Prolog
»Mr. Shaw, Sie müssen aufstehen. Sofort.«
Brendon Shaw, der auf den Knien und vermutlich im Sterben lag, zuckte bei dieser Stimme zusammen. Rau wie eine kilometerlange Schotterpiste. Dennoch verschaffte sie ihm etwas, worauf er sich konzentrieren konnte. Etwas, das ihn davon abhielt, vollends ohnmächtig zu werden. Er durfte nicht zulassen, dass er diese Frau aufhielt. Er kannte sie … von irgendwoher. Erinnerte sich an ihren Geruch. Kannte selbst diese furchteinflößende Stimme.
Noch wichtiger: Sie war ein Vollmensch. Auch wenn die Bastarde, die ihm das angetan hatten, gerade von einem Klan Hyänen zerrissen wurden, würden diese Hyänen bald zurückkommen, um sie zu holen. Die Frau zu holen. Ihre Rasse war nicht besonders gut in Loyalität oder Freundlichkeit. Sie nahmen immer die Schwachen. Sie war schwach, denn sie war ein Mensch. Er war schwach, weil er gerade auf ihrem Tunnelboden verblutete. Also musste er sie hier herausbringen. Sofort.
Trotzdem konnte er keine Wunder bewirken. Er hatte mindestens drei gebrochene Rippen, ein gebrochenes Schlüsselbein, eine gebrochene Kniescheibe und eine interessante Anzahl von inneren Verletzungen. Wenn er einen sicheren Ort fand, wo sein Körper heilen konnte, würde er wahrscheinlich überleben. Um genau zu sein, würde er in wenigen Tagen komplett wiederhergestellt sein – falls er die Nacht überlebte. Allerdings glaubte er nicht, dass das passieren würde. Entweder würde er bei dem Versuch verbluten, aus diesen Tunneln herauszukommen, oder die Hyänen würden ihm den Rest geben. So oder so: Er würde nicht zulassen, dass diese Frau mit ihm unterging. Also musste diese Frau – wer zum Teufel ist sie? – gehen.
Shaw schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Ich kann Sie nicht tragen, Mr. Shaw.«
Ein hartnäckiges kleines Ding, was?
Er versuchte es noch einmal: »Vergessen Sie mich. Gehen Sie.« Er konnte die Hyänen eine kleine Weile aufhalten. Zum Kämpfen reichte es nicht mehr, aber sie würden so damit beschäftigt sein, ihn zu zerfleischen und ihm die Gliedmaßen abzureißen, dass sie genug Zeit haben würde, um hier herauszukommen – wenn sie nur endlich ginge!
Sie stieß einen leisen, entnervten Seufzer aus. »Ich kann Sie nicht hierlassen, Mr. Shaw.«
Ach. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Cop. Der Cop mit der Oberweite, der am ganzen Körper nach Mace Llewellyn roch.
Kein Wunder, dass sie ihn nicht hierließ. Sie tat ihre Bürgerpflicht – oder was auch immer. Dennoch, wenn sie ihren hübschen Hintern nicht bald in Bewegung setzte …
Der Wolfsgeruch traf ihn schnell und hart. Na großartig. Jetzt musste er sich um Wölfe und Hyänen kümmern, nachdem er von niederrangigen Löwen halb zu Tode geprügelt worden war. Mann, was für ein beschissener Heiligabend.
Doch die Frau schien den Anblick einer großen Wölfin eher positiv aufzunehmen, sie neigte den hübschen Kopf zur Seite und fragte: »Sissy Mae?« Die Wölfin jaulte als Antwort. »Ich habe mich verlaufen, und er kann nicht mehr.«
Vielleicht die größte Untertreibung des Abends. Er würde jeden Moment anfangen, Blut zu husten, und das war immer ein großer Spaß.
Schreie, Gebrüll und das reizende lachende Hyänenheulen – wie Nägel auf einer Schiefertafel – erinnerten ihn daran, dass ihnen die Zeit davonlief. Maces Frau war so clever gewesen, dem Kopf des Hyänenklans zu sagen, wer ihren Löwenliebhaber getötet hatte. Das hatte die Aufmerksamkeit der Hyänen auf die drei Bastarde gelenkt, die kurz davor gewesen waren, ihm wie einem gottverdammten Menschen in den Hinterkopf zu schießen. Er hätte diese Wende der Lage amüsant gefunden, läge er nicht gerade im Sterben.
Die Wölfin legte den Kopf zurück und heulte. Sie rief ihre Meute.
Entweder die Hunde erschienen so schnell, oder er war eine Weile ohnmächtig gewesen, denn plötzlich stand er an die Tunnelwand gelehnt auf seinen eigenen Füßen, umringt von einer ganzen Menge Wölfe. Zwei männliche Tiere verwandelten sich in Menschen und nahmen ihn an den Armen. Normalerweise hätte er keinem Hund erlaubt, ihn anzufassen, aber unter diesen Umständen durfte er wirklich nicht wählerisch sein.
Abgesehen davon ging es rapide bergab mit ihm. Ihm wurde schwarz vor Augen, sobald sie ihn zu den Stufen gebracht hatten. Dann roch er Müll, Kaffee, nasse New Yorker Straßen und … und noch etwas anderes. Etwas Wunderbares und Kraftvolles, das so köstlich war, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief und sein Schwanz hart wurde. Eine Art Wunder, wo er doch gerade am Verbluten war. Aber Mann, das war ein Grund zu überleben!
Er schaffte es irgendwie, die Augen zu öffnen, und schaute in das hübscheste Gesicht, das er je gesehen hatte. Schöne haselnussbraune Augen, die mehr gelb als braun waren, eine Stupsnase, die aussah, als wäre sie schon ein- oder zweimal gebrochen gewesen. Außerdem war sie wild gesprenkelt mit Sommersprossen, die zu den Wangen hin weniger wurden. Ihre Lippen waren voll und verhießen alle möglichen wunderbaren Fähigkeiten, und als sie ihn anlächelte, wusste er, dass er sich vielleicht verlieben würde.
Dann sagte sie: »Mach dir keine Sorgen um gar nichts, Schätzchen. Wir werden uns gut um dich kümmern.« Während der Rest ihrer Meute sich aus ihrem Gespräch komplett heraushielt, wurde ihr Lächeln verrucht und so offensichtlich sexuell, dass er glaubte, hier und jetzt zu kommen. Diese hübschen Augen musterten ihn von Kopf bis Fuß. »Ich kann ja nicht zulassen, dass dieser Körper verschwendet wird, oder? Es wäre unfair der Frauenwelt gegenüber.« Sie streckte die Hand aus und strich ihm über die Stirn. So zarte, kühle Finger. Sanft und zärtlich. Nichts hatte sich je so wunderbar angefühlt. »Mach die Augen zu, Schätzchen. Schlaf. Wenn du aufwachst, wirst du in Sicherheit und am Leben sein, das verspreche ich dir.«
Jetzt konnte er nicht mehr dagegen ankämpfen, deshalb schloss Brendon Shaw die Augen und ließ die wundervolle Schwärze kommen. Er wusste nicht, ob er je wieder aufwachen würde, wie sie es gesagt hatte. Aber eines wusste er … er hatte sich definitiv verliebt.