3

»Ich bin Cecilia Baffo.«

Feyra saß auf Nurbanus Bett. Die Valide Sultan wirkte schwach, ihre Haut war dunkler denn je und von Äderchen gesprenkelt. Das Gift zeigte jetzt Wirkung. Feyra hätte denken können, ihre Herrin würde irrereden, aber sie war noch bei Sinnen und völlig klar. Feyra schüttelte verwirrt den Kopf.

»Wie meint Ihr das?«

Die Valide Sultan versuchte, sich in den Kissen aufzurichten. »Was weißt du von mir?«

Feyra plapperte nach, was sie von Kelebek gehört hatte. »Ihr wurdet von Korsaren gefangen genommen und hierher zu Sultan Selim gebracht, möge er im Licht des Paradieses ruhen.« Feyra wusste, dass türkische Reiter in der ganzen Welt gefürchtet wurden. Sie waren hervorragende Kämpfer, die sich von den Hügelhängen aus kreischend wie die Todesfeen auf ihre Feinde stürzten.

»Von Korsaren gefangen genommen?« Nurbanu lächelte leicht. »Ja, so behauptet es die Legende. Von Korsaren gefangen genommen. Aber das ist nicht die Hälfte, nicht ein Viertel, nicht das kleinste Stück meiner Geschichte.«

»Ich dachte, ich wüsste alles«, erwiderte Feyra verwundert, denn sie hatten im Lauf der Jahre so viele Geheimnisse miteinander geteilt.

»Sprich in meiner Sprache.«

Feyra wusste, dass ihre Herrin Phönizisch meinte. Wenn sie sich dieser Sprache bedienten, würde sie gleich ein großes Geheimnis zu hören bekommen. Größer als damals, als Nurbanu den Tod ihres Mannes Selim zwölf Tage vor der Welt geheim gehalten hatte, bis ihr Sohn und Erbe, der jetzige Sultan, aus den Provinzen zurückgerufen werden konnte. Größer als damals, als Feyra ihrer Herrin geholfen hatte, Geld aus der Schatzkammer abzuzweigen und Schatullen voller Gold zu dem Architekten Mimar Sinan zu bringen, der in Nurbanus Namen eine Moschee baute. Größer als all die Male, wo Feyra Treffen zwischen Nurbanu und ihren Verbündeten aus allen Nationen der Welt arrangiert hatte, die dazu dienten, die politischen Entscheidungen ihres zu übereiltem Handeln neigenden Sohnes zu korrigieren.

»Ich finde Phönizisch so schwierig.«

»Feyra. Nicht Phönizisch. Venezianisch.«

Ein Wort, das sie als kleines Mädchen falsch verstanden hatte, war jetzt der Schlüssel, mit dem sich Feyra ein Rätsel erschloss. Sie sperrte vor Staunen den Mund auf.

Nurbanu seufzte tief. »Ja, ich bin Venezianerin. Ich habe zugelassen, dass jedermann das vergisst. Ich habe es ja fast selbst vergessen. Doch als ich in Venedig lebte, war ich Cecilia Baffo, die Tochter von Nicolò Venier.«

»Venier?« Feyra stieß den Namen hervor, der in Konstantinopel als Fluch galt.

Nurbanu entging ihr Tonfall nicht. »Ja. Mein Onkel ist Sebastiano Venier, Admiral von Lepanto und Doge von Venedig.«

Kein Wunder, dass das gemeine Volk dies hatte vergessen sollen. Die Venezianer waren seit Jahrhunderten Feinde der Türken, sie hatten ihr Gold geraubt, ihre Frauen geschändet und sogar die Gräber ihrer Sultane entweiht. Venezianische Plünderer hatten die Krone von Mehmet II. noch mit dem Haar daran aus seiner Grabstätte gestohlen. Und der schlimmste, verhassteste dieser Pirateneroberer war Sebastiano Venier, die Galionsfigur des Kriegsschiffes Venedig. Der Ruf des Dogen wurde täglich in den Pamphleten geschmäht, die an den Straßenecken verkauft wurden, und sein Bild wurde in den Gassen verbrannt. Seit er vor einigen wenigen Jahren in der Schlacht von Lepanto die osmanische Flotte vernichtet hatte, lechzten der Sultan und alle seine Untertanen Tag und Nacht nach Rache.

