Kapitel 15
Nur das Geräusch ihres schweren Atems erfüllte die große Küche. Brendon lag immer noch auf ihr, und er konnte spüren, wie ihr Körper bei jedem rauen Atemzug unter seinem zitterte.
Sie gehört mir.
Sie gehörte für immer ihm. Genau wie er für immer ihr gehörte.
Brendons Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, und er zog sie fester an sich. Sie gehört mir.
»Geh runter von mir, Brendon!«
Hoppla. Das klang nicht gut. Vor allem, wenn sie seinen Vornamen benutzte. Sie nannte ihn nie bei seinem Vornamen. Und sie hatte vorher noch nie so kühl geklungen. Nicht ein einziges Mal.
»Sofort! Geh sofort von mir runter!«
Langsam richtete sich Brendon auf und zog sich langsam aus ihr heraus. Er trat zurück, entsorgte rasch das Kondom und verstaute sich selbst wieder in seiner Jeans.
Ronnie stieß sich von der Arbeitsplatte ab und bückte sich nach ihrer Shorts. Er sah ihr schweigend zu, wie sie die Hose anzog, das T-Shirt zurechtzog, sich umdrehte und aus seiner Küche ging. Die ganze Zeit sagte sie kein Wort und sah ihn nicht an.
Er folgte ihr, als sie zu seiner Wohnungstür ging, sie öffnete und zum Aufzug weiterging. Sie drückte den Rufknopf, und die Tür ging sofort auf. Sie ging hinein, drückte einen Knopf und schaute endlich doch noch zu ihm auf.
Verwirrt und ein bisschen panisch fragte er sie: »Wo willst du hin? Du hast versprochen, mir zu sagen, wenn du eine Weile weg bist.«
»Du hast recht. Das habe ich.« Sie zuckte beiläufig mit den Schultern. »Europa.«
Er weigerte sich zu glauben, dass er sie richtig verstanden hatte. »Was?«
»Europa. Ich gehe nach Europa. Wir sehen uns.«
Dann knallten die Aufzugtüren vor seiner Nase zu.
Ronnie trat in die Hauptlobby, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie musste gehen. Sie musste weglaufen. Sie musste etwas anderes tun, als hierzubleiben und der Sache ins Auge zu sehen. Sie konnte der Sache nicht ins Auge sehen.
Sie öffnete die Hoteltür und trat nach draußen. Nachdem sie an den Portiers vorbei war, die sich um Neuankömmlinge kümmerten, stellte sie sich an die Ecke. Vielleicht stand sie Minuten dort, vielleicht auch Stunden. Sie wusste es nicht.
»Vielleicht willst du Schuhe anziehen.«
Ronnie schaute auf ihre großen Füße hinab und merkte, dass sie nicht nur keine Schuhe anhatte, sondern auch immer noch nur Shorts und ein T-Shirt trug. Kein Wunder, dass ihr kalt war.
Sie schaute in das gutaussehende Gesicht von Mitch Shaw hinauf.
Besorgt fragte er: »Süße, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ich gehe. Bevor ich noch tiefer in die Falle gerate, als ich es sowieso schon bin, gehe ich«, spie sie ihm entgegen.
»Gehen? Jetzt? Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«
»Ich gehe immer.« Sie machte sich auf den Weg.
»Aber warum? Du und Bren …«
»Nein. Nein.« Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um und schlug ihm die Hände gegen die Brust, wie sie es bei seiner Schwester getan hatte. Nur dass Mitch sich im Gegensatz zu seiner Schwester nicht rührte. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ich und Bren gar nichts. Ich gehe, bevor ich anfange, einen Minivan zu fahren und mir Sorgen übers Schulsystem zu machen.«
»Du kannst ihn nicht einfach verlassen.«
»Tja, und der Himmel weiß, dass ich nicht bleiben kann!« Sie wusste, sie klang hysterisch. Die Leute auf den Straßen von Manhattan starrten sie schon an. Und dabei brauchte es einiges, um deren Aufmerksamkeit zu wecken.
