36
Doktor Annibale Cason wanderte bei Sonnenuntergang durch San Marco.
Seine Schnabelmaske fiel inmitten der Feiernden, die sich auf das Markusfest vorbereiteten, kaum auf. Neben ihm ging sein Assistent, ein junger Mann, der genauso groß war wie der Arzt und die Tasche seines Herrn trug. Er war in einen schlichten dunklen Gehrock, Kniehose und ein Batisthemd ohne Halstuch gekleidet und hatte keinen Hut auf seinen Locken, doch die Frauen drehten sich trotzdem nach ihm um, denn in diesen Zeiten war er eine wahre Augenweide.
Der heutige Markustag war auch als Festa del Bocolo bekannt, das Fest der Rosenknospen, denn an diesem Tag überreichten Männer den Mädchen, die ihnen gefielen, langstielige Rosen. Offensichtlich hatte die Pest dieser Tradition keinen Abbruch tun können. Die venezianischen Mädchen und auch die erwachsenen Frauen, selbst die, die bereits eine Rose erhalten hatten, bedachten Annibale mit koketten, die erfahreneren unter ihnen gar mit hungrigen Blicken. Es erinnerte ihn daran, warum er überhaupt begonnen hatte, die Schnabelmaske anzulegen. Während er vorüberging, fielen den Frauen ihre Rosen aus den Händen und wurden unbemerkt unter den zahlreichen Füßen zertreten.
Sie waren bis spät in die Nacht aufgeblieben, und Feyra hatte Annibale alles erzählt – von dem Tag, an dem ihre Mutter und ihr Vater sich in Paros kennengelernt hatten, über das Sterbebettgeständnis ihrer Mutter, bis hin zu dem Tag, an dem sie ihren Vater begraben hatte. Sie erzählte ihm von dem Ring mit den vier Pferden, ihrer Mission, dem Dogen Bericht zu erstatten, und von Takat Turan, der von Giudecca verschwunden und früher an diesem Abend wie ein Geist wieder aufgetaucht war. Er hatte der Geschichte verblüfft gelauscht, beschämt darüber, dass sie diese Bürde alleine hatte tragen müssen. Sie hatte ihm kleinlaut gestanden, welche Rolle ihr Vater in diesem Plan gespielt hatte, und er hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen und ihr versichert, dass sie keine Schuld an dem Verbrechen ihres Vaters und dem Unheil trug, das über die Stadt hereingebrochen war. Seit sie nach Venedig gekommen war, hatte sie ständig versucht, Wiedergutmachung zu leisten, und als sie ihn dann bat, weiteres Blutvergießen zu verhindern, konnte er nichts anderes tun, als ihr zu helfen.
Verwirrt darüber, wie anders sie die Welt durch die Augengläser des Arztschnabels wahrnahm, achtete Feyra sorgfältig darauf, wo sie ihre Füße hinsetzte. Sie sah die Stadt so, wie er sie sah, und das empfand sie als beunruhigend. Der Abstand, den der Schnabel zwischen einem Arzt und seiner Umwelt schuf, erschien ihr wie eine sehr große Kluft. Kein Wunder, dass Mitgefühl selten über den Rand der Maske hinausdrang.
Sie näherten sich dem Campanile. Am Fuß des großen roten Glockenturms stand ein vergoldeter Käfig von der Größe einer Barke. Darin schritt ein großer Löwe auf und ab, das Fleisch gewordene Symbol Venedigs. Feyra blieb stehen, um das Ungeheuer eingehender zu betrachten. Das Fell war struppig und scheckig, anstatt golden zu glänzen, und die zottige Mähne wirkte flohverseucht und räudig. Nur die Augen glänzten, weil sich das Licht der sinkenden Sonne darin fing und sie so bernsteinfarben schimmern ließ wie ihre eigenen, aber nichts konnte über das Elend des Tieres hinwegtäuschen.
