Kapitel 11
Mace zog den dicken schwarzen Strickpullover über den Kopf und zog ihn hinunter. Er schüttelte das Wasser aus seiner Mähne und legte seine neue Uhr an.
Dez schlang von hinten die Arme um seine Taille. Sie drückte ihren mit einem T-Shirt bekleideten Körper an seinen und küsste seinen Rücken.
Er nahm ihre Hände. »Wie geht es deinen Fingern?« Er hatte eine Dreiviertelstunde gebraucht, um die Splitter herauszubekommen, und sie hatte die ganze Zeit gejammert. Er hatte angeboten, ihr die Finger ganz abzuschneiden, statt die Pinzette zu benutzen, aber da hatte sie sich geweigert.
»Inzwischen wieder gut. War die Dusche okay?«
»Zu klein.«
»Tja, dafür musst du deine Erbanlagen verantwortlich machen.«
»Du hättest trotzdem mit reinkommen können.«
»Konnte ich nicht. Ich musste die Jungs füttern.«
Mace sah zu ihnen hinüber. Sie saßen da und starrten ihn an. Mit hängenden Hundezungen. Da Dez ihn nicht sehen konnte, ließ er seine Reißzähne aufblitzen. Einer der Hunde begann zu jaulen.
»Was auch immer du da gerade tust – hör auf damit!« Sie ließ ihn los. »Hey, tu mir einen Gefallen.«
Er drehte sich um und sah, dass sie zwei Leinen von der Kommode genommen hatte. »Geh für mich mit ihnen spazieren, Schatz.« Sie reichte ihm die Leinen und verließ den Raum.
Mace starrte die Leinen in seiner Hand an. Hatte die Frau den Verstand verloren? War die ganze Welt verrückt geworden? Auf gar keinen Fall würde er spazieren gehen mit diesen … diesen …
Mace schaute zu den dummen Tieren hinüber, die geduldig auf ihn warteten. »Hunden.«
»Die hier wirst du auch brauchen.« Sie kam zurück ins Zimmer und drückte ihm ein paar Plastik-Einkaufstüten in die Hand. »Danke, Schatz.« Sie ging wieder.
Oh, auf gar keinen Fall!
Nein, nein, nein! Sie verlangte einfach zu viel von ihm. Forderte zu viel. Sie wollte, dass er mit ihren Hunden rausging und ihre Scheiße aufsammelte. Er. Mason Rothschild Llewellyn. Alphamann des Llewellyn-Rudels. Ehemaliges Mitglied einer Spezialeinheit der Navy. Und ein Löwe.
Missy hatte recht. Er brauchte ein nettes Rudel, das sich um ihn kümmerte. Einen Haufen Frauen, die dafür sorgten, dass er zu essen hatte, die ihn vögelten und ihm Sachen kauften, um ihn bei Laune zu halten. Was er nicht brauchte, war ein sechsunddreißigjähriger weiblicher Cop mit zwei Hunden, die sie unbedingt ihre »Jungs« nennen musste.
Er folgte Dez ins Bad. Sie stand am Waschbecken und putzte sich die Zähne mit einer elektrischen Zahnbürste, als der Radiosender, den sie an hatte, plötzlich zu Ehren von Weihnachten Oi to the World! von No Doubt spielte. Da fing Dez an, mit dem Hintern zu wackeln und mit dem Kopf zu wippen. Das T-Shirt, das sie trug, bedeckte kaum ihren anbetungswürdigen Hintern.
Mace schloss die Augen. Denk an Rudelfrauen, die sich um dich kümmern. Denk an Fußmassagen und daran, der Erste zu sein, der zu essen bekommt.
Er machte die Augen auf, und Dez beugte sich vor, um die Zahnpasta auszuspucken. Sie trug kein Höschen. Natürlich, sie hatte seit dem Vorabend keines mehr an.
Mace, der jetzt ernsthaft Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte, drehte sich um und ging zurück ins Schlafzimmer. Er sah die zwei Hunde an, die immer noch auf ihn warteten.
»Also gut, kommt schon. Lasst uns diesen Albtraum hinter uns bringen.«
Dez kam aus dem Bad, sobald sie hörte, wie sich die Haustür schloss. Sie sah auf beiden Stockwerken, in allen Zimmern nach.
Ach du Scheiße. Er ist wirklich mit meinen Hunden spazieren gegangen. Sie hatte nur einen Scherz gemacht. Sie hätte nie im Leben geglaubt, dass Mace tatsächlich mit ihren Hunden rausgehen würde. Sie hatte geglaubt, dass er ihr ins Badezimmer folgen, ihr die Tüten an den Kopf werfen und sie dann auf dem Waschbecken vögeln würde.
Dez stand mitten im Flur. Entweder liebte Mace sie wirklich, oder sie erlebte gerade eines der Zeichen der Apokalypse, von denen die Nonnen immer geredet hatten.
»Was habe ich mir da nur angetan?«, fragte sie in den leeren Raum hinein. Das Traurige war … sie erwartete tatsächlich eine Antwort.
Mace drehte sich im Bett um und ließ die Arme an der Seite herabhängen. Eine feuchte Nase schnüffelte an seiner Hand. Er stieß ein kurzes Brüllen aus, und die Nase beeilte sich, wieder unters Bett zu ihrem Hundekumpel zu kriechen.
Wann hatte diese Beziehung so eine seltsame Wende genommen? Er hatte in allen Beziehungen immer die Kontrolle gehabt, und den Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, hatte das nie etwas ausgemacht. Aber außerhalb des Schlafzimmers gab Dez ihm keinen gottverdammten Zentimeter nach. Sie wusste immer genau, was er wollte, aber sie setzte sich jedes Mal durch.