Kopfschüttelnd und peinlich berührt ging Ronnie weiter, dicht gefolgt von Mitch.
»Warum folgst du mir?«
»Ich gehe mit dir. Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Ronnie blieb wieder stehen und drehte sich um, sodass Mitch in sie hineinrannte. Hätte er sie nicht festgehalten, sie wäre umgefallen, nachdem sie von all diesen Muskeln abgeprallt war.
Da bemerkte sie die Reisetasche über seiner Schulter. »Du gehst auch.«
Er sah leicht beschämt aus. »Ja. Marissa und ich haben uns gestritten. Sie ist irgendwie davongestürmt und ich … ich dachte, wenn ich …«
»Weglaufe?«
Er kniff seine goldenen Augen zusammen. »Du bleibst ja auch nicht, wie ich sehe.«
Ohne zu antworten, drehte sich Ronnie wieder um und ging weg. Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie wollte gehen. Sie wollte weit weg. So weit weg wie möglich.
»Ronnie, warte.« Mitch hielt sie am Arm fest. »Warte bitte. Es tut mir leid.«
»Er liebt dich, Mitch. Du kannst nicht gehen, ohne es ihm zu sagen.«
Mitch kicherte leise. »Dich liebt er auch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht hören. Ich kann nicht …« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch Mitch ließ sie nicht los.
»Lass es uns durchziehen.« Seine freie Hand legte sich um ihr Kinn, die Finger strichen ihre Wange entlang. Sie kannte diese Bewegung. Er versuchte, sie zu beruhigen. Den jaulenden Hund zu besänftigen, bevor er wieder anfing, die Nachbarn anzubellen.
»Lass uns wieder reingehen«, bot er an, »und reden. Ich spendiere dir eine heiße Schokolade. Wir gehen nirgendwohin, bevor wir geredet haben. Okay?«
Sie wusste, dass sie gehen sollte, aber sie wollte auch nicht, dass Mitch ging. Das wäre Shaw gegenüber nicht fair. »Und du bleibst?«
»Wenn du bleibst.«
Sie konnte Mitch nicht wieder davonlaufen lassen. Shaw würde den Verstand verlieren, wenn sein kleiner Bruder wieder verschwand. »Okay. Aber nur für eine heiße Schokolade.«
Mitch grinste und sah dabei so sehr wie Shaw aus, dass ihr das Herz schmerzte. »Klar. Allerdings könnten wir dir auch noch Schuhe besorgen, bevor du abhaust. Im Dezember ohne Schuhe in New York herumzulaufen … das ist wahrscheinlich keine so gute Idee.«
Er lenkte sie zurück zum Hotel und führte sie durch die Lobby in ein kleines Restaurant, das sich hinter den schillernderen bekannteren Lokalen versteckte. Sie setzten sich, und ein Kellner glitt herbei, um ihre Getränkebestellung aufzunehmen. Als er wieder davongeglitten war, sah Mitch sie stirnrunzelnd an. »Du siehst aus, als wärst du am Erfrieren.«
»Erfrieren? Nein.« Aber ihre Zähne klapperten, als sie sprach.
Mit einem verärgerten Schnauben zog Mitch seine Jacke aus und legte sie Ronnie um die Schultern.
»Sag mir, was passiert ist, Ronnie.«
Sie zuckte unter seiner schweren Lederjacke die Achseln und zog sie enger um sich. »Nichts.«
»Ronnie, er hat dich markiert. Ich rieche seinen Geruch überall an dir.«
Ronnie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Gesicht in die Hände.
»Wolltest du das nicht?«
»Es wäre nett gewesen, wenn er gefragt hätte.«
»Das stimmt. Aber hätte ein Wolf gefragt? Oder hätte er einfach sein Leben in die Hand genommen und das Beste gehofft?«
Ronnie ließ die Hände auf den Tisch fallen und nahm sie zur Seite, als der Kellner eine riesige Tasse heiße Schokolade vor sie hinstellte. Mit einem genauso riesigen Marshmallow darauf.