»Das ist der Löwe des heiligen Markus«, sagte Annibale. »Der Consiglio hält hier dauerhaft ein lebendiges Exemplar. Wenn dieser stirbt, besorgen sie einen neuen. Er soll«, fügte er voller Ironie hinzu, »der Stadt Glück bringen.«
Feyra hätte nie gedacht, Mitleid mit ihrer Nemesis empfinden zu können, aber sie hatte auch nicht gewusst, dass ein Löwe so aussehen konnte. Er wirkte bereits besiegt. Sie wandte sich ab, und sie und Annibale überquerten die breite Straße zum Dogenpalast.
Gemeinsam erreichten sie die weiße Treppe mit den beiden Wache stehenden Alabasterriesen, die aus leeren Marmoraugen auf sie hinabstarrten. Als sie die Stufen emporstiegen, zitterten Feyras Knie leicht, weil sie sich an das erste Mal erinnerte, als sie diese Treppe erklommen hatte, und die beiden Wachposten wiedererkannte, die sie damals verfolgt hatten.
Oben angekommen, berührte Annibale seine Stirnlocke und wandte sich an die beiden Wächter, die ihm mit gekreuzten Hellebarden den Weg versperrten. »Dottore Annibale Cason bittet um eine Audienz beim Dogen«, sagte er unterwürfig.
Die Wächter blickten nicht ihn, sondern Feyra mit der Schnabelmaske an. »Euer Zeichen, Signor Dottore«, verlangte einer.
Feyra hielt ihm das Siegel des Dogen hin, das auf der Handfläche ihres schwarzen Handschuhs schimmerte. Der Wächter griff danach und drehte es um. Sie betrachtete die Metallscheibe gemeinsam mit ihm; den Dogen und den heiligen Markus auf der einen und den Hirtenpropheten alleine auf der anderen Seite, wie auf dem Dukaten, den sie unter ihrem Arztumhang in der Bandage trug, die ihre Brüste flachpresste.
Sie wartete. Sie konnte nicht glauben, dass sie endlich doch noch den Dogen sehen würde. Sebastiano Venier, Admiral von Lepanto und Herzog von Venedig: ihr Großonkel.
Zu Feyras Überraschung reichte das Siegel aus, die Hellebarden wurden gesenkt und sie beide durchgewunken. Einer der Wächter bedeutete einem Diener in einer weinroten und goldenen Livree, ihnen den Weg zu weisen. Sie fühlte einen leichten Stoß im Rücken und ging voraus, da ihr wieder einfiel, dass sich Annibale als ihr Diener hinter ihr halten würde. Beim Gehen wiederholte sie im Geist die Geschichte vom Tod ihrer Mutter, dem Sarkophag auf dem Schiff, ihrem Vater und Takat Turan und dem nahenden Feuer.
Der Diener führte sie durch einen palastartigen steinernen Gang, der sich in einen riesigen Saal öffnete. Feyra hatte im Topkapi-Palast viele Wunder der Baukunst gesehen, war aber nie in einem solchen Raum gewesen: Dieser einzelne Saal war so groß wie das Innere der Hagia Sophia. Jeder Zoll der Wände war mit ländlichen Szenen bedeckt, die Decke passend dazu in einen tiefblauen, mit Sternen übersäten und mit pausbäckigen Engeln geschmückten Himmel verwandelt worden. Hoch in den Wolken prangten die Bilder von Dutzenden von Dogen mit Schriftrollen an den Hälsen, auf denen ihr Geburts- und Todesdatum vermerkt war. Feyra erschauerte. Wenn es ihr nicht gelang, dem Dogen ihre Botschaft auszurichten, könnte er sich zu seinen Vorgängern gesellen, mit dem heutigen Tag als Todesdatum.
In einer unsichtbaren Kammer ertönten Schritte, die Tür wurde geöffnet, und ihr Herz machte einen Satz. Dann keimte Hoffnung in ihr auf und erstarb wieder, als der Camerlengo den Raum betrat.
»Dottore Cason?«, sagte er. Feyra erinnerte sich von dem Verhör her, dem er sie in Palladios Haus unterzogen hatte, an seinen wohlmodulierten Tonfall: der Mann, der in Fragen sprach. Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie nickte und der Schnabel fuhr vor ihrem Gesicht hinab wie eine Henkersaxt.