Er war sich auch gar nicht sicher, was die Sache mit den Hunden anging. Nervige kleine Mistkerle. Dez hatte eines klargestellt: Wer sie lieben wollte, musste ihre Hunde lieben. Er las sogar Hundekacke für sie auf.
Er strich sich die goldblonde Mähne aus den Augen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatten seine Haare wieder ihre normale Länge. Es hatte die ganze Pubertät gedauert, bis seine erste Mähne gewachsen war, aber seit sie da war, ging sie auch nicht gern wieder.
Mace seufzte und sah auf die Uhr neben Dez’ Bett. Wo zum Teufel war sie? Eine Dusche sollte nicht so lange dauern.
Er hasste es zu warten. Es war der Löwe in ihm. Er wartete nicht aufs Essen. Er wartete nicht, wenn er ausging. Er wartete auf gar nichts, wenn er nicht musste. Natürlich konnte er ohne sie gehen. Aber das würde er nicht tun. Nicht, wo er sich so gut amüsierte wie nie zuvor mit einer Frau. Sie war zwar ein launisches Biest, aber er mochte sie genauso sehr, wie er sie liebte. Dieses eine Mal und ohne irgendeinen Befehl von einem Commanding Officer würde er also warten. Er würde auf Dez warten. Himmel, was passierte da nur mit seinem Leben?
Eine Zunge strich über die Finger, die er auf den Teppich hängen ließ. Na toll. Die Hunde wollten spielen. Sie hatten angefangen, ihn zu mögen. In typischer Hundemanier fanden sie einen Weg. Und wenn sie ihn zwingen mussten, sie beide zu mögen.
Er knurrte, und die Hunde jaulten als Antwort. Fast hätte er gelächelt. Widerwillig.
»Bist du schon wieder gemein zu meinen Hunden?«
Mace schaute auf und wollte ihr gerade sagen, dass er nur darüber nachgedacht hatte, welche Teile ihrer Hunde gut mit Barbecuesoße schmecken würden, als er fast komplett das Atmen einstellte.
Er bemerkte kaum die schwarze Jeans, die sie anhatte, oder die schwarzen Lederstiefel. Nein, es war diese schwarze Ledercorsage, die seine volle Aufmerksamkeit forderte. Eindeutig eine Maßanfertigung für sie, denn auf keinen Fall konnte etwas von der Stange aus einem Fetisch-Laden diesen prachtvollen Brüsten so gerecht werden wie die Corsage, die sie jetzt trug. Sie war eng und figurbetont, schnürte die Oberweite hoch und enthüllte ein sehenswertes Dekolleté, das geradezu nach ihm schrie. Sie trug die Corsage über einem schwarzen Lederoberteil mit langen Ärmeln, die ihre starken Arme zur Geltung brachten und hübsch die Rundung ihrer Schultern nachzeichneten. Ihre Brüste trotzten in diesem Outfit praktisch der Schwerkraft. Sie brauchte keinen BH, und er konnte durch das Leder ihre harten Nippel ausmachen. Die hellbraune Haut, die sie zeigte, sah samtig und weich aus. Aus irgendeinem Grund fand er ihr Outfit fast genauso heiß, als wenn sie sich komplett nackt vor ihm ausstreckte, und im Moment enthüllte sie kaum etwas. Er hätte sich am liebsten an ihr gerieben, bis er schnurrte und sie kam.
Sie hatte sogar zur Feier des Tages ein wenig Make-up aufgelegt und ihre Haare gekämmt, bis sie verdammt noch mal glänzten. Niemand hatte das Recht, so gut auszusehen, am wenigsten die Frau, die sein Herz in der Hand hielt wie eine ihrer vielen Waffen. Wenn sie nur einmal ordentlich zudrückte, konnte sie sein ganzes Leben in Fetzen reißen.
»Himmel, du hast noch kein Wort gesagt. Ist das Outfit so schlimm?« Er antwortete ihr immer noch nicht. Er phantasierte immer noch über sie, diese Corsage und diese verdammten Handschellen. Er fragte sich, wie oft er sie wohl dazu bringen konnte, seinen Namen zu schreien.
»Okay. Ich ziehe mich um.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Wage es nicht.« Sie blieb stehen, offensichtlich überrascht von seinem Befehl. Und es war ein Befehl. »Schwing deinen Arsch hier rüber.«
Sie grinste anzüglich. »Was? Glaubst du, du kannst mir Befehle geben, wenn wir nicht …«
»Sofort.«
Was für ein fordernder Mistkerl. Und doch tat sie genau, was er ihr sagte. Natürlich funktionierte sie nur so, wenn sie wusste, dass es irgendeine Art von Sex einschloss. Ansonsten ließ sie den Mann etwas dafür tun.
Er fläzte auf dem Bett wie ein Löwe, der sich auf einem Felsblock in der Serengeti sonnt. Mit verschränkten Armen stellte sie sich vor ihn.
»Was?«
Er sah sie mit diesen goldenen Augen an. »Dieses Oberteil gefällt mir.« Zumindest nahm sie an, dass er das gesagt hatte, denn er knurrte mehr, als dass er sprach.
Dez fuhr verlegen mit den Händen über die Vorderseite. Die Corsage war ein Lasterkauf gewesen. Einer, der so teuer war, dass sie es eher als Investition gesehen hatte. Sie machte kein SM. Doch sie mochte deren Garderobe. Sehr wenige Leute wussten das. Irgendwie machte es ihr aber nichts aus, diese Seite von sich Mace zu zeigen. Auch wenn sie nie diesen Ausdruck in seinen Augen erwartet hätte. Er ging weit über Lust hinaus, hin zu irgendetwas ganz anderem, und Dez hatte keine Ahnung, ob sie schon damit umgehen konnte.