»Verstehst du es nicht, Mitch? Jetzt sitze ich in der Falle. Ich muss ihm sagen, wohin ich gehe. Wann ich zurückkomme. Ob ich verhaftet wurde.«
Mitch blinzelte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ähm … wirst du oft verhaftet, Süße?«
»In diesem Land? Eigentlich nicht.«
»Das ist gut zu wissen. Aber hättest du nicht gern jemanden, der dich auf Kaution herausholt, wenn du verhaftet wurdest?«
»Dafür ist meine Meute da. Und denen muss ich nicht ständig sagen, wo ich bin.«
»Stimmt, aber jetzt hast du Bren. Sieh es wie ein zusätzliches Paar Thermounterwäsche. Manchmal kommt man in Situationen, wo man wirklich zwei braucht.«
Ronnie trank von ihrer heißen Schokolade, hielt aber inne und setzte die Tasse wieder ab. »Schätzchen, das ist einer der dümmsten Vergleiche, die ich seit Langem gehört habe.«
Er zuckte die Achseln. »Sei nicht so streng mit mir. Ich improvisiere hier.« Mitchs Gesicht wurde ernst. »Was ich damit sagen will, Babe, du brichst ihm das Herz, wenn du ihn verlässt.«
»Katzen suchen sich keinen Gefährten fürs Leben.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»National Geographic und der Discovery Channel. Die Männchen kommen und gehen, springen von Rudel zu Rudel. Und Wölfe teilen nichts außer Essen, aber selbst darum balgen wir uns.«
»All das ist absolut richtig – bei Katzen, die ungefähr zwölf werden und in der Serengeti leben. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war das hier New York, und Bren und ich hatten noch fünfzig oder sechzig Jahre zu leben. Ich weiß, dass Bren sie mit dir verbringen will. Und keiner von uns hat vor, den Rest seines Lebens von einem Haufen Frauen herumgereicht zu werden, die uns kaum ausstehen können.«
»Er will mich nur, weil ich damals in dieser Nacht geblieben bin. Sie sind gegangen, und ich bin geblieben.«
»Das ist nicht der Grund. Er ist dankbar, dass du damals geblieben bist. Er will dich, weil du wild aussiehst in diesen Shorts.« Mitch grinste, als sie lächelte. »Und er liebt dich, weil du ihn glücklich machst. Ich habe den Mistkerl nie so verdammt viel lächeln sehen.«
»Er gibt mir das Gefühl …« Ronnie unterbrach sich und sah wieder auf den Tisch hinab.
»Was, Ronnie? Was für ein Gefühl gibt er dir?«
»Das Problem ist das Gefühl, das er mir nicht gibt.«
»Und das wäre?«
Sie holte tief Luft. »Rastlosigkeit. Ich habe nie das Gefühl, gehen zu müssen, wenn ich mit ihm zusammen bin. Ich wache nie morgens auf und habe schon einen Fuß aus dem Bett.«
»Und das ist ein Problem, weil …?«
»Weil ich immer gehe. Jetzt will ich nur bleiben, und das macht mir höllische Angst!«
»Du hast Angst, weil du weißt, dass sich dein Leben ein für alle Mal ändert. Wenn du keine Angst hättest, würde ich mir Sorgen machen.« Er nahm einen großen Schluck von seiner heißen Schokolade. »Wie wäre es mit einem Deal?«, schlug er leise vor.
»Was für ein Deal?«
»Du bleibst … und ich bleibe auch. Zumindest eine kleine Weile.«
»Mir sollte es egal sein, ob du bleibst oder gehst! Mir sollte total egal sein, wie es ihm deswegen geht!«
»Aber es ist dir nicht egal, Ronnie. Und das ist gut so.«
»Na schön.« Ronnie schob ihre Tasse von sich. »Ich bleibe.«
»Gut. Und jetzt gehen wir ihn suchen, bevor er auf der Suche nach dir das ganze beschissene Hotel auseinandernimmt.«
Er hatte in ihrem Zimmer nachgesehen. In der Lobby. Sogar in ein paar der Restaurants. Sie war verschwunden.
