Kapitel 6
Sie hatten sich noch nicht verwandelt, aber Brendon hatte schon daran gedacht. Vor allem, als der kleine Mistkerl seine Reißzähne seitlich in Brendons Hals hieb. Ohne seine schützende Mähne tat dieser Mist echt weh!
So hatte er sich sein Gespräch mit Mitch nicht vorgestellt, wenn er ihn endlich aufgespürt hatte. Brendon hatte sich alles so schön ausgemalt. In freundlichem, lockerem Ton hatte er seinen Bruder fragen wollen, wie es ihm ginge und ob alles in Ordnung sei.
Leider war er so aufgeregt vom Herummachen mit der Wölfin gewesen und so sexuell frustriert wegen all der Dinge, die er mit ihr tun wollte, aber noch nicht getan hatte, dass er seine ganze Raserei an seinem kleinen Bruder ausließ. Und wie nicht anders zu erwarten, stürzte sich Mitch direkt in den Kampf.
Ehrlich, der Junge hatte manchmal überhaupt keinen Verstand. Dafür hatte er durchaus einen gemeinen rechten Haken drauf und manchmal fühlte es sich an, als seien seine Reißzähne extrascharf.
Brendon schnappte seinen Bruder an der Kehle und grub seine Krallen so weit in seine Haut, dass Mitch nervös wurde. Doch bevor er sich über die plötzliche Reglosigkeit seines Bruders freuen konnte, schoss ihm Wasser – kalt und direkt aus Dänemark importiert – mitten ins Gesicht.
Die Brüder knurrten, ließen voneinander ab und schauten in das selbstgefällige Gesicht einer umwerfenden Wölfin hinauf.
»Hatte keine Zeit, mich mit dem Wasserhahn rumzuschlagen.« Sie hielt die leere Wasserflasche in der Hand. Wasser, das ihn fünf Mäuse pro Flasche kostete. »Auch wenn ich nie verstehen werde, warum jemand bis nach Dänemark fahren sollte, um Wasser zu besorgen. Ist amerikanisches Wasser nicht gut genug für dich?«
Sie stellte die leere Plastikflasche auf einen Beistelltisch. »Sorry jedenfalls, aber ich dachte mir, dass es bestimmt einen besseren Weg gibt, wie ihr zwei klären könnt, was auch immer ihr zu klären habt. Und um ganz ehrlich zu sein, wolltest du mich nicht gehen lassen, und ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass euch beiden langweilig wird. Also« – sie streckte jedem von ihnen eine Hand hin – »wie wäre es, wenn ihr zwei versuchtet, darüber zu reden, statt euch die Kehlen zu zerfetzen? Ich würde wirklich ungern den armen Zimmermädchen das ganze Blut erklären müssen.«
Da sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten, nahm Brendon ihre eine Hand und Mitch die andere. Sie zog, und beide standen auf und überragten sie.
»Ich habe drei ältere Brüder«, erklärte sie lächelnd. »Wenn ich ihre Streits nicht beendet hätte, hätten diese Jungs sich den ganzen verdammten Tag geprügelt, und einer von ihnen wäre verblutet. Das hätte meine Momma tierisch aufgeregt und sie hätte es irgendwie geschafft, mich dafür verantwortlich zu machen.«
Mit den Fingerspitzen drehte sie Brendons Kopf ein wenig, damit sie sich seinen Hals ansehen konnte. Sie verzog das Gesicht und sog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Himmel, Junge. Du musst wirklich lernen, dich zurückzuhalten, wenn es um deine eigene Familie geht.«
Mitchs Augen wurden gefährlich schmal. »Und wer bist du?«
»Sei bloß nett!«, knurrte Brendon, die Hände schon wieder zu Fäusten geballt.
»Fang nicht wieder damit an.« Sie trat zurück. »Hört zu, ich wohne gleich hier unten. Wie wäre es, wenn ich …«
»Nein. Du bleibst hier.« Brendon schnappte seinen Bruder an seiner abgetragenen Biker-Lederjacke und zerrte ihn zur Tür. »Geh nicht weg. Ich bin gleich zurück.«
»Wo zum Teufel gehen wir hin?«, wollte Mitch wissen.
»Ich besorge dir ein Zimmer, und du bleibst über Nacht. Und denk nicht mal dran, mir irgendeinen Scheiß zu erzählen.«
Er öffnete die Tür, schob Mitch nach draußen und auf den Aufzug zu. Er warf einen Blick zurück zu der Wölfin. »Ich bin bald zurück. Mach es dir gemütlich, aber versprich mir, nicht wegzugehen.«
Sie wollte widersprechen, das konnte er an ihrem Gesicht ablesen, also fügte er hinzu: »Versprich es mir, oder ich fange wieder an, ihm in den Arsch zu treten, hier und jetzt.«
Sein Bruder drehte sich um und knurrte: »Das hättest du wohl gern …«
»Halt die Klappe«, blaffte Brendon seinen Bruder an, während er sie ansah. »Versprich es mir.«
Resigniert verdrehte sie die Augen. »Na gut, na gut. Um der Familienharmonie willen bleibe ich. Aber nicht zwölf Stunden oder so. Meine Meute könnte es bemerken, wenn ich so lange weg bin.«
»Keine Sorge. Ich bin gleich wieder da.« Er machte Anstalten, die Tür zu schließen, hielt jedoch inne und sah sie an. »Noch eines.«
»Ja?«
»Wie heißt du denn eigentlich?«
Sie sah hin- und hergerissen aus zwischen amüsiert, peinlich berührt und erschrocken.