Sie räusperte sich. »Ich habe es bisher nur einmal getragen. Die Polizistenbar um die Ecke beim Revier erscheint mir einfach nicht der richtige Ort für dieses Ding.«
Seine Augen wurden schmal. »Hat dir das ein Kerl gekauft?«
»Was geht es dich an?«
Er erhob sich langsam, bis er vor ihr auf dem Bett kniete. »Beantworte meine Frage.«
»Nein.«
Er sah sie scharf an, dann grinste er anzüglich. »Du hast es für dich selbst gekauft, oder?«
»Gehen wir oder nicht?« Sie wollte wieder gehen, peinlich berührt, dass er ihre Vorliebe für Leder so schnell durchschaut hatte, aber er nahm ihren Arm und riss sie wieder an sich.
»Du hast. Oder nicht?« Er strich mit seinen Lippen über ihre. »Mein verdorbener kleiner Welpe.«
»Ich hasse dich.«
Er küsste die nackte Haut über der Wölbung ihrer Brüste. »Das hättest du gern.«
Ihre Finger schlängelten sich durch seine Haare. »Gott, das tue ich.« Sie atmete schwer, als er sie nach hinten bog. Sie wollte diesen Mann hassen, aber er sorgte ständig dafür, dass sich die richtigen Stellen richtig anfühlten. Kein Mann hatte das je so gut hinbekommen.
»Ich dachte … wir … würden …«
Er umfasste sie fester. »Scheiß auf sie.«
»Nein. Wir gehen aus.« Sie wand sich aus seinem Griff.
Überrascht und gar nicht erfreut, griff er wieder nach ihr. Sie sprang rückwärts zur Tür.
»Wir gehen aus.«
»Ich will nicht. Komm her.«
Oh, das gefiel ihr. Jetzt hatte sie einmal die volle Kontrolle – und das ohne Handschellen. Es fühlte sich auf jeden Fall gut an.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt aus. Und trage dieses Top. Du kannst mit den Hunden hierbleiben oder mitkommen. Deine Entscheidung, Katze.« Dann schlüpfte sie hinaus in den Flur und ging die Treppe hinunter.
Mace verschränkte die Arme vor der Brust und kochte lautlos vor sich hin. Das war eine blöde Idee gewesen. Er wusste es, sobald sie im Hotel der Meute angekommen waren. Die ganze Gruppe hatte draußen auf sie gewartet, und sobald Dez aus dem Taxi gestiegen war, hatte sich ihr jeder männliche Wolfsblick zugewandt – ihr und diesen Brüsten. Im Allgemeinen war es wirklich kein schlechter Abend gewesen. Ein gutes Essen, ein bisschen Alkohol, weil sie nicht fahren mussten, ein paar Clubs, tanzen mit Dez und ein paar Beinahe-Schlägereien, wie gemacht für einen festlichen Weihnachtsabend. Aber die männlichen Wölfe standen eindeutig auf Dez, und wie immer war sie völlig ahnungslos.
Jetzt saßen sie in Dez’ Lieblingscafé ein paar Blocks von dort, wo sie vor ein paar Nächten eine Bruchlandung in seinem Schoß gemacht hatte, redeten und tranken Espresso. Mace wäre wahrscheinlich nicht so genervt gewesen, wenn Dez neben ihm gesessen hätte, aber sie saß neben Sissy Mae, und die männlichen Wölfe fanden alle plötzlich Gründe, neben den beiden zu sitzen. Er warf einen Blick zu Smitty hinüber. Der schien sich prächtig zu amüsieren, denn zum ersten Mal ignorierten die Wölfe seine Schwester.
Sein Freund wandte sich ihm zu. Und sie wussten beide, dass Mace in ein paar Minuten anfangen würde, in ein paar Hundeärsche zu treten.
Dez hielt sich die Ohren zu. »Wir reden nicht darüber!«
»Aber du weißt, dass ich recht habe«, flüsterte Sissy.
»Du hast nicht recht. Du hast kein bisschen recht, und ich will nicht mehr darüber reden.«
»Doch, habe ich. Ich finde, du würdest toll aussehen in Weiß.«
»Du weißt aber schon, dass ich dich erschießen und es wie eine rechtmäßige Tötung aussehen lassen kann?«
Sissy schüttelte den Kopf. »Aber du magst mich.«
Das war’s. Dez stand auf. »Ich gehe zur Toilette.«
»Okay. Wir können über Porzellanmuster und den richtigen Blumenstrauß reden, wenn du wieder da bist.«
Zäh wie ein Hund mit einem Knochen.
Dez ging in den hinteren Bereich des Cafés zur Toilette. Sie ging in eine Kabine und beeilte sich fertig zu werden. Sie wollte zurück zu Mace. Sie fand es ziemlich unterhaltsam zuzusehen, wie er eifersüchtig wurde.
Sie wusch sich die Hände, trocknete sie ab und machte sich auf den Rückweg zu Mace und der Meute, blieb aber stehen, als eine kleine Hand sie an der Lederjacke zupfte.
Dez drehte sich um und sah ein kleines Mädchen hinter sich stehen. Seine Tränen tropften auf den Boden, und es deutete auf die Hintertür. »Bitte«, flüsterte das kleine Mädchen mit gesenktem Kopf. »Ich glaube, mein Bruder ist verletzt, und ich finde meine Eltern nicht.«
Dez kauerte sich neben sie. »Schon gut, Liebling. Zeig es mir. Und dann gehen wir deine Eltern suchen, okay?«
Das Kind führte Dez hinaus, die sich darüber wunderte, wie verdammt unverantwortlich manche Eltern waren. Es war weit nach zwei Uhr nachts. Diese Kinder sollten im Bett sein und nicht in einem Café herumhängen, während ihre Eltern taten, was auch immer sie taten.
Dez folgte dem Kind zu einem anderen kleinen Kind, das auf dem Rücken in der Gasse lag. Dez hakte ihr Handy von der Hüfte und klappte es auf, während sie das Gesicht des Kindes berührte. Sie hatte gerade die Notrufnummer gewählt, als das Kind die Augen aufriss und lächelte. Dez blinzelte.