Scheiße. Sie hatte ihn verlassen.
Jetzt musste er hier herumstehen und sich mit Sissy Mae Smith herumschlagen. Jeder andere hätte sie inzwischen umgebracht.
»Lass uns mal nachdenken … wo kann sie hingegangen sein? Hat sie ihren Pass mitgenommen?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er.
»Keine Ahnung.«
Das nervte ihn vielleicht. Ständig wiederholte sie alles, was er sagte.
»Hat sie eine Andeutung gemacht, wo sie hinwollen könnte?«
»Sie sagte Europa.«
Sie tippte mit den Fingern auf dem massiven Holz der Rezeption herum. »Europa.«
Brendon ließ die Ellbogen auf den Tisch fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Na, na, Schätzchen. Weinen nützt nichts. Wir werden sie schon finden.«
»Ich weine nicht. Ich versuche, mich davon abzuhalten, dir die Stimmbänder herauszureißen.«
Überraschenderweise lachte sie. »Du meine Güte, Brendon Shaw. Du bist ja wohl das süßeste kleine Ding, wenn du dich aufregst.«
Als sie ihm in die Wange kniff, konnte er nichts anderes tun, als zu lachen.
Sissy schaute über seine Schulter. »Und schau. Da ist sie.«
Brendon drehte sich um. Die Erleichterung traf ihn als Erstes, rasch gefolgt von blinder Eifersucht, als er sah, dass sein Bruder neben ihr ging. Sie hatte sogar die Lederjacke dieses verräterischen Kerls an. Mitch hatte noch nie jemanden seine Lederjacke tragen lassen – bis jetzt.
»Hmmm«, grübelte Sissy Mae. »Ich frage mich, wo die zwei so lange gemeinsam waren.«
Ein kleiner, rationaler Teil von ihm wusste, dass Sissy ihn nur verarschen wollte; den Geschichten nach, die er von Ronnie kannte, wusste er, dass sie das gern zum Spaß tat, wie andere Leute strickten oder Videospiele spielten. Das hielt die Eifersucht nicht davon ab, in ihm aufzusteigen und ihm die Luft abzuschnüren.
Brendon stolzierte zu den beiden hinüber und ignorierte das Lächeln, das Ronnie Lee ihm schenkte und das schnell zu einem finsteren Blick wurde.
»Was zum Henker ist hier los?« Er sah Ronnie nicht einmal an, sondern konzentrierte sich auf Mitch.
»Nichts, großer Bruder. Nur … du weißt schon …« Mitch legte die Hände auf Ronnies Schultern und strich ihre Arme entlang nach unten. »Ich versuche nur, Ronnie zu trösten.«
In diesem Augenblick kam alles zusammen. Der Angriff, die Wahrheit über Mitch, Ronnie, die ihm davonlief – all das brach in diesem Moment über Brendon herein und erfüllte ihn mit einer Raserei, die er seit seinen wilden Tagen mit seiner Zwillingsschwester in den Straßen von South Philly nicht mehr erlebt hatte.
Vorsichtig hob Brendon Ronnie hoch und stellte sie aus dem Weg; er hörte ihr warnendes Knurren und die Worte, die ihn beruhigen sollten, nicht einmal. Dann stieß er Mitch gegen die Brust, dass der kleine Scheißer rückwärtstaumelte.