»Kommt Ihr wegen des Architekten? Stimmt etwas nicht?«
Sie schwieg, und auch Annibale konnte nicht antworten, denn dann hätte der Camerlengo gemerkt, dass er der echte Arzt war. Sie schüttelte den Kopf, wobei der Schnabel diesmal hin und her schwang. Ihr Herz hämmerte so stark, dass sie es innerhalb der Maske hören konnte. Einen Moment lang herrschte bedrückende Stille, während der Camerlengo ungeduldig mit den Füßen scharrte. »Wie Ihr wisst, fungiere ich sozusagen als Sprachrohr zwischen der Welt und Seiner Exzellenz. Mein Herr wird gleich erscheinen, aber dürfte ich zuerst erfahren, was Euch hierherführt?«
Feyra spürte, wie Annibale sie am Arm zupfte. Sie erwog, den Schnabel abzunehmen und sich an dem Camerlengo vorbeizudrängen oder in Richtung der Schritte zu rennen, die sie jetzt näher kommen hörte. Doch just in diesem Moment brach links von ihr ein Tumult aus.
In einer kleinen Tür, die zu dem zierlichen Steinbogen einer Brücke führte, erschien die massige Gestalt eines Wächters. Er zerrte einen an ihn geketteten Gefangenen hinter sich her, und ein weiterer Wächter folgte ihm. Der Camerlengo drehte verärgert den blonden Kopf zu ihm. »Entschuldigt Ihr mich einen Moment?«, fragte er. »Ein Gefangener, der verhört werden muss. Bringt ihn in die Kammer und wartet dort auf mich«, befahl er dem Wächter. Nichts in seiner Stimme verriet, was dem Gefangenen bevorstand. »Ist dir nicht klar, dass mein Herr, der Doge, hier gleich eine Besprechung hat? Glaubst du, wir können so eine Störung gebrauchen?«
Auch Feyra drehte sich um. Annibale zog sie erneut am Arm. Er wollte die Ablenkung zur Flucht nutzen.
Die Schritte des Dogen wurden lauter.
Der Gefangene kam in Sicht. Seine Augen glühten, und sie wusste Bescheid.
Während sie ihn voller Entsetzen beobachtete, schien das Feuer in seinen Augen sein Herz in Brand zu setzen, und sein Wams explodierte. Das Feuer rann an seinen Armen hinunter, und der Wächter, an den er gekettet war, schrie gellend auf, als das Naphtha seinen Körper verschlang. Der unselige Mann rannte, seinen brennenden Gefangenen hinter sich herziehend, zu den voluminösen Vorhängen am Fenster, riss den Samt herunter und hüllte sie beide darin ein, als die Flammen sie umzüngelten. Doch die Vorhänge fingen gleichfalls Feuer, und die Flammen schossen von ihnen zu der bemalten Decke hoch, wo die Farbpigmente in Brand gerieten und feurige Tropfen auf die unten Stehenden herabregneten.
Als Annibale sie wegzerrte, sah Feyra den Camerlengo in die innere Kammer stürzen und erkannte hinter der Tür eine schattenhafte Gestalt mit einem hohen weißen Hut, bevor Rauchwolken die Sicht auf die beiden Männer versperrten.
Während ihrer Flucht aus dem Saal vergaßen Feyra und Annibale ihre Tarnung und brüllten allen, die ihren Weg kreuzten, zu, sofort den Palast zu räumen. Annibale schob sie auf die große weiße Treppe zu, und sie polterten die Stufen hinunter. Gerade als sie den Fuß der Treppe erreichten, fiel Feyra ein, dass die Küchenmeister beim letzten Mal, als sie hier gewesen war, Brot für die Armen gebracht hatten.
Sie packte Annibale am Arm. »Die Dienstboten!«, übertönte sie die Schreie und den Rauch. Sie stürmten in die Keller und Küchen des Palastes zurück, schlugen Alarm und scheuchten die Legionen von Dienern auf den Platz hinaus. Draußen schlug ihnen eine Kakophonie von Schreien und Rufen, Glockengeläut und hervorgestoßenen Gebeten entgegen, und über allem dröhnte das albtraumhafte Gebrüll des Löwen des heiligen Markus.