Du lieber Himmel, sind das Reißzähne?
Dann sah Dez, wie der Boden auf sie zustürzte.
Maces Handy vibrierte an seiner Hüfte. Er zog es aus der Hülle und sah auf die Nummer des Anrufers. Er verdrehte die Augen, als er es aufklappte. »Ja?«
»Mace?«
Seine Schwester klang panisch. Sie klang sonst nie panisch. Sie erlaubte sich dieses Gefühl nicht. »Was ist los, Miss?«
»Ähm … es tut mir leid, dass ich dich das fragen muss, aber ich habe eben mit Shaw geredet, und wir wurden unterbrochen.«
»O…kay.«
»Es war die Art, wie wir unterbrochen wurden, Mace. Ich fürchte, ihm ist etwas passiert.«
Mace fing Smittys Blick auf. »Weißt du, wo er war?«
»Das ist es ja gerade, was mir Sorgen macht. Er hat mir gesagt, er sei im Chapel. Mace, das ist Hyänenterritorium.«
»Ja, ich weiß. Aber hast du ihm nicht gesagt, was ich dir über Doogan erzählt habe?«
»Ich bin nicht dazu gekommen. Er ist letzte Nacht nicht ins Haus gekommen. Er hasst all diese gesellschaftlichen Anlässe.«
Ein Mann nach Maces Herzen. »Ich geh rüber und sehe, ob ich ihn finde.«
Sie seufzte. »Danke.«
Mace klappte sein Handy zu. »Willst du Shaw babysitten gehen?«
Smitty grinste. »Hey, unser erster Auftrag!«
Selbst in Menschengestalt hatte man immer das Gefühl, Smitty wedle mit dem Schwanz.
Mace sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass Dez nicht von der Toilette zurückgekommen war. »Sissy, wo ist Dez?«
Sissy runzelte die Stirn. »Sie ist nicht von der Toilette zurückgekommen.«
»Wie lang ist sie schon weg?«
Sissy dachte kurz nach. »Eine ganze Weile.«
Nicht die Antwort, die er hören wollte.
Dez hatte schon einiges erlebt, aber von einem kleinen Kind die Treppe hinuntergeschleudert zu werden, gehörte nicht dazu.
Sie schlug auf dem Boden auf, und Schmerz schoss durch ihren linken Arm.
Sie versuchte aufzustehen, aber die kichernden kleinen Mistkröten traten sie wieder auf den Boden. Sie schlangen ihr ein raues, schweres Seil um den Hals und zerrten sie daran über den Betonboden.
Dez rang nach Luft, zog verzweifelt an dem Seil und versuchte, es zu lösen, bevor es sie erwürgte oder ihr das Genick brach. Aber sie konnte ihre Finger nicht darunterzwängen. Als ihr langsam schwarz vor Augen wurde, blieben sie stehen. Dez schüttelte den Kopf, um sich aus dem Abgrund herauszureißen, in den sie gerade fast gefallen wäre. Dann rappelte sie sich auf die Knie. Die Hände hatte sie an dem Knoten an ihrem Hals, als eine andere Hand das Seil nahm und spannte. Sie griff nach der Hand, die das Seil hielt, und sah hinauf in das bösartig verzerrte Gesicht von Anne Marie Brutale.
Die Frau grinste sie höhnisch an. »Ich werde viel Spaß mit dir haben, du Mensch.«
Mace hob Dez’ Telefon auf. Ihr letzter versuchter Anruf blinkte noch und wartete darauf, verbunden zu werden. Die Notrufnummer. »Riechst du sie?«, fragte er Smitty.
Sissy Mae stand neben ihrem Bruder. »Sie riechen jung.«
Mace schloss die Augen. Nicht gut. Alles, nur nicht das. Alles, nur keine Hyänenkinder. Jetzt verstand er. Sie hatten Dez hinausgelockt, indem sie vorgegeben hatten, unschuldige Kinder zu sein. Als Cop hätte Dez sie auf gar keinen Fall ignoriert.
Smitty drehte sich, bis er die Richtung hatte, aus der der Geruch kam. Er folgte ihm zu einer unverschlossenen Metalltür und riss sie auf. Der Gestank nach Hyäne schlug ihm entgegen und löste einen Brechreiz aus. Nichts roch so schlimm wie ihre Markierungen. Er schaute nach unten. Die Treppe schien nicht enden zu wollen. Aber er konnte Dez riechen. Hier hatten sie sie hergebracht. Er musste ihr nach, koste es, was es wolle.
»Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass da unten mindestens ein Klan Hyänen ist. Vielleicht zwei. Ich kann nicht von euch verlangen, mitzukommen. Aber …«
Mace drehte sich um und stellte fest, dass die gesamte Meute sich schon verwandelt hatte. Ihre Kleider lagen überall in der Gasse verstreut. Sie warteten nur noch auf ihn. Er hätte gelächelt, wenn er nicht solche Angst um Dez gehabt hätte.
Nun verschwendete er keine Sekunde mehr. Er verwandelte sich, schüttelte seine Kleider ab und sprang die Treppe hinunter. Seine Meute folgte ihm.
»Ich war so aufgeregt, als ich hörte, dass du und deine Katze im Village herumlauft, als gehörte es euch. Ich habe die Kinder meiner Cousine geschickt, um dich zu schnappen.«
Dez schob sich in eine sitzende Position hoch, die Wand im Rücken. Sie befand sich in einem langen Gang, aber sie wusste nicht, wo. Hätte sie raten müssen, hätte sie gesagt, unter dem Chapel. Und hätte sie nicht um ihr Leben kämpfen müssen, hätte sie es bewundert, wie die Hyänen unterirdische Tunnel benutzten.