»Ja. Du wirst gemerkt haben, dass mein Sohn mir keine Liebe entgegenbringt. Er hält meine Politik für provenezianisch und glaubt, ich würde für meine alte Heimat Partei ergreifen. Und er hat recht.« Die Valide Sultan sah mit Augen aus dem Fenster, denen sich in diesem Moment ein anderer Ausblick bot. »Oh, Feyra, hast du jemals eine Stadt gesehen, die auf dem Meer schwebt? Hast du je Türme gesehen, die wie Speere gen Himmel ragen, statt sich zu Kuppeln zu krümmen, und eine Klinge, die gerade statt gebogen ist? Hast du jemals Glas gesehen, das wie ein Edelstein schimmert, und Paläste, deren harter Stein so bearbeitet ist, dass er wie zarte Spitze wirkt? Und jetzt plant mein Sohn den perfidesten Anschlag auf Venedig, und nur du kannst ihn verhindern.«

»Ich?«

»Ja, Feyra, du. Du bist meine Kira, das Bindeglied zwischen mir und der Welt. Aber die Welt ist größer als diese Stadt. Ich muss dich auf einen sehr schweren Botengang schicken.«

»Warum mich?«

»Um das zu verstehen, musst du meine Geschichte kennen. Ich wurde als Cecilia Baffo geboren, Tochter von Nicolò Venier und Violante Baffo. Mein Vater war der Herr von Paros, Statthalter all der tausend kleinen Inseln vor der Küste Griechenlands, die man die Kykladen nennt und die unter der Herrschaft Venedigs stehen. Obwohl ich damals in Venedig lebte, hielt ich mich im Sommer 1555 – 962 nach unserer Zeitrechnung – mit meinem Vater auf den Inseln auf.«

Vor einundzwanzig Jahren, dachte Feyra. Bevor sie selbst geboren worden war. »Und dort wurdet Ihr gefangen genommen?«

»In gewisser Hinsicht ja. Zur Feier meiner Verlobung fand in unserem Palast auf Paros ein großer Maskenball statt. Ich sollte Ridolfo Falieri heiraten, einen sehr reichen Mann, und in der Nacht, in der ich ihm anverlobt werden sollte, verliebte ich mich.«

»Demnach war er ein guter Mann?«

»Ganz und gar nicht. Er war alt und grausam und verbittert – es war eine rein dynastische Verbindung. Nein, ich habe mich nicht in ihn verliebt. Auf dem Maskenball war auch ein junger Schiffskapitän, ein Günstling des Sultans, dessen Schiff die Insel angelaufen hat, um Vorräte an Bord zu nehmen. Innerhalb einer Stunde hatte ich mich ihm hingegeben. Die Korsaren waren seine Besatzung. Wir nahmen Pferde aus dem Stall meines Vaters und ritten zum Ufer, und ich ging willig mit ihm. Sicher, ich wollte am liebsten einen ganzen Ozean zwischen mich und Ridolfo legen, aber ich konnte vor allem den Gedanken nicht ertragen, dass der Kapitän ohne mich fortsegelte.«

Feyra knetete das Laken zwischen den Fingern. »Der Mann, in den Ihr Euch verliebt habt, war mein Vater.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Es war dein Vater«, bestätigte ihre Herrin. Sie sah Feyra eindringlich an. »Und als wir Konstantinopel erreichten, war ich in Hoffnung.«

Feyra blieb stumm. Sie sah, dass ihrer Herrin das Sprechen schwerzufallen begann. Sie hörte, wie die Worte ineinander verschwammen und wagte kaum zu atmen. Sie musste unbedingt hören, was als Nächstes kam.