»Rhonda Lee Reed. Alle nennen mich Ronnie Lee oder Ronnie.«
»Hat dich mal jemand Ron genannt?«
»Niemand, der es überlebt hätte.«
Brendon grinste. Yup. Er mochte sie.
»Also gut, Ronnie Lee. Fühl dich wie zu Hause, ich bin gleich wieder da.«
»Ja, ja. Ich hoffe nur, dass du einen Fernseher hast«, murmelte sie vor sich hin, als er die Tür schloss.
Er ging zu seinem Bruder hinüber, und die Aufzugtüren glitten auf. Er packte den Jüngeren im Nacken und warf ihn hinein. »Und das ist dafür, dass du versucht hast, mir die Kehle zu zerfetzen, du kleiner Scheißer!«
Wie sie den riesigen Flachbild-Plasmafernseher an Shaws Wand hatte übersehen können, war ihr schleierhaft. Andererseits mochten eventuell seine Zunge in ihrem Hals und seine Hände an ihren Brüsten etwas damit zu tun gehabt haben.
Während sie sich auf die butterweiche Ledercouch setzte und die riesenhafte Fernbedienung in die Hand nahm, um durch die Kanäle zu zappen, schüttelte Ronnie den Kopf. Er hatte nicht einmal ihren Namen gekannt. Sie hätte fast einen Mann gevögelt, der nicht einmal ihren Namen kannte. Mann, so etwas Billiges hatte sie schon sehr lange nicht mehr gemacht.
Warum rannte sie dann nicht zur Tür, statt hier auf der Couch eines Löwen zu sitzen und seine unzureichend programmierte Fernbedienung umzuprogrammieren?
Weil … weil sie ihn mochte. Sie war eine dumme Idiotin und mochte eine Katze. Sie mochte einen Mann, der nie mehr als eine schnelle, anonyme Nummer von ihr wollen würde, damit er seinen Freunden erzählen konnte, dass er es mit einer Wölfin getrieben hatte.
Doch schon während sie darüber nachdachte, ging ihr auf, dass das nicht Shaws Art zu sein schien. Er konnte jede haben. Egal ob Mensch oder Gestaltwandlerin. Jede Gattung und Rasse. Aber er wollte sie. Das hatte er vor Bobby Rays Zimmer klargestellt. Sie war sich nur nicht im Klaren, ob das ein Fehler war oder nicht.
Andererseits war es das vielleicht nicht, solange sie es kurz machte. Vielleicht konnten sie eine spaßige, bedeutungslose Affäre haben. Der Himmel wusste, es wäre nicht ihre erste.
Wenn das alles so verdammt einfach war, warum hatte sich dann ihr Magen verknotet?
Sie sollte gehen. Sie sollte eine kleine Nachricht schreiben und dankend ablehnen. Das sollte sie. Wirklich.
Ronnie dachte das auch noch, während sie ihre Beine auf seiner Couch ausstreckte und lächelte, als ihr bewusst wurde, dass sie das Glück hatte, ein paar Wiederholungen von CSI zu erwischen.
Brendon rieb sich das Gesicht, lehnte sich zurück und sah seinen Bruder an. Nach drei Stunden und zwei riesigen Sandwiches aus der Hotelküche – er wusste, dass der Kleine in letzter Zeit nichts Vernünftiges zu essen bekommen hatte – wusste er immer noch rein gar nichts.
»Sag mir zumindest, warum du nach all der Zeit in meinem Apartment aufgetaucht bist.«
Mitch zögerte einen Moment und dachte ehrlich über seine Antwort nach. Brendon kannte diesen Gesichtsausdruck. Er wusste, Mitch würde ihm nur gerade so viel Wahrheit erzählen, dass er ihn in Ruhe ließ. Er hatte es selbst oft genug so gemacht. Irgendwann zuckte Mitch die Achseln und nahm noch einen Bissen. »Marissa hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen«, brummelte er mit vollem Mund.
»Ach ja?«
»Ja. Und sie war ziemlich angepisst. Sie gibt mir die Schuld daran, oder?«
»Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Also bist du hergekommen, um nach mir zu sehen?«
Mitch verdrehte die Augen. »Wenn du dann besser schlafen kannst, Bruder.«
»Es ist schön zu wissen, dass ich dir nicht egal bin.«
Nachdem Mitch ihm den Mittelfinger gezeigt hatte, machte er sich wieder über sein Steak-Sandwich her. »Also, wer war’s?«
»Die Doogan-Brüder.« Für den Bruchteil einer Sekunde sah Brendon Überraschung im Gesicht seines kleinen Bruders aufblitzen, bevor er sie eilig verbarg. Der Kleine hatte ein Talent dafür.