»Vielleicht bist du ein Idiot«, knurrte Brendon. »Vielleicht auch ein bisschen hirngeschädigt.« Er schubste seinen Bruder noch einmal. »Was auch immer mit dir los ist: Vergiss nicht, dass sie verdammt noch mal mir gehört!«
Mitch senkte den Kopf und sah Brendon finster an, seine Lippen entblößten strahlend weiße Reißzähne. »Dann solltest du, großer Bruder, vielleicht lernen, wie du deine Frau hältst, ohne dass ich es für dich tun muss.«
Brendons Wut sammelte sich und wurde zu einem kleinen, feinen Punkt, und ganz der Löwe, der er war, stürzte er sich auf die Kehle seines Bruders, ohne sich weiter um das Knurren und Grollen mitten in seinem Fünf-Sterne-Hotel zu kümmern.
»Was hast du zu ihm gesagt?«
Sissy schenkte ihr ihren unschuldigen Blick. »Ich? Ich habe gar nichts gesagt, Schätzchen.«
»Du lügst mich an, Sissy Mae.«
»Lügen ist so ein starkes Wort.«
Zuerst bemerkte sie den Geruch, Ronnie drehte sich um und stand Nase an Brust vor Rory Lee Reed.
»Kleine Schwester«, grüßte sie die tiefe Stimme ihres Bruders. »Typisch. Kaum sind wir in der Stadt, finden wir dich und Sissy Mae mitten in der Scheiße.«
»Was ist hier überhaupt los?«, fragte Ricky Lee Reed, neugierig wie immer.
»Nichts«, brachte Ronnie heraus, nahm Rorys Arm und versuchte, ihn wegzuziehen, in der Hoffnung, dass Ricky Lee und Reece automatisch folgen würden, wie sie das immer taten. Aber anscheinend hatte Sissy Mae andere Vorstellungen.
»Diese zwei Löwen kämpfen um Ronnie Lee.«
Langsam sah ihr Bruder Sissy Mae an. »Wie bitte?«
»Siehst du den größeren?« Sie deutete hilfsbereit auf Shaw. »Das ist Brendon Shaw. Er hat deine Schwester heute Nacht markiert. Wenn du genau hinriechst, kannst du seinen Geruch überall an ihr feststellen. Und der etwas kleinere … das ist sein kleiner Bruder Mitch.« Sie grinste. »Ich finde ihn ziemlich süß. Also, jedenfalls ist Brendon eifersüchtig, weil er Ronnie Lee und Mitch zusammen hereinkommen sah. Der arme Kleine, ich glaube nicht, dass er es gewohnt ist, Besitzansprüche wegen einer Frau zu haben.«
Ronnie Lee wandte sich zu ihrer Freundin um. »Bist du jetzt völlig verrückt geworden, verdammt noch mal?«
Rory versetzte seiner Schwester einen Stoß mit dem Ellbogen. »Pass auf, was du sagst, Ronnie Lee.«
»Wie lange läuft das schon?«, fragte Ricky, die großen Hände in den Hosentaschen seiner Jeans.
»Erst ein paar Tage. Aber deine Schwester ist von der schnellen Truppe, wie ihr wisst.«
Sie würde sie umbringen. Sie würde ihre beste Freundin so was von umbringen!
Reece warf einen Blick in die wachsende Runde von Zuschauern. »Ich glaube, wir kümmern uns mal besser darum. Kann nicht zulassen, dass irgendwelche Katzen den Namen Reed lächerlich machen.«
»Warte.« Ronnie sprang vor ihre drei Brüder, bevor sie sich rühren konnten. »Tut ihm nicht weh!«
»Verletzt zumindest nicht sein Gesicht«, schaltete sich Sissy hilfsbereit ein, doch sie schlug sich die Hand vor den Mund, als Ronnie ihr einen vernichtenden Blick zuwarf.