»Ach, Feyra, ich war nicht so vorsichtig, wie du es bist. Ich sehe ja, wie du dich kleidest, welche Mühe du dir gibst, dein Äußeres zu verbergen. Ich war leichtsinnig. Ich ging vor Liebe und der Freude auf mein Kind strahlend in meinen kostbaren venezianischen Gewändern, mit unverhülltem Gesicht und zu Locken frisiertem Haar in Sultanahmet umher. Damals war ich schön, Feyra, ich hatte goldenes Haar, perlweiße Haut und meerblaue Augen. Als ich eines Tages vom Basar nach Hause ging, kam eine Sänfte an mir vorbei – Sultan Selim saß darin. Ein Windstoß wehte den Vorhang ein Stück beiseite, und unsere Blicke trafen sich einen Moment lang. Dieser Moment reichte aus. Am Abend war ich im Harem, erhielt den Namen Nurbanu Afife, und Cecilia Baffo existierte nicht mehr.«

»Was hat mein Vater getan?«

Der Abglanz eines Lächelns huschte über Cecilias Gesicht. »Er tobte und schrie, kam zum Palast, brach mit seinen bloßen Händen die Tür auf und verlangte die Herausgabe seiner Geliebten und des Kindes, das sie trug. Er wurde von den Wachposten zum Sultan gebracht, der ihm sagte, dass das Kind getötet werden würde, wenn es ein Junge war. Es dürfe nicht am Leben bleiben, um zum Rivalen etwaiger legitimer Erben zu werden, die ich ihm gebären würde. Der Sultan selbst wartete bis nach der Geburt, bevor er sich erstmals zu mir legte. Die Monate, die ich auf mein Kind warten musste, waren die Hölle, Feyra.«

»Aber das Kind war ein Mädchen, nicht wahr?«

Feyra hätte Cecilias schwaches Nicken gar nicht als Bestätigung gebraucht. Plötzlich ergab alles einen Sinn: der Umstand, dass sie, so lange sie denken konnte, täglich den Harem besucht hatte; dass ihre Herrin bis heute nie die Stimme gegen sie erhoben hatte; dass Nurbanu selbst sie Lesen, Schreiben und die Sprache ihrer Jugend gelehrt hatte; dass sie ihr Interesse an der Medizin gefördert und ihr eine Ausbildung ermöglicht hatte, die Frauen zumeist verwehrt blieb.

»Als Gegenleistung für seinen Verzicht auf mich wurde deinem Vater Rang und Ansehen versprochen, und er erhielt dich, seine Tochter, um sie in Frieden in der Stadt großzuziehen. Er bekam dein Leben im Gegenzug für zwei Dinge: seine absolute Loyalität gegenüber dem Sultan und allen seinen Erben und das Versprechen, dass er niemals versuchen würde, mich wiederzusehen. Und ich habe ihn nie wiedergesehen, Feyra, von jenem Tag an bis zum heutigen kein einziges Mal.« Nurbanus Augen wurden glasig. »Als wir bei Lepanto gegen die Venezianer kämpften, war dein Vater Admiral, er stand somit in demselben Rang, den mein Onkel, der Doge, bei den Venezianern bekleidete. Ich habe aus diesem Fenster geblickt, Feyra, habe die Augen zusammengekniffen und mir vorgestellt, ich könnte bis zum Golf von Patras sehen, wo die beiden Flotten aufeinandertrafen, wo mein Geliebter Timurhan und mein Onkel Sebastiano sich auf Befehl meines Mannes Selim mit Feuer und Kanonen bekämpften.«

Feyra musste sich jetzt vorbeugen, um sie verstehen zu können.