»Sie haben Petrov vor Weihnachten umgebracht«, fuhr Brendon fort. »Von hinten in den Kopf geschossen.«
»Sie haben Waffen benutzt?« Mitch machte ein angeekeltes Geräusch. »Geschmacklos.«
»Die Doogans eben«, erinnerte ihn Brendon und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie wollten das Llewellyn-Rudel. Sie haben Petrov umgebracht. Und mich hätten sie auch fast umgebracht.«
»Ist das mit deinem Gesicht passiert?«
Brendon kicherte. »Ja. Das ist mit meinem Gesicht passiert, aber es verheilt schon.«
»Wo sind sie jetzt? Die Doogans?«
Brendon kannte diesen Blick seines Bruders. Er hatte ihn oft genug bei Marissa gesehen. Er wusste, was der Kleine tun würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Zu dumm für ihn, dass er die Gelegenheit nicht bekommen würde.
»Hyänen haben sie gefressen.«
Mitch starrte ihn lange an. Fast eine Minute. Dann sagte er: »Wie bitte?«
»Hyänen haben sie gefressen.« Brendon hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Ungefähr vierzig von ihnen. Haben die drei in Stücke gerissen. Wenn man bedenkt, dass die Mistkerle dabei waren, mir in den Hinterkopf zu schießen, haben sie es irgendwie verdient.«
»Da ist was dran. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie dir ein Haufen Hyänen hilft.«
»Das haben sie auch nicht. Ein wirklich begabter Cop und eine Meute Wölfe haben mir geholfen.«
»Hast du dort die mit den sexy Shorts kennengelernt?«
»Sie ist bei mir geblieben, während ich Fieber hatte. Sie hat mich vor ein paar Typen beschützt. Hat mich aus dem Krankenhaus geholt und bei ihrer Tante versteckt.«
Wieder ging dieser Ausdruck über Mitchs Gesicht, der eindeutig sagte, dass er mehr wusste, als er ausspuckte. Nur dass er diesmal ein bisschen panisch aussah. »Was für Typen?«
»Ich weiß nicht. Weiß. Menschen. Mehr weiß keiner.« Komplett nutzlose Informationen für ein Gericht.
»Du hast nicht … äh … Ich meine …« Er räusperte sich. »Wie schlimm hast du … äh …«
»Sie leben noch, wenn du das wissen willst.«
Mitch nickte und schlürfte sein Bier.
»Jedenfalls ist sie bei mir geblieben, Mann. Sie hat mich nicht hängenlassen. Und sie sieht unglaublich aus in diesen Cowboystiefeln.«
Mitch stellte das Bier ab. »Du magst sie.«
Brendon grinste. Er konnte nicht anders. »Ja. Ich mag sie.«
»Und was sagt dein geliebtes Rudel dazu?« Er konnte nie den Abscheu in seiner Stimme unterdrücken, wenn er das Rudel erwähnte. Genau wie Marissa. Es hätte ihnen gar nicht gepasst, wenn sie gewusst hätten, wie ähnlich sie sich waren.
»Ich war in letzter Zeit nur wegen der Doogans dort. Ich wollte nicht, dass sie in die Nähe meiner Kinder kommen. Aber wir sind schon eine ganze Weile fertig miteinander. Sie haben, was sie von mir wollten, und ich habe, was ich von ihnen wollte. Also sind alle zufrieden.«
Mitch lächelte. »Wie geht es meiner Nichte und meinem Neffen?«
»Großartig. Zickig, wie Kätzchen sein sollten.«
»Ich liebe dieses Alter.«
»Sie würden dich gern sehen.«
»Vielleicht.«
»Was ist los, Mitch?«, fragte Brendon noch einmal.
Mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht behauptete Mitch: »Nichts.«
Ein Fremder hätte ihm vielleicht geglaubt, aber Brendon wusste es besser. Leider besaß Mitch die Shaw-Sturheit. Er sagte niemandem etwas, bis er es verdammt noch mal selbst wollte.
»Im Grunde bist du also hergekommen, um nach mir zu sehen. Du hast dir Sorgen um deinen großen Bruder gemacht.«
»Ich habe mir keine Sorgen gemacht. Aber falls du tot gewesen wärst, hätte ich deine Sachen gewollt.«
»Oh, das ist sehr nett.«
»Komm schon. Kannst du es mir verdenken?« Mitch umschloss den opulenten Raum mit einer Geste. »Dieses umwerfende Hotel. Angestellte, die nur darauf warten, mir meine Wünsche zu erfüllen. Eine schöne Frau auf dem Zimmer … auch wenn sie eine Hündin ist.«
Brendon ignorierte den plötzlichen Anflug von ganz untypischer Eifersucht wegen einer Frau. »Eine Wölfin.«
»Egal.«
»Du müsstest trotzdem noch mit Marissa um alles streiten.«
»Mit ihr würde ich fertig. Wenn ich ihr einen Schläger über den Kopf gezogen habe.«
»Wie sehr wir unsere Familie doch lieben.«
»Wir sind das Löwen-Äquivalent zu den Waltons.«
Brendon lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist der größte Idiot.«
Es fühlte sich wirklich gut an, wenn Mitch lächelte.