»Warum nicht?«, wollte Rory mit seiner ruhigen, tiefen Stimme wissen. »Nach dem zu urteilen, was Sissy Mae erzählt, hat dieser Bastard mit unserer kleinen Schwester herumgemacht.« Rorys haselnussbraune Augen starrten auf sie herab. »Sagst du mir einen Grund, warum ich ihn nicht in der Luft zerreißen sollte, Rhonda Lee?«
Ronnie räusperte sich und sah sich um. Ein paar der Männer ihrer Meute wanderten herüber, wie immer angezogen von den Geräuschen einer ordentlichen Schlägerei. Jetzt standen sie hinter ihren Brüdern, sahen sie an und warteten. Leider war Smitty mit Mace ausgegangen. Der einzige vernünftige Wolf in einem Haufen von Hinterhofkötern. Verdammt!
»Antworte mir, Rhonda Lee«, drängte Rory. »Antworte mir, oder geh mir aus dem Weg.«
Sie konnte nicht antworten. Sie konnte nicht. Bis Rory die Achseln zuckte und versuchte, um sie herumzugehen.
»Ich liebe ihn!«
Rory blieb stehen, den Blick auf sie gerichtet. Reece und Ricky Lee traten näher und sahen sie an, sagten aber nichts.
»Was hast du gesagt, kleine Schwester?«
»Ich … ich sagte, ich liebe ihn.«
Ronnies Wangen brannten vor Scham. Sie fühlte sich plötzlich tatsächlich wie diese Highschool-Jungfrau, die sie neulich mit Shaw gespielt hatte. Natürlich hatte sie ihren Freunden und ihrer Familie schon gesagt, dass sie sie liebte. Aber sie hatte es noch nie über einen Mann gesagt. Einen Mann, mit dem sie regelmäßig Sex hatte. Und Gott möge ihr helfen, es war die Wahrheit.
»Bist du dir da sicher, kleine Schwester?«
»Ja. Ich bin mir sicher.«
Die drei Brüder tauschten Blicke, dann schoben sie sie beiseite und gingen auf die kämpfenden Shaws zu. Anscheinend war es ihnen egal, dass sie ihn liebte.
»Aber denkt daran … nicht sein Gesicht!«, rief sie ihnen in einem letzten hoffnungslosen Versuch, wenigstens irgendetwas zu retten, hinterher.
Rory packte Shaw im Nacken und riss ihn hoch, aber Shaw hatte die Krallen in die Schultern seines Bruders gegraben, also schnappte sich Reece Mitch und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung, und Ricky Lee löste Krallen aus wichtigen Körperteilen.
»Ihr solltet euch mal ein bisschen abregen«, warnte Rory leise. »Eine ganze Menge Vollmenschen steht hier rum und schaut euch zu.«
Shaw schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Mitch schüttelte den Kopf und versuchte, seine Haare aus den Augen zu bekommen. Leider verspritzte er dabei ein bisschen Blut in alle Richtungen.
Rory packte Shaw an den Haaren und zog seinen Kopf herum. Er blinzelte ihm ins Gesicht. »Das verheilt.«
»Aber den hier sollten wir saubermachen.«
»Yup. Kommt.«
Die Reed-Brüder schoben die Shaw-Brüder vor sich her zum Aufzug.
»Wo zum Henker geht ihr hin?«
»Mach dir keine Sorgen, Ronnie Lee. Wir schicken ihn in einem Stück zurück.«
Rory zwinkerte ihr zu und schlenderte davon; der Rest der Meutenmänner folgte ihm.
Als sich die Aufzugtüren geschlossen hatten, wandte sich Ronnie an Sissy Mae. »Was zum Henker war das?«
»Das, meine Freundin, waren Männerangelegenheiten.«
»Männerangelegenheiten?«
»Ja. Kram, der viel zu dumm ist, als dass eine Frau auch nur daran denken würde, sich einzumischen.«
»Ah.«
»Komm, Schätzchen. Wir ziehen dir was an, bevor du noch erfrierst. Und dann besorgen wir uns ein hübsches großes Fass Tequila.«
»Guter Plan.«
Aber bevor eine von ihnen einen Schritt machen konnte, trat Marissa Shaw aus einem der anderen Aufzüge. Ihre goldenen Augen suchten die Lobby ab, und als ihr Blick Ronnie traf, marschierte sie direkt auf sie zu.