»Im Laufe der Zeit wurde ich wieder glücklich. Ich begann, meinen Mann, den Sultan, zu lieben. Nicht mit der jugendlichen Leidenschaft, die ich für deinen Vater empfunden habe, sondern mit wachsendem Respekt und Zuneigung. Er war ein gütiger, freundlicher Mann und ganz anders als unser Sohn – sie waren so verschieden wie Tag und Nacht. Ich lernte, mich unentbehrlich zu machen, und stieg von Odaliske zur Konkubine, von Konkubine zur Kadin und dann zur Sultana auf. Behutsam fing ich an, meinen Einfluss einzusetzen, um eine pro-venezianische Politik zu unterstützen. Aber als mein Mann starb, endete das alles. Du wirst dich daran erinnern, Feyra, wie wir uns bemüht haben, Murads Thronfolge zu sichern. Jetzt wirst du verstehen, warum ich dich und niemand anderen gebeten habe, mir dabei zu helfen. Aber es wäre besser gewesen, wenn ich Murads Rivalen den Thron überlassen hätte, denn mein Sohn ist durch und durch schlecht und von Hass auf Venedig und demzufolge auch auf mich erfüllt.«

Feyra kletterte jetzt in das Bett und brachte ihr Ohr ganz nah an die trockenen, aufgesprungenen Lippen ihrer Herrin heran. Die Valide Sultan legte einen aufgeblähten Arm um sie und lächelte geisterhaft, als würde sie diese Intimität sehr glücklich machen.

»Du musst mich nicht bedauern. Es war mir in all den Jahren ein Trost, ein Kind zu haben, das das Licht meines Lebens war. Mein Sohn weiß nicht, wer du wirklich bist, denn er wurde ein Jahr später geboren, und meine Zofen haben das Geheimnis gut gehütet. Es war mir möglich, dich in meiner Nähe zu behalten und dich aufwachsen zu sehen. Du bist so klug, tapfer und warmherzig. Ich sehe Timurhan jeden Tag in dir.« Die Erwähnung ihrer alten Liebe belebte sie ein wenig, und ihre Stimme wurde etwas kräftiger. »Du darfst ihm nichts von alldem sagen, versprich mir das. Es ist sehr wichtig, dass du das nicht tust, denn er spielt in dieser Tragödie, die mein Sohn inszeniert, eine bedeutende Rolle.« Mit sichtlicher Anstrengung hob sie eine geschwollene Hand und umschloss Feyras Wange. »Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, du wärst nicht so schön. Es ist gut, dass du die Stadt verlassen wirst.«

Feyra lief ein kalter Angstschauer über den Rücken. »Warum muss ich fortgehen?«

»Mein Sohn hat einen perfiden Plan gegen Venedig ausgeheckt …« Die Hand, die Feyras Wange hielt, begann zu zittern. Feyra tastete besorgt nach dem Handgelenk. Zorn war der Feind ihrer Herrin, denn er beschleunigte den Blutfluss und brachte die Körpersäfte zum Brodeln. Die Sporen würden jetzt ihre Organe befallen.

»Ruhig. Sprecht weiter.«

Nurbanu entzog sich ihrem Griff und begann die Hände zu ringen – nein, sie bemühte sich, einen Ring von ihrem angeschwollenen Finger zu lösen, den Kristallring, den sie immer trug. »Nimm dies.« Ihre Augen schlossen sich, und ihre Zunge wurde schwer. »Sag es meinem Onkel, dem Dogen. Sag es ihm. Und wenn du einen Zufluchtsort suchst, geh zu einem Haus mit einem goldenen Zirkel über der Tür. Dort lebt ein Mann namens Samstag. Er wird dir helfen.«

Feyra nahm den Ring, ohne ihn anzusehen. Seit der Name des Dogen gefallen war, hatte sie kaum noch zugehört. Voller Angst stützte sie sich auf einen Ellbogen. »Was soll ich ihm sagen?«

Doch Nurbanus Augen blickten leer und glasig.

»Wo soll ich den Ring hinbringen?«

Cecilia Baffos Augen weiteten sich und fielen dann zu. Sie sprach mit geschlossenen Augen. »Nach Venedig natürlich.«

Feyra beugte sich zu ihrer Herrin hinunter und legte die Wange an ihre Lippen. Das Wort Mutter vermochte sie noch nicht zu denken. Die Valide Sultan atmete flach, aber regelmäßig. Sie war noch am Leben, aber Feyra wusste, dass es nichts brachte, sie zu wecken. Der Schreck wäre für ihr gemartertes Herz wahrscheinlich zu viel.