Dez hob den Blick und sah freiliegende Rohre, stabil und in Reichweite. Außerdem gab es den ganzen Gang entlang Türen, von denen eine zu einer Abstellkammer führte.
Anne Marie hielt Dez’ Pistole in ihrem Halfter hoch. »Hübsche Waffe, Detective. Wurdest du je damit angeschossen?« Dez antwortete nicht. »Aber es wäre irgendwie lustig, oder? Ich will spüren, wie dein Fleisch unter meinen Händen reißt. Dein Blut auf meiner Zunge schmecken. Wir werden so viel Spaß miteinander haben, du und ich.«
Dez lockerte mit einer Hand das Seil um ihren Hals, während sie das andere Ende mit der anderen zu sich heranzog. »Tut mir leid mit deinem Gesicht. Hat Gina herausgefunden, was du und Doogan mit Petrov gemacht habt? Oder war das meinetwegen?«
»Hast du Schwestern, Detective?« Dez nickte. »Dann verstehst du es. Zumindest ein bisschen. Ich habe versucht, die Familie zu schützen. Erst schleppt sie diesen Idiot Petrov an, dann lässt sie dich in unseren Club, obwohl du nach Löwe riechst, und da glaubt sie, ich lasse das durchgehen? Weil sie herausfinden will, wer ihren beschissenen Katzenfreund umgenietet hat?« Anne Marie stand jetzt vor ihr. Dez erhob sich auf die Füße und sah der verrückten Schlampe in die Augen.
»Aber um sie kümmere ich mich später. Denn zuerst …«, flüsterte Anne Marie, »zuerst tue ich dir weh.«
Dez wusste, dass sie nur eine Chance hatte, also musste sie das Beste daraus machen. Sie versetzte ihr einen Kopfstoß. Anne Marie taumelte rückwärts, Dez’ plötzlicher Angriff hatte sie überrascht. Dez zog die Schlinge über ihren Kopf und ging auf Anne Marie zu. Sobald sie nahe genug war, schlug sie zu. Ein rechter Haken an den Kiefer. Anne Marie stolperte noch ein paar Schritte rückwärts, dann griff Dez nach der misshandelten Gesichtshälfte der Frau und grub die Finger in die verletzte Haut. Sie erwischte sie mit festem Griff an der Wange, drehte die heulende, schreiende Frau herum und knallte sie mit dem Gesicht voraus an die Wand.
Die Luft um sie herum veränderte sich – und Anne Maries Geruch wurde intensiver, als ihr Körper sich verwandelte. Dez schlang das Seil um Anne Maries Hals und zog es genau in dem Moment zu, als der Körper der Frau sich zu verwandeln begann. Sie schlug sie nieder und stellte einen Fuß auf ihren Rücken, um sie festzuhalten. Dann hob sie den anderen Fuß und trat damit kräftig auf Anne Maries Hand, sodass all ihre langen Nägel brachen. Sie tat dasselbe mit der anderen Hand.
Anne Marie heulte vor Wut und vollendete ihre Verwandlung, um Dez in Stücke zu reißen. Doch als Hyäne war ihr Körper nicht größer als Dez’ Hunde. Dez hatte mit ihren Hunden nie das gemacht, was sie jetzt tun musste, aber es war Zeit, es auszuprobieren.
Ja. Es war Zeit, mit Anne Marie Brutale einen Spaziergang zu machen.
Mace blieb am Fuß der Treppe stehen; die Meute versammelte sich um ihn. Warum zum Teufel roch er Löwe? Er warf Smitty einen Blick zu und merkte, dass der es auch roch. Nach einem kurzen Moment wurde ihm bewusst, dass er sowohl Shaw als auch Doogan und seine Brüder roch. Als hätte er Zeit, sich mit diesem kleinen Problem zu befassen. Es wurde langsam verflucht kompliziert.
Er schaute den langen Gang entlang und stellte fest, dass sie sich in einem der berüchtigten Hyänentunnel befanden. Er wusste, wenn er diesem Tunnel folgte, würde er ihn bis in den Chapel Club führen. Knurrend rannte er in die Dunkelheit; Smitty und seine Meute hinterher.
Zum Glück war ihr linkes Handgelenk nicht gebrochen. Es tat höllisch weh, aber wenn es gebrochen gewesen wäre, hätte sie Brutale nie wie einen ihrer Hunde herumschwingen können.
Sobald Anne Marie mit ihrer Verwandlung fertig war, nahm Dez das Seil fest in die Hand und schwang Brutale durch die Luft gegen die Wand. Ihr Hyänenkörper prallte ab, aber Dez benutzte den Schwung, um sie an die gegenüberliegende Wand zu schleudern. Diesmal war die Bestie betäubt. Sie hörte, wie die Luft aus Anne Maries Lungen strömte.
Die wenigen wertvollen Sekunden nutzend, die sie gewonnen hatte, warf Dez das Ende des Seils über eines der freiliegenden Rohre über ihrem Kopf, direkt neben der Abstellkammer. Sie schnappte das Ende und riss es herunter.
Dann zog sie, bis Brutale in der Luft hing. Gut einen Meter über dem Boden. Zufrieden, dass Anne Marie nirgendwohin konnte, versuchte Dez, die Tür der Abstellkammer zu öffnen. Abgeschlossen. Also trat sie dagegen. Die Tür war nicht besonders stabil, splitterte und gab nach. Sie betrat den Raum und entdeckte sofort, was sie brauchte. Ein großes, schweres Metallregal stand an einer Seite des Raums. Dez band das Seilende um eines der Regalbeine. Sie überprüfte, dass es fest saß und das unterste Regalbrett dafür sorgte, dass das Seil nicht hochrutschte. Dank des straff gespannten Seils würde Brutale so lange dort hängen, bis jemand sie losband.