Feyra und Annibale drehten sich um, um das Inferno zu betrachten. Das Maßwerk der Palastfenster bildete jetzt schwarze Spitzensilhouetten vor dem Hintergrund der topasfarbenen Flammen. Die weißen und roten Ziegel verfärbten sich ebenfalls rasch schwarz. Feyra war nie zuvor bewusst gewesen, wie laut Feuer sein konnte; dass Flammen lauter zu brüllen vermochten als ein Löwe, dass Holz kreischte, wenn es sich verzog und zerfiel, dass Glas quietschte, wenn es schmolz. Der auf eigenartige Weise schöne und zugleich furchtbare Anblick hypnotisierte sie, sie konnte den Blick nicht davon abwenden, obwohl die durch die Luft wirbelnde Asche in ihren Augen brannte. Sie konnte nichts tun, um dem Dogen zu helfen, obwohl sie gesehen hatte, wie der Camerlengo losgerannt war, um ihn zu retten. Es war die Stadt selbst, die jetzt in höchster Gefahr schwebte. Sie hätte sich abwenden und mit Annibale fliehen können, aber sie wusste, dass dies keinem von ihnen einfallen würde. Sie waren Heiler und Lebensretter, und das Inferno befahl ihnen laut, zu bleiben. In stummer Übereinkunft drängten sich Annibale und Feyra zum Rand der Lagune durch, um bei der Bekämpfung der Feuersbrunst zu helfen, und reihten sich in die rasch wachsende Eimerträgerkette ein.
Die Löscharbeiten wurden bereits von einem hoch gewachsenen Mann mit weißem Haar und weißem Bart geleitet, dessen lange Gewänder zerfetzt, rußgeschwärzt und am Saum zerschlissen waren wie die eines Hausierers. Er hätte ein Priester oder Eremit sein können, aber er befehligte die Helfer wie ein General seine Armee, und wie ein guter General erteilte er nicht nur Befehle, sondern befand sich mitten im Getümmel und am dichtesten bei dem Feuer. Feyra folgte seinem ausgestreckten Arm, schob sich zwischen ihm und Annibale in die Reihe und half, Eimer mit Salzwasser weiterzureichen.
In diesen Stunden, während derer ihre Armmuskeln zu schmerzen begannen und sich Blasen an ihren Händen bildeten, begann sie den Kameradschaftsgeist der Menschen zu bewundern, der sich in den Scharen von Venezianern ausdrückte, die aus allen Teilen der Stadt herbeigeströmt waren, um mit anzupacken. Als die Bemühungen, das Feuer einzudämmen, verstärkt wurden, wanderten nicht nur Eimer durch Feyras erschöpfte Hände, sondern auch Krüge, Nachttöpfe und sogar ein Kinderbadezuber. Das Feuer, das große Drama, das sich vor ihr abspielte, während der riesige weiße Palast brannte, schrumpfte jetzt auf diese einfachen Haushaltsbehältnisse zusammen, und durch die gesprungenen Krüge und Taufbecher mit dem eingravierten Namen ihrer Kinder darauf lernte sie diese Menschen kennen.
Als die nicht enden wollende Nacht sich hinzog, schlief Feyra fast im Stehen ein. Ihr Gesicht brannte in der Hitze des tobenden Feuers. Die Schnabelmaske war schon lange verschwunden, verbrannt oder zertrampelt, oder sie wurde zum Wasserschöpfen benutzt, sie würde es nie erfahren. Das kalte Wasser, das aus den Eimern schwappte, hatte ihre Füße zu Eisblöcken erstarren lassen. Aber es sah so aus, als würde sich das Feuer allen Anstrengungen zum Trotz ausbreiten, und endlich wandte sich der weißhaarige General an die Menschenkette. »Das Feuer wird auf die Basilika übergreifen!«, donnerte er. »Wir müssen das Kontor abreißen! Zu mir, Männer! Bringt Hämmer und Rammböcke!«
Von da an verlief die Nacht anders. Die Männer begannen wie entfesselt die antiken Mauern der alten Zecca, die Münzanstalt und das Kontor zu zerstören. Die alten Steine wurden unter ihren Händen niedergerissen, bis sich eine Bresche vom gelben Himmel abhob, eine Bresche, die das Feuer nicht überspringen konnte.