Feyra blickte aus dem Fenster über das Meer hinweg, das nach Venedig führte. Die Sonne stand hoch am Himmel, Boote drängten sich auf der Mündung des Bosporus. Durch irgendeine Alchemie hatte sich das lapislazulifarbene Wasser in Gold verwandelt. Kleine schwarze Boote verdunkelten das Licht. Einige fuhren durch die Meerenge nach Pera und zurück, andere segelten zu ferneren Ufern. Wie herzlos, dachte Feyra. Wie kann weiter Handel betrieben werden, wie können Leute immer noch Seide und Salz und Safran benötigen, während sich hier ein Menschenleben dem Ende zuneigt?

Feyra hatte an vielen Sterbebetten gesessen und wusste, dass die Todgeweihten ihre letzten Worte klar verständlich hervorstießen, wenn sie noch etwas zu sagen hatten, und dann ihr Leben aushauchten, auch wenn die osmanischen Geschichtenerzähler etwas anderes behaupteten. Feyras einzige schwache Hoffnung bestand darin, dass Nurbanu noch einmal irre reden würde, wenn ihr Körper sich ein letztes Mal verzweifelt gegen die Sporen des St.-Bartholomäus-Baums zur Wehr setzte, bevor das Gift sie tötete. Aber sie konnte nicht damit rechnen, dass Nurbanu so klar im Kopf sein würde wie gerade eben. Feyra war dankbar dafür, dass ihr die Zeit geblieben war, die Geschichte ihrer Mutter – und ihre eigene – zu hören, aber jetzt musste sie wissen, was ihre Herrin von ihr verlangte und was es mit dem Ring auf sich hatte.

Sie drehte ihn im Morgenlicht am Finger. Er war schön und zeugte von großer Handwerkskunst. Der glasklare Kristall wies eine Art farbiges Muster auf. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass die Farben kein Muster bildeten, sondern winzige Pferde darstellten, vier an der Zahl, die um den Reif herumgaloppierten. Sie inspizierte sie eingehend. Die Tiere waren kunstvoll in das Glas eingearbeitet, mit einem Werkzeug, das nicht größer sein konnte als eine Nadelspitze. Jedes Pferd schimmerte in einer anderen Farbe: Eines war schwarz, eines rot, eines weiß und eines grünlich wie Gallenflüssigkeit. Obwohl sie keine Stunde zuvor in der Samahane erwogen hatte, mit ihrem Vater zusammen zu fliehen, wusste Feyra jetzt, dass sie ihre Patientin nicht verlassen konnte. Sie musste erst alles wissen. Und sie musste nicht lange warten.

»Feyra, Feyra …« Es war kaum mehr als ein Wispern.

Feyra griff erneut nach der Hand der älteren Frau. »Komm und sieh.« Der Atem roch jetzt faul, als kröche der Tod aus Nurbanus Mund. »Sie kommen!«

»Wer?«, fragte Feyra.

»Die vier Reiter.«

Nurbanus Geist musste sich verwirrt haben. Sie bezog sich auf den Ring, den sie Feyra gegeben hatte, und vielleicht auf die vier Pferde, die sie von Paros fortgebracht hatten. Feyra sprach beruhigend auf sie ein. »Nein, nein, sie kommen nicht.«

»Doch, doch … ich sehe sie. Sie bringen den Tod!« Die meerblauen Augen starrten jetzt blicklos ins Leere.

