was alle »Fuu« aussprechen. Zwei Stunden vor Ende des Parteitags gelingt ihm die kleine Sensation: F0O0 putscht seinen Antrag auf der Tagesordnung ganz nach oben. In dem Papier geht es um Zeitreisen. Jubel brandet auf, als er das Podium betritt, in der einen Hand eine braune Flasche. Das wird doch nicht etwa eine Bierflasche sein? F0O0 ruft: Wenn der Parteitag heute seinen Vorstoß zur Entwicklung einer Zeitreisetechnologie ins Wahlprogramm aufnehme, dann »haben wir die Chance, eine Partei zu werden, die vor dem Parteitag alle Anträge liest, versteht und beschließt!« Dieser Parteitag in Bochum hingegen sei leider nur eine teure Werbeveranstaltung, die zeige, warum das Parteitagskonzept der Piraten nicht funktioniere. Applaus und Pfiffe verschlucken die nächsten Sätze.
»Ich möchte die anwesenden 2000 Piraten im Saal bitten, sich jetzt nicht alle in die Rednerliste einzureihen«, mahnt die Versammlungsleiterin. Zu spät. Dutzende stehen schon hinter dem Saalmikrofon an, die Schlange zieht sich durch die halbe Halle. Als einer der Ersten ergreift der Berliner Abgeordnete Gerwald Claus-Brunner das Wort, heute mal in blauem Latzhosen-Outfit mit lila Palästinensertuch: »Ich bin hier aus der Zukunft hergeschickt worden, vom Bundesparteitag 2040«, ruft er. »Ich bin mit dem Auftrag hier, euch zu warnen, diesen Antrag anzunehmen.« Der Saal tobt.
Als wenig später jemand mahnt, die Piraten machten sich zum Gespött, wenn sie einen solchen Quatsch ins Wahlprogramm aufnähmen, brüllt ein dicker Mann am Tisch hinter mir: »Der soll sich in die CDU verpissen!« Irgendwann tritt ein Bauchredner mit Handpuppe ans Mikrofon. »Ich weiß, demnächst werdet ihr auch Puppen aufnehmen«, piepst die Puppe. »Und ich werde der nächste Kanzlerkandidat der Piraten!« Frenetischer Applaus. Als der Antrag schließlich scheitert, tröstet die Versammlungsleiterin die Enttäuschten: »Ich möchte mich trotzdem herzlich bei euch bedanken, dass wir darüber gesprochen haben.«
Wenn ich mich nicht täusche, hat kein anderes Thema so viele Leidenschaften geweckt wie dieser Gag-Antrag. Sind die Piraten am Ende vielleicht doch auch eine Spaßpartei?
Als der Parteitag am Abend schließt, sind knapp zwanzig Programmanträge beschlossen – von mehr als 700 eingereichten Papieren. Weder die steuerpolitischen Initiativen von Tom, noch die entwicklungspolitischen Leitlinien von Anna aus meiner Crew wurden debattiert. Und, na klar, unsere Vorschläge zur Familienpolitik auch nicht.
Für mich hat der Parteitag bewiesen: Das Mitmachversprechen der Piraten geht nicht mehr auf, hier in Bochum ist es zur Farce geworden. Die Idee einer Eins-zu-eins-Basisdemokratie lässt sich in einer Partei mit mehr als 34.000 Mitgliedern offensichtlich kaum noch umsetzen. Es ist schon bemerkenswert, wie stolz die Piratenpartei am Mittag twitterte: Der Parteitag habe eine Rekordbeteiligung erreicht und sei mit mehr als 2000 angereisten Piraten »zugleich die größte demokratische Versammlung der deutschen Geschichte!«. Wie schön, denke ich, aber genau das dürfte auf absehbare Zeit eines der größten Probleme der Piraten sein. Sie sind so groß geworden, dass sie ihre eigenen Versprechen nicht mehr einlösen können.
Auf der Heimfahrt im ICE zurück nach Berlin frage ich mich, wie es jetzt weitergehen soll für mich und die Piraten. Ich denke zurück an den vergangenen Sommer: Mit welcher Begeisterung ich mich damals in die Programmarbeit gestürzt hatte! Selbst vorgestern hatte ich ja noch gehofft, dieser Bundesparteitag könne meine Stimmung herumreißen. Ich war optimistisch, die schiere Größe dieses Ereignisses würde mich auf irgendeine Art berauschen. Aber die zwei Tage in Bochum haben mich nicht überzeugt.
Ich zähle nicht zu den Experten in Fragen der »Ständigen Mitgliederversammlung«. Womöglich ist sie tatsächlich ungeeignet, als virtuelles Parteiorgan die demokratischen Prozesse innerhalb der Piratenpartei zu optimieren. Und natürlich weiß ich inzwischen, welcher Glaubensstreit unter Piraten um die Meinungsbildungssoftware Liquid Feedback tobt. Aber warum führt meine Partei nicht wenigstens offensiv diese Debatte? Wie wollen die Piraten der politischen Konkurrenz künftig noch guten Gewissens deren Online-Inkompetenz vorhalten, wenn sie selbst nicht mal den Versuch wagen, demokratische Prozesse ins Internet zu verlagern? Mir ist das unbegreiflich.
Sieh an, gerade hat sich der Berliner Pirat Jan Hemme auf einen Sessel schräg gegenüber im Zug gesetzt. Er sieht abgekämpft aus. Immerhin hat er nach dem gestrigen Flop seines Wirtschaftsantrags heute doch noch zwei umfangreiche, anspruchsvolle Projekte durchgebracht – eines zum Thema Transparenz und ein anderes zum Datenschutz.
Seine Reden und Wortbeiträge gehörten zu den geschliffensten des Parteitags. Ich weiß noch, wie irritiert ich beim ersten Stammtisch-Besuch im »Kinski« über seinen Umgang mit Neulingen wie mir war. Inzwischen bin ich dankbar für jeden Profi wie ihn. Ja, vielleicht ginge es mir anders, wenn es mehr Jan-Hemme-Typen in dieser Partei gäbe. Oh, gerade hat er getwittert: »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich jetzt auf meine Familie freue.« Doch, kann ich.
Und nichts ist mir in diesem Moment ferner als die Vorstellung, demnächst aufs Neue einen riesigen Aufwand zu betreiben, um im Mai 2013 beim nächsten Bundesparteitag im bayerischen Neumarkt vielleicht doch ein paar Versatzstücke zum Wahlprogramm beizusteuern. Die Chance, dann mit unserem Familiengedöns auf die Agenda zu kommen, halte ich nach diesem Wochenende für überschaubar. Rein rechnerisch könnten bei unserem Ranglistenplatz 431 noch fünfzehn Parteitage vergehen, bis unser Projekt drankäme. Bei zwei solcher Großveranstaltungen im Jahr wäre das in etwa sieben Jahren.
Mit Sicherheit werde ich mich 2019 längst rührselig an dieses unvergesslich schrille Novemberwochenende im Ruhrpott erinnern. Und, wer weiß, womöglich ist mir in sieben Jahren sogar wieder nach einem kleinen politischen Abenteuer – falls die Piraten dann nicht selbst längst nur noch nostalgisch zurückblicken auf ihre wilden Jahre.