Feyra hielt verzweifelt nach Annibale Ausschau und erblickte ihn ein- oder zweimal in der Masse der Männer, von Rauch eingehüllt und so schwarz im Gesicht wie ein Mohr. Sie warf ihren Umhang ab und leitete die Frauen in der Eimerkette an, die ihre Anstrengungen verdoppelten, um das Fehlen der Männer auszugleichen. Zwischen den Löscharbeiten versorgte sie auch noch Verletzungen, wo sie nur konnte: leichte Brandwunden, rauchvergiftete Lungen und einmal sogar die stark blutende Kopfwunde einer Frau, die von einer herabgefallenen Bleiglasscheibe getroffen worden war.
Als sie sich wieder in die Kette einreihte, wurde sie sich der Ironie ihres Tuns bewusst. Sie kämpfte zusammen mit diesen Menschen darum, ihre große goldene Kirche zu retten, eine Kirche, auf deren Galerie die vier Bronzepferde im Feuerschein golden schimmerten. Als Feyra sah, wie sich die Tiere über den Flammen aufbäumten, wusste sie, dass dies ihr Werk war, dass das rote Pferd von den vieren heute Nacht die Herrschaft übernommen hatte. Warum sollte sie diese vierbeinigen Bestien retten? Oder den heiligen Markus, der in der Kirche in einer Decke aus Schweinefleisch ruhte und dessen Fest die Bürger heute feierten? Sollte er doch darin braten wie eine Festmahlspeise. Aber sie hielt nicht mit dem erbarmungslosen Entgegennehmen und Weiterreichen der Eimer inne und verlangsamte ihren Rhythmus nie.
Gegen Morgen gewannen sie die Oberhand. Nachdem es ein großes schwarzes Stück aus dem Palast herausgebissen hatte, schien das gierige Feuer zufrieden zu sein und erstarb zu ein paar Flammenbüscheln. Der Tempel und seine ihn bewachenden Pferde wurden von Rauch umwabert, waren aber in Sicherheit. Als sich der Himmel silbrig verfärbte, ging die Sonne über einer anderen Welt auf. Alles war schwarz – der Palast, die Bürger, und sogar vom Himmel regnete es rußige Asche. Die in der Asche herumwirbelnden Rosenblätter des heiligen Markus bildeten die einzigen Farbflecke.
Feyra ließ ihren Eimer fallen und taumelte zu der Ecke der Kirche. Die Männermenge löste sich auf. Sie suchte fieberhaft nach Annibale und sah ihn endlich an der Ecke der Basilika lehnen. Er krümmte sich vor Husten, und sein Gesicht war so braunrot wie der Stein. Sie zog ihn mit sich, drückte ihn auf eine umgestürzte Säule nieder und beobachtete ihn scharf, während er nach Atem rang. Während seiner gesamten Arzttätigkeit hatte er stets sein Gesicht bedeckt, und jetzt war er nicht nur den giftigen Ausdünstungen der Stadt, sondern auch dem dichten Rauch schutzlos ausgesetzt. Das Feuer war gelöscht, der Doge sicher, wie sie hoffte, und Takat tot. Es war Zeit für sie zu gehen. Sie hielt ihm ihre Hand hin. »Lass uns nach Hause fahren«, sagte sie.
Annibale keuchte noch immer und war unfähig, einen Ton herauszubringen. Er hatte sich kaum erhoben, als ein Mann, der einen Rauchschweif hinter sich herzog wie ein Komet, von der Riva degli Schiavoni her um die Ecke gestürzt kam und schwer atmend vor dem hoch gewachsenen Eremiten stehen blieb. Der alte Mann sprach ihn an.
»Tommaso.« Er legte seine lange Hand auf die sich hebende und senkende Schulter des Mannes. »Beruhige dich. Das Feuer ist besiegt, wir haben die Stadt gerettet.«
»Eben nicht«, versetzte der Mann in der rußgeschwärzten Livree. »Das Feuer hat auf die Piombi übergegriffen, und die Gefangenen sind alle in ihren Zellen geschmort worden wie Truthähne im forno, und der Brand breitet sich jetzt entlang des unteren Ufers zur Merceria aus.«
»Die Rialtobrücke!« Der Eremit eilte davon, und die, die noch die Kraft dazu hatten, folgten ihm.