»Nein, sie kommen nicht«, versuchte Feyra ihr zu versichern. »Ich kann bis Pera sehen, und dort sind nur wenige Boote. Es ist auch niemand im Raum und niemand an der Tür.«

»Sie kommen nicht zu mir«, protestierte die Sterbende. »Sie reiten nach Venedig! Die Große Bedrängnis reitet nach Venedig. Sie galoppieren auf weißen Pferden über die Wellen, aber nur eines von ihnen ist weiß, die anderen haben andere Farben.«

Feyra sah erneut auf den Ring hinab, betrachtete die zarten Gravuren. Ein Pferd war weiß eingefärbt. »Aber nur eines von ihnen ist weiß, die anderen haben andere Farben.« Vielleicht sprach ihre Herrin ja doch nicht im Delirium, dachte Feyra.

»Was heißt das? Was bringen die Pferde?«

»Komm und sieh, komm und sieh, komm und sieh!«

Feyra beugte sich so nah zu ihr wie möglich. »Ich bin hier, Herrin.«

Plötzlich richtete sich Nurbanu kerzengerade auf und sprach mit einer Kraft, die ihrem geschwächten Körper kaum noch zuzutrauen war. »Und als das Lamm das dritte Siegel auftat, hörte ich die dritte Gestalt sagen: Komm und sieh! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in der Hand. Und ich hörte eine Stimme mitten unter den vier Gestalten sagen: Ein Maß Weizen für einen Silbergroschen und drei Maß Gerste für einen Silbergroschen; aber dem Öl und Wein tu keinen Schaden!«

Sie sank in die Kissen zurück, und ihre Stimme erstarb wieder zu einem Flüstern. »Es steht geschrieben. Im Buch steht es geschrieben.«

Feyra wurde nervös. Sie war keinen Deut klüger. Die Valide Sultan verschwendete ihre Kraft. Bald würde sie nicht mehr sprechen können, und sie vergeudete Worte für Gejammer über Wein und Öl?

»Was für ein Buch?«

»Ich habe seit Jahren nicht mehr darin gelesen. Sie erlauben es mir hier nicht. Das Buch, das Buch der Bücher. Es berichtet von der Großen Bedrängnis. Komm und sieh, komm und sieh, komm und sieh.«

Ihre Augen blickten starr, und Feyra wusste, dass die Zeit der Valide Sultan ablief. Sie versuchte es mit einer anderen Frage. »Was kann ich tun?«

»Timurhan bringt das erste Pferd, das schwarze Pferd, mit seinem Schiff mit. Geh mit ihm, hindere ihn daran. Das rote Pferd ist ihm dicht auf den Fersen. Wenn das dritte Pferd kommt, das weiße, der Eroberer, wird Venedig nicht länger existieren. Dann ist das fahle Pferd der König über alle Reiche, denn es ist das schrecklichste von allen, das alle Menschen fürchten.«

»Wer ist das fahle Pferd?«

»Tod.«

Die einzelne Silbe hallte in dem stillen Hof wider. Sie schien ein Ende zu sein: das letzte Wort. Doch dann drehte die Valide Sultan den Kopf auf dem Kissen und sah Feyra in die Augen. Sie sprach fast normal. »Werde ich sterben?«

In Feyras Hals schien etwas zu stecken, ein großer, kalter Stein, der ihre Stimme blockierte. Aber sie hatte ihre Herrin noch nie belogen. »Ja.«

Wie ein kleines Mädchen, als wäre sie die Tochter und Feyra die Mutter, fragte die Valide Sultan mit leiser, ängstlicher Stimme: »Wird es wehtun?«

Feyra dachte an den Falken, dem sie die Sporen des St.-Bartholomäus-Baums gegeben hatte. Und daran, wie der Vogel zwei, drei Stunden nach der Infektion ausgesehen hatte. Sie dachte daran, wie Nurbanu in einer weiteren Stunde aussehen würde und wie ihre Organe wie die des Falken zu Brei zerfallen würden. Ihr Herz brach. Das Letzte, was sie zu ihrer Mutter sagte, war eine Lüge. »Nein«, erwiderte sie. »Ihr werdet nichts spüren.«

Eine Stunde später war Feyra so sicher, wie sie nur sein konnte, dass ihre Herrin tot war.