Dez schnappte sich ihre Waffe und rannte den Gang entlang, wobei sie sich immer wieder sagte, dass Brutale sie an ihrer Stelle auch nicht hätte leben lassen.
Mace blieb neben dem aufgehängten Leichnam einer Hyäne stehen. Er stieg auf die Hinterbeine und schnüffelte an ihr. Es roch schwach nach Dez, und er wusste, dass das ihr Werk war.
Er folgte Smitty und der Meute, blieb aber stehen, als er sah, was sie anstarrten.
Der Gang gabelte sich in vier Richtungen. Und überall roch es nach Dez.
Sissy Mae schickte mehrere ihrer Frauen in einen Tunnel. Smitty schickte ein paar Frauen samt seiner Schwester und ein paar Männer in zwei andere Tunnel.
Mace machte einen Schritt auf den letzten Tunnel zu, hielt aber inne, als er merkte, dass jemand ihn beobachtete. Er sah ein hübsches kleines Mädchen, nicht älter als ungefähr acht, das ihn anstarrte. Es sah zu der Hyäne hinauf, die von den Rohren hing, dann zurück zu Mace, und mit einem atemberaubenden Lächeln, wie es nur Hyänenkinder besaßen, drehte sie sich plötzlich um und schrie: »Giiinaaaaa!«
Mist! Mace und Smitty wechselten einen Blick, dann rannten sie den vierten Tunnel entlang.
Eine Hyäne allein konnte schon genug Schaden anrichten. Aber ein Klan von vierzig oder sogar achtzig? Er musste Dez erwischen, bevor sie mitten unter sie geriet oder sie sie fanden. Sonst waren sie alle tot.
Sie bog um eine Ecke und stand vor einer weiteren Reihe langer Gänge. Was für ein verdammtes Labyrinth. Ein hell erleuchtetes, verwirrendes Labyrinth. Jede Ecke, um die sie bog, führte nur in eine weitere Reihe von Gängen. Wenn sie einen wählte, führte er sie zur nächsten Ecke mit der nächsten Reihe von Gängen und so weiter und so weiter.
Himmel, wo war sie hier hineingeraten?
Sie blieb stehen und holte Luft. Jawohl. Sie hatte sich verlaufen. Sie hätte zu ihrem Handy gegriffen, aber das hatte sie ja in der Gasse hinter dem Coffeeshop fallen gelassen.
Sie holte noch einmal tief Luft. Sie würde jetzt nicht in Panik geraten. Sie würde hier herauskommen. Zum tausendsten Mal schüttelte sie ihre linke Hand aus. Der Schmerz im Handgelenk war inzwischen zu einem dumpfen Pochen geworden.
Dez ging einen weiteren Gang entlang. Sie staunte über die Stille. Hätte sie nicht gewusst, dass sich direkt über ihr ein Club befand … zum Henker, sie konnte nicht einmal den Bass der Lautsprecher ausmachen. Es schien, als seien die Wände alle isoliert.
Natürlich fühlte sie sich dadurch kein Stück besser. Denn niemand würde ihre Schreie hören.
Sie kam an eine neue Ecke und blieb stehen. Am Ende des einen langen Gangs hörte sie Männer streiten.
Sie ging eilig auf das Geräusch zu und zog gleichzeitig ihre Glock aus dem Halfter. Sie hatte keine Ahnung, was sie vorfinden würde, aber Dez bereitete sich darauf vor, entweder zuckersüß zu sein, zu drohen oder ihnen die Köpfe wegzupusten. Was auch immer nötig war, um verdammt noch mal hier herauszukommen.
Sie folgte den Stimmen. Ihr Körper war angespannt, die Pistole hielt sie fest in beiden Händen und vom Körper weg. Sie drückte sich mit dem Rücken an die Wand, als der Streit gewalttätig wurde. Jemand wurde nach allen Regeln der Kunst verprügelt.
»Tu’s! Tu’s!«, knurrte eine tiefe Stimme.
Sie bog um die Ecke und hob die Waffe. Rasch überblickte sie den Schauplatz. Ein Mann lag am Boden, ein großer Stiefel auf seiner Schulter hielt ihn unten. Der Stiefel gehörte Patrick Doogan. Diesmal erkannte sie ihn sofort. Einer seiner idiotischen Brüder hielt eine 45er auf den Hinterkopf des Opfers gerichtet. Der dritte Bruder kauerte neben ihm, mit der nicht geschienten Hand hielt er die goldenen Haare des Opfers fest und zog seinen Kopf hoch, um ihm ins hübsche Gesicht zu spucken.
Verdammt, selbst ihr Gewehr hätte hier nichts genützt. Sie brauchte ihre M-16. Die hatte sie aber auch nicht dabei.
Als Cop hätte sie schreien müssen: »Keine Bewegung! Hände über den Kopf und weg von dem gutaussehenden Typen!«
Drauf geschissen. Sie erinnerte sich, wie schnell sich Mace und Brutale bewegten. Gegen diese drei hatte sie keine Chance.
Also schoss Dez ohne Warnung auf den Mann mit der Waffe. Die Kugel traf ihn in die Schulter, riss ihn zurück, und die Pistole flog ihm aus der Hand. Die anderen beiden waren so verblüfft, dass sie von ihrem Opfer wegsprangen. Sie waren zwar bewaffnet, aber sie hatten noch nicht nach ihren Waffen gegriffen, hauptsächlich, weil sie sie hinten in ihre maßgeschneiderten Hosen gesteckt hatten.
»Aufstehen!«
Das Opfer sah sie an, und sie erkannte sofort Brendon Shaw.
»Na los!«
Sie würde nicht näher herangehen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie nicht doch zu viel von ihm verlangte. Er war schwer verprügelt worden und musste sich gewehrt haben. Aber er schaffte es irgendwie, auf die Beine zu kommen, und stolperte zu ihr herüber.