Feyra drehte sich zu Annibale um. »Palladio!«, entfuhr es ihr.
Sie liefen der Menge hinterher an der Basilika vorbei. Feyra blickte einmal mehr zu den bronzenen Pferden auf. Die vier glühten wie in einem Schmiedeofen erhitzt, trommelten mit den Hufen und sperrten die roten Mäuler auf, als wäre die Basilika ein vergoldeter Streitwagen, den sie mit all ihrer Kraft zogen. Ihr Tempel war vom Feuer verschont geblieben. Die Pferde hatten beschützt, was ihnen gehörte.
Sie wandte sich ab und war entschlossen, ihrerseits den Architekten zu beschützen, dessen Haus am Campo Fava im Weg der Flammen lag. Sie rannten vor der sich ausbreitenden Feuersbrunst her über den Markt, der wegen des Festtages von mehr Händlern besucht worden war als sonst. Feyra drehte sich kurz um und stellte fest, dass die Stände hinter ihnen lichterloh brannten. Die Waren der Glasbläser knackten und zerbarsten in der Hitze und spien winzige Juwelen bunten Glases auf das Pflaster.
Bevor sie die alte Brücke erreichten, lösten sie und Annibale sich aus der Menge und hasteten zu dem kleinen Platz mit dem Haus mit dem goldenen Zirkel über der Tür. Das Leichentuch aus Rauch folgte ihnen wie ein unheilvoller Schatten. Feyra hämmerte an die Tür, und als die Köchin erschien, sprach sie an Annibales Stelle, weil sie sah, dass er immer noch nach Atem rang.
»Corona Cucina«, sagte sie. »Alarmiere jeden im Haus und bring alle in Sicherheit. Ein großes Feuer ist ausgebrochen, und es zieht in diese Richtung.« Sie hob eine Hand, um einen Schwall von Fragen seitens der Köchin abzuwehren. »Ist dein Herr da?«
»Ja, und Zabato auch.«
Feyra drängte sich an ihr vorbei und ging direkt in das ihr so vertraute Studierzimmer. Dort fand sie Palladio vor, der sich in gewohnter Manier mit Zabato über seine Zeichnungen beugte. So oft hatte sie die beiden grauen Köpfe so dicht beieinander gesehen. Plötzlich erfüllte sie eine wilde Entschlossenheit, diese beiden Männer vor der Feuersbrunst zu bewahren. Sie blickten auf, als sie in den Raum stürmte.
»Feyra?« Palladio zog die dunklen Brauen zusammen und blickte an ihr vorbei zur Tür. »Und wer ist das?«
Feyra begriff, dass er Annibales Gesicht noch nie gesehen haben konnte.
Annibale trat vor. »Ich bin Euer Arzt, und ich gedenke, die Aufgabe zu erfüllen, die ich übernommen habe. Der Dogenpalast hat gebrannt, und das Feuer breitet sich durch die Merceria bis zur Rialtobrücke aus.«
Palladio bewegte sich überraschend schnell. Er griff nach einem weichen Lederbündel, in dem seine Werkzeuge verräterisch klirrten. »Zabato, bring die Mitglieder des Haushalts zur Accademia hinüber.«
Sein Zeichner sprang ebenfalls auf. »Wo geht Ihr hin?«
Palladio war schon unterwegs zur Tür. »Wenn das Feuer die Rialtobrücke erreicht, gerät die andere Seite der Stadt in Brand.« Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Wir müssen die Brücke abreißen.«
Feyra und Annibale konnten mit Palladio, der vor ihnen durch die calli eilte, kaum Schritt halten.
Schon bald ragte die große Brücke vor ihnen auf, ein mächtiger schwarzer Holzbogen auf steinernen Pfeilern, der sich vom safrangelben Himmel abhob. Feyra konnte die hoch gewachsene Gestalt des Eremiten ausmachen, der Eimer füllen ließ, um das Feuer zu bekämpfen, und sogar Kinder dazu heranzog, umherfliegende Funken auszutreten, die die große Holzkonstruktion bedrohten.