Die Augen der Valide Sultan standen offen, das Fleisch war mit schwarzen Flecken übersät. Feyra schloss die Augen von der Farbe des Meeres, dieses Meeres und jenes, das Venedig umschloss, und schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum.

Sie wusste, dass es Zeit war, den Arzt zu suchen, also stolperte sie zur Halle des Reinigungsbrunnens zurück. Als sie das letzte Mal hier gestanden hatte, war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Jetzt lag ihre Zukunft ungewiss vor ihr, und sie hatte innerhalb weniger Stunden eine Mutter gefunden und wieder verloren.

Sie schickte einen der schwarzen Eunuchen nach dem Arzt, und als er kam, sah er wenig besser aus als ihre arme Herrin. Er war grau im Gesicht, zitterte, und sein Turban saß schief. Sie verneigte sich vor ihm. »Es scheint, dass Ihr bereits wisst, was ich zu sagen habe, Lehrer.«

Haji Musa sah sie an, als habe er in den Abgrund der Hölle geblickt. »Feyra, ich muss dir mitteilen, dass dein Vater in Gefahr schwebt. Lass ihn nicht gehen.«

»Mein Vater? Aber ich bin gekommen, um Euch zu sagen, dass meine …« Sie hielt kurz inne. »Dass meine Herrin gestorben ist. Ihr wusstet das nicht?«

Es war, als könne der Arzt sie nicht hören. »Ich habe bereits zu viel gesagt. Lass ihn nicht die Segel setzen. Seine Fracht ist gefährlich. Sie wird ihn töten.«

Feyra erstarrte. »Seine Fracht? Was befördert mein Vater denn für eine Fracht?« Sie war von Kummer und Verwirrung überwältigt und hatte genug von Hinweisen und Andeutungen. Es machte sie zornig. »Sagt es mir, und zwar rasch und deutlich.«

Ihr Lehrer und Mentor, der große Haji Musa, schien vor ihren Augen zu schrumpfen. Er wich zurück. »Ich habe schon zu viel gesagt.« Seine Hände flatterten zu seinem Mund. »Hast du gesagt, deine Herrin läge im Sterben?«

»Sie ist bereits tot.«

Die Nachricht schien ihn nicht zu berühren, war nichts als eine unbedeutende Kleinigkeit. »Dann geh nach Hause, Feyra. Jetzt. Sei ja nicht hier, wenn sie entdeckt wird. Und bring deinen Vater fort, lass ihn nicht die Segel setzen

»Wartet!«

Er ging bereits davon. »Ich habe schon zu viel gesagt. Allein dafür könnten sie meinen Kopf nehmen. Wenn ich noch mehr sage, bin ich mit Sicherheit ein toter Mann.«

Feyra blickte ihm nach, als er davonhuschte, und wusste, dass sie ihn nie wieder sehen würde.

Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ging sie durch die stillen Höfe zum Palasttor zurück. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie solle Timurhan auf seiner Reise begleiten. Ihr Mentor hatte gesagt, sie solle ihren Vater auf keinen Fall die Segel setzen lassen. Beide hatten von seiner Fracht gesprochen. Nurbanu hatte sie als das schwarze Pferd bezeichnet, und Haji Musa hatte sie gewarnt, dass sie ihn töten würde. Feyra fühlte sich mit einem Mal sehr jung. Am liebsten wäre sie auf Timurhans Schoß geklettert, hätte an seinem Bart gezupft, wie sie es als Kind getan hatte, ihm alles erzählt und ihn gefragt, was sie jetzt tun sollte.

Als sie an den Gemächern des Sultans vorbeikam, konnte sie drinnen die Stimme des Sultans dröhnen hören. Sie beschleunigte ihre Schritte, als könne Murad jeden Moment persönlich herausstürmen und sie züchtigen, weil sie seine Mutter hatte sterben lassen. Hätte sie aufmerksamer zugehört und wäre sie nicht so in Eile gewesen, hätte sie vielleicht eine zweite Männerstimme vernommen.