Ronnie zog eine Grimasse. »Oh Scheiße.« Sie hatte wirklich gehofft, ihre Nacht der Aufregungen sei vorbei. Scheinbar nicht.
»Keine Sorge, Schätzchen. Ich halte dir den Rücken frei.«
»Das hast du in Budapest auch gesagt. Die Narben hab ich immer noch.«
»Du bist so eine Heulsuse!«
Marissa Shaw trat vor sie hin, den Blick fest auf Ronnie gerichtet.
»Äh … hi, Marissa.«
»Nach einem herrlichen Streit mit meinem idiotischen kleinen Bruder«, begann sie ganz ohne Einleitung, »klingelte Brendons Telefon. Es war Missy Llewellyn.«
Ronnie runzelte die Stirn. »Missy?«
»Ja. Missy. Anscheinend hatten ihre Schwestern ihr gerade von dir und Brendon erzählt.« O-oh.
Marissa verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig hin. Die Frau war definitiv stämmig und kräftig. Ein typisches Raubtier.
»Hör mal, Marissa …«
Die Löwin hob die Hand, um Ronnie zum Schweigen zu bringen. »Als sie mich fragte, was da los ist, war ich gezwungen, ihr von dir und Brendon zu erzählen. Dass mir Brendon erzählt hat, dass er dich liebe und dass ich ziemlich sicher sei, dass er dich als sein Eigentum markieren werde.«
Sissy Mae machte den Mund auf, wahrscheinlich, um das zu bestätigen, doch Ronnie trat ihr mit Schwung auf den Fuß. Sissys Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, doch sie behielt ihren Schmerz für sich.
»Vielleicht solltest du mit Bren …«
»Ich musste ihr sagen, dass eine Wölfin bei der Aufzucht des Nachwuchses des Llewellyn-Rudels helfen würde. Und dass sie eines Tages kleine Halbwolf-Geschwister haben würden. Außerdem, dass sie wegen des Vertrags rein gar nichts dagegen tun könne. Dann musste ich ihr noch sagen, dass jedes Rudel der Westküste davon erfahren würde, dass sie eins ihrer bevorzugten Alphamännchen verloren hat, nicht an irgendeine reiche Meute aus Boston oder Connecticut, sondern an eine Wölfin aus der Smith-Meute aus der hintersten Provinz in Tennessee.«
Ronnie wäre wahrscheinlich gehörig wütend geworden, wären nicht plötzlich Tränen über Marissas Gesicht gekullert. Ach du lieber Gott im Himmel, sie weint.
»Ich musste ihr all diese Dinge sagen, und ich muss zugeben, dass nichts, absolut nichts mich je glücklicher gemacht hat.«
Ronnie blinzelte. »Was?«
»Du, meine Wolfsfreundin, hast mir Hoffnung geschenkt, als ich nur Dunkelheit sah. Du hast mir Freude geschenkt, als ich nur Kummer kannte. Du, Ronnie Lee Reed, hast mich glücklicher gemacht, als ich es in meinem ganzen Leben je war!«
Dann schlang Marissa die Arme um Ronnie und drückte sie fest an sich. Mit großen Augen schaute Ronnie hinüber zu Sissy, die mit genauso großen Augen zurückstarrte.
Wow. Und sie hatte gedacht, ihre Familie sei schräg.
»Das ist … äh … wirklich toll, Marissa.« Ronnie tätschelte ihr unbeholfen den Rücken. »Ich bin froh, dass ich helfen konnte.«
»Oh, das hast du. Ich hatte nicht mehr so viel Spaß, seit ich aufgehört habe, Autos zu klauen.«
Das war der Moment, als Sissy Mae sich den Mund zuhielt und sich mit bebenden Schultern abwandte.