Palladio steuerte schnurstracks auf den Eremiten zu und begann auf ihn einzureden, wobei er mit den Armen fuchtelte und immer wieder auf die Brücke deutete. Feyra bekam von ihrem Gespräch kaum etwas mit, weil das brennende Holz so laut knackte, doch dann drehte sich Palladio wieder zu ihnen um. »Dottore, kommt mit. Feyra, geh mit den anderen über die Brücke.«
Feyra rührte sich nicht von der Stelle. Das Gefühl nahenden Unheils jagte ihr einen Schauer über den Rücken. »Was habt Ihr vor?«
Palladio legte sein Bündel klirrend ab, entnahm ihm ein Stemmeisen und reichte es Annibale. Er selbst hielt einen schweren Hammer in der Hand. »Wir müssen die Pfeiler wegschlagen. Dann stürzt die ganze Brücke in sich zusammen.«
Die beiden Männer stiegen ins Wasser und machten sich unten an der Brücke zu schaffen, während Frauen und Kinder noch darüber hinwegstürmten, um am anderen Ufer Schutz zu suchen. Palladio konzentrierte seine Anstrengungen auf die zwei großen Träger, die die Pfeiler zu beiden Seiten der Brücke stützten. Die beiden Männer hieben erbittert darauf ein, doch die Flammen befanden sich auf dem Vormarsch. Der Eremit hatte die Männer angewiesen, die Reihe kleiner hölzerner Hütten am Ufer zu zerstören, aber das Feuer trieb sie rasch zurück. Dann wateten einige der Männer, darunter auch der Eremit selbst, gleichfalls ins Wasser, um Palladio und Annibale zu helfen. Feyra biss sich auf die Finger, bis sie bluteten, und lauschte voller Angst, als die Holzkonstruktion zu ächzen und dann zu knarren begann, denn jetzt fürchtete sie, die Brücke würde einstürzen und die beiden Männer unter sich begraben. Vor sich konnte sie die Flammen sehen, die sich im Wasser widerspiegelten und es in flüssiges Feuer verwandelten, dennoch wandte sie sich nicht ab. Die Sonne war aufgegangen, als der hölzerne Bogen zu wanken begann, und da vermochte sie nicht länger an sich zu halten, watete ins Wasser und zog beide Männer mit einer Kraft zurück, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß. Als die Brücke in sich zusammenzustürzen begann, hörte sie, wie die Menge am gegenüberliegenden Ufer entsetzt aufschrie, denn der Verlust dieses symbolträchtigen Bauwerks verhieß Unheil.
Feyra fragte sich, was es für Palladio, dessen Leben daraus bestand, etwas zu erschaffen, wohl bedeutete, stattdessen etwas zerstören zu müssen. Doch als sich der alte Mann aufrichtete, glühte ein Feuer in seinen Augen, bei dem es sich nicht nur um ein Spiegelbild der Flammen handelte, und seine Züge drückten eine gewisse Genugtuung aus. »Was zerstört ist, kann jederzeit wieder aufgebaut werden«, lächelte er.
Annibale watete auf sie zu. »Kommt. Wir müssen uns in Sicherheit bringen.«
Sowie Palladio, dessen Haus unversehrt geblieben war, zu Bett gegangen war, stolperten Feyra und Annibale über den Platz in die Richtung der Riva degli Schiavoni zurück. Mit rot geränderten Augen, ascheverklebten Haaren und rußgeschwärzten Gesichtern wankten sie durch Asche und Rosenblätter.
Vor der Ruine des Dogenpalastes hatte ein Maler seine Staffelei aufgestellt, seine Palette zur Hand genommen und damit begonnen, Farben auszuwählen. Als die beiden Ärzte an ihm vorbeigingen, versuchte er gerade, mit wütenden Kohlestiftstrichen die Schönheit der Verwüstung ringsum einzufangen.
Der Löwe des heiligen Markus in seinem Käfig am Fuß des Campanile war nur noch ein verkohltes, rauchendes Skelett, das im Tod wie im Leben hinter schwarz verfärbten Gitterstäben gefangen war.