»Gehen Sie weiter.«
Er tat wie befohlen. Dez ging rückwärts zurück und sah dabei Patrick Doogan in die Augen.
»Ich finde dich, du Schlampe. Ich finde dich und ficke dich und töte dich.«
Dez machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Warum auch? Sie wusste, dass er es ernst meinte.
Stattdessen ging sie weiter zurück, bis sie um die Ecke war. Sie packte Shaw an der Jacke und zog daran, aber er rührte sich nicht.
Als sie sich umdrehte, stockte ihr der Atem. Sie sahen sie alle mit kalten braunen Augen an.
Plötzlich kam eine Hyäne von ganz hinten. Die anderen wichen zur Seite und machten ihr einen Weg frei. Sie kam zu Dez und blieb vor ihr stehen. Sie hatte einen toten Hyänenkörper im Maul, das Seil hing immer noch um deren Hals.
Sie wusste, dass es Gina war. Vor allem, als sie Dez den Leichnam vor die Füße spuckte.
»Sagen Sie mir, dass das nicht Sie waren«, flüsterte Shaw kraftlos, höchstwahrscheinlich, weil er so viel Blut verloren hatte.
»Ich wünschte wirklich, dass ich das könnte.«
»Verdammt.« Er versuchte, sie hinter sich zu schieben. Eine überraschend heroische Geste von jemandem, den sie in Gedanken als »reichen Drecksack« bezeichnet hatte, seit er kürzlich das Gespräch mit ihren Brüsten geführt hatte.
Sie wusste seinen Versuch, sie zu beschützen, wirklich zu schätzen, aber inzwischen waren sie über galante Gesten hinaus. Tatsächlich gingen ihr ständig die Worte »total am Arsch« durch den Kopf.
Dez schnappte Shaw an der Jacke und machte einen Schritt rückwärts, aber von hinten kamen die Doogan-Brüder. Mit rasch wachsender Verzweiflung wurde ihr bewusst, dass sie zwischen den beiden Gruppen in der Falle saß. Beide wollten sie tot sehen.
Andererseits natürlich … sie waren immer noch Todfeinde. Und nicht nur, weil sie Löwen und Hyänen waren. Sondern aus einem ganz anderen Grund.
Dez stellte sich vor Shaw. »Gina.« Die Leithyäne beobachtete sie scharf und wartete darauf, dass sie davonrannte. Wartete auf die Jagd. »Du wolltest wissen, wer deinen Mann umgebracht hat.« Dez trat zurück und deutete auf die drei Männer hinter sich. »Sie waren es.«
Gina Brutale sah Patrick Doogan in die Augen. Er konnte die Wahrheit nicht verbergen. Vor keinem von ihnen. Seine Reißzähne wuchsen, während er und seine Brüder zurückwichen. Gina beobachtete ihn einen Augenblick, genoss die Erkenntnis der drei, dass sie schrecklich in der Unterzahl waren. Sie machte das Maul auf und stieß einen Laut aus, der Dez das Blut in den Adern gefrieren ließ und den Wunsch zu weinen in ihr weckte. Es klang fast wie Gelächter, das war es aber definitiv nicht.
Doogan und seine Brüder rannten davon, als die Hyänen auf sie zustürmten.
Kaum waren die beiden Gruppen um die Ecke verschwunden, packte sie wieder Shaw am Kragen und zwang den Mann, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen. Shaw hatte viel Blut verloren, aber das war ihr egal. Er würde noch viel mehr verlieren, wenn diese Löwen davonkamen oder die Hyänen der Blutrausch überkam und sie nach weiteren Opfern suchten.
Dez konnte den Kampf schon hinter sich toben hören. Drei männliche Löwen gegen schätzungsweise dreißig oder vierzig Hyänen. Ja. Viel Glück dabei.
Natürlich gab es noch ein kleines Problem, was ihre Flucht anging. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wie zum Henker sie hier herauskommen sollten.
Na großartig, Dez. Sie warf einen Blick zurück zu Shaw. Er sah nicht gut aus.
»Können Sie uns hier herausführen?« Als er stehen blieb und auf die Knie sank, dachte sie sich, dass das wohl nein hieß.
»Mr. Shaw, Sie müssen aufstehen. Sofort.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Ich kann Sie nicht tragen, Mr. Shaw.«
»Vergessen Sie mich. Gehen Sie.«
Er versuchte also schon wieder, den Helden zu spielen. Als hätte sie Zeit für so etwas. »Ich kann Sie nicht hierlassen, Mr. Shaw.« Himmel, sie war wirklich wieder in den Kampfmodus übergegangen. Na ja, zumindest ging sie nicht drauf.
Dez hörte ein Geräusch auf dem Betonboden. Da sie eher faul war, wenn es darum ging, ihren Hunden die Krallen zu stutzen, kannte sie dieses Geräusch. Sie kauerte sich nieder, die Pistole auf ein Knie gestützt. Sie riss gerade noch rechtzeitig den Finger vom Abzug und atmete zitternd aus.
Keine Hyäne. Ein Wolf.
»Sissy Mae?« Der Wolf jaulte als Antwort. »Ich habe mich verlaufen, und er kann nicht mehr.«
Sie hörten weitere Schreie, Gebrüll und dieses verstörende Heulen, das klang wie hysterisches Gelächter.
Sissy Mae legte den Kopf zurück und heulte. Sie rief ihre Meute. Dez nahm Shaws Arm. »Stehen Sie auf, Mr. Shaw. Wir müssen weiter.«
Er tat sein Bestes, rappelte sich hoch und lehnte sich an die Wand. Als er auf seinen eigenen wackligen Beinen stand, zog Dez ihn an Sissy Mae vorbei. Als sie um die Ecke bog, stürmten sechs Wölfe an ihr vorbei. Zwei blieben stehen und verwandelten sich in Männer zurück.