Ronnie schob Marissa vorsichtig von sich. »Ich bin so froh, dass ich dir diese Freude machen konnte.«
Marissa richtete sich auf und wischte sich die Augen mit den Handrücken. »Wie wäre es, wenn wir etwas essen gehen und mit ein bisschen Champagner auf dieses verheißungsvolle Ereignis anstoßen, dass wir Missy Llewellyn zur erbärmlichsten Schlampe auf dem Planeten gemacht haben?«
Ronnie sah auf Mitchs Jacke hinab, die sie immer noch trug, und auf ihre nackten Beine, die darunter hervorschauten. »Ich bin nicht gerade richtig angezogen für die meisten Restaurants im Hotel.«
Indem sie die Arme um Ronnies und Sissys Schultern legte, erinnerte Marissa sie: »Hallo? Mir gehört der Laden. Wir können in jedes verdammte Restaurant gehen, in das wir gehen wollen, und zwar in jedem verdammten Outfit, nach dem uns gerade ist.« Sie ging los, beide Wölfinnen gefangen in ihrem eisernen Griff, ohne eine Chance zu entkommen. »Ich hätte Lust auf Steak. Wie steht’s mit euch, Ladys?«
Was hätte Ronnie sagen sollen? Sie wäre nie in der Lage gewesen, einer Löwin davonzulaufen. »Klar. Klingt super.«
Junge, diesen Albtraum würde ihr Shaw so was von bezahlen!
Wie konnte Ronnie ihn so im Stich lassen? Zwei Stunden war er nun schon mit ihren Brüdern, fünf anderen Wölfen, deren Namen ihn nicht interessierten, und mit seinem eigenen kleinen Bruder gefangen. Dieser stand in diesem Moment mit Ricky Lee auf dem Balkon und heulte einen nichtexistenten Mond an.
Er rieb sich die Augen in der Hoffnung, das unerträgliche Hämmern in seinem Kopf zu stoppen, und fragte noch einmal: »Bist du sicher?«
»Ich stand direkt daneben. Ich bin doch nicht taub.« Rory Reed drückte Brendon das Einmachglas wieder in die Hand. Als er es an einen anderen Wolf weitergeben wollte, sah Rory ihn wieder mit diesem finsteren Blick an.
Seufzend nahm er einen großen Schluck von der farblosen Flüssigkeit und verzog das Gesicht, als sie ein Loch in seine Speiseröhre brannte. Nach einer Weile räusperte er sich und reichte Rory das Glas zurück. »Sie hat wirklich genau diese Worte gesagt?«
»Yup.« Rory nahm einen großen Schluck und wirkte vollkommen unbeeindruckt von der Menge an Alkohol, die er in den vergangenen zwei Stunden in sich hineingeschüttet hatte. »Sie sagte: ›Ich liebe ihn.‹«
»Hat sie es ernst gemeint?«
»Na ja, sie hat es vorher noch nie gesagt.«
»Sie hat uns auch noch nie davon abgehalten, einem Kerl wehzutun«, fügte Reece Reed hinzu. »Meistens bringt sie uns eher dazu. Also muss sie dich irgendwie mögen.«
Sie muss dich irgendwie mögen? Das war ja wohl eher vage.
Das Heulen wurde lauter, und Brendon ertrug es nicht mehr. »Mitch! Würdest du bitte mit diesem verdammten nervigen Geräusch aufhören!« Das Heulen erstarb abrupt, aber jetzt hatte Brendon die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Wolfes im Raum. Er räusperte sich und fügte hinzu: »Es ist so nervig, wenn eine Katze das macht, findet ihr nicht auch?«
Die Wölfe nickten, und Rory hielt ihm wieder das Einmachglas hin.
»Nein danke. Ich will wirklich nicht …«
Sie starrten ihn alle an, und Brendon wurde klar, dass er keine große Wahl hatte. Also nahm er das Glas und stürzte noch mehr von dem Zeug hinunter, von dem er sich ziemlich sicher war, dass es sich durch Titan fressen konnte.
Mann, diesen Albtraum würde ihm Ronnie so was von bezahlen!