Nackte Männer. Sie schüttelte den Kopf. Nein, keine Zeit, wollüstig zu werden. Ehrlich, was zum Henker war bloß los mit ihr?
»Er schafft es nicht. Nehmt ihr ihn.« Sie packten Shaw und schleppten ihn weg. »Na los, komm!«, riefen sie Sissy Mae zu.
Sissy folgte den Männern. Nach kurzer Zeit hörte sie Hundekrallen auf dem Beton, als sie zu ihr aufschlossen.
Nach ein paar Wegbiegungen fanden sie den Ausgang, durch den Dez gekommen war. Die Wölfe zerrten Shaw die Treppe hinauf. Sie hörte noch mehr Geräusche. Noch mehr Wesen kamen auf sie zugerannt, und es waren keine Menschen.
Sie hob die Waffe. »Sissy, geh!« Sissy schoss die Stufen hinauf, als weitere Wölfe aus anderen Gängen kamen. Sie alle rannten an ihr vorbei die Treppe hinauf. Da sah sie sie. Die Hyänen waren wieder da. Nicht alle, aber ziemlich viele. Blutverschmiert. Sie zählte eilig. Nein. Sie hatte nicht genug Kugeln für alle.
Dann stellten sich plötzlich ein Löwe und ein Wolf vor sie hin. Mace brüllte, und die Hyänen machten alle ein seltsames jaulendes Geräusch, rannten hin und her, suchten offenbar einen Weg, um zu ihr zu gelangen. Eine Öffnung, die sie benutzen konnten.
Smitty knurrte, und seine Eckzähne blitzten auf, als er nach den Hyänen schnappte.
Mace machte einen Schritt zurück und schob sie mit dem Körper in Richtung Treppe. Doch bevor Dez fliehen konnte, kamen noch mehr Hyänen aus einem anderen Gang. Der einzige Grund, warum sie stehen blieben, war, dass sie ihre Waffe auf sie richtete.
Das war nicht gut. Irgendwann würden die Hyänen sie alle drei überrennen, und das war’s dann.
Dez suchte verzweifelt nach einem Ausweg, durch den sie alle am Leben blieben, als sie bemerkte, dass Gina in Hyänengestalt langsam um die Ecke kam, die Leiche ihrer Schwester immer noch im Maul. Eine andere Hyäne, die neben ihr stand, stieß einen lauten Ruf aus, und da drehten sich die restlichen Hyänen, die Mace und Smitty in Schach gehalten hatten, um und jagten in die entgegengesetzte Richtung. Die, die vor Dez standen, rannten einfach davon.
So schnell war es zu Ende.
Gina sah Dez an; ihre Augen sandten eine deutliche Botschaft: Sie würde Dez gehen lassen, weil sie ihr einen Gefallen getan hatte. Sie hatte das Einzige, das zwischen Gina und der absoluten Herrschaft über die Brutale-Familie stand, ausgeschaltet und ihr diejenigen geliefert, die ihren Liebhaber getötet hatten.
Gina drehte sich um und trottete den Flur entlang, die Leiche ihrer Schwester als Trophäe im Maul.
Okay. Dez hatte genug von tierischen Nächten in New York. Sie drehte sich um und rannte die Treppe hinauf. Als sie zur Tür kam, packten sie starke Hände von hinten und schoben sie hinaus auf die Gasse.
Der einladende Geruch nach geröstetem Kaffee, Muffins, Abwasser und einem leichten Regenschauer stürmte auf sie ein. Sie hätte am liebsten tief Luft geholt und die kalte Luft genossen, doch die Arme, die sie festhielten, begannen, sie zu Tode zu quetschen. Hätte sie den Körper, der zu diesen Armen gehörte, nicht erkannt, wäre sie vielleicht besorgt gewesen.
Stattdessen konnte sie nur einfach nicht atmen.
»Ich glaube, du bringst sie um, Mace.«
»Gut.« Er drückte sie noch fester an sich und vergrub das Gesicht in ihren Haaren.
Dez winkte Smitty verzweifelt zu. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die wieder Menschengestalt angenommen hatte, war Smitty immer noch nackt. »Hilf mir«, brachte sie gerade noch heraus.
»Tja, Schätzchen, was hast du erwartet? Wegen dir waren wir krank vor Sorge!«
»Das ist nicht hilfreich«, quiekte sie.
Die Tür knallte zu, und Dez fühlte sich endlich sicher.
Sissy Mae schüttelte den Kopf, als sie ihrem Bruder eilig seine Kleider reichte. »Ich glaube, sie haben noch ein paar andere Löwen. Ich habe es gehört.« Als er angezogen war, umarmte Smitty seine Schwester brüderlich und herzlich.
»Das ist nicht unser Problem. Und gut gemacht, kleine Schwester.«
Das Mädchen glühte vor Stolz über die Worte ihres Bruders. Oder es sah nur so aus, als glühte sie, weil Dez verdammt noch mal keine Luft bekam!
»Sterbe immer noch!«
Mace ließ sie endlich los, und sie atmete ein paar Mal tief und gierig ein. Er drehte sie herum, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »Das war’s! Keine Hilfe mehr für fremde Kinder, die du nicht kennst!«
Dez machte sich von ihm los, ihr Atem ging immer noch stoßweise, während das Adrenalin langsam aus ihrem Körper strömte. »Bist du verrückt? Ich bin ein Cop. Wenn ein Kind zu mir kommt, helfe ich ihm. Also schlag dir das verdammt noch mal aus dem Kopf!«
Mace holte tief Luft, und seine goldenen Augen durchbohrten sie. Nach einer Weile sagte er: »Na gut. Aber nächstes Mal vergewisserst du dich, dass sie keine Reißzähne haben.«
Dez grinste. »Das kann ich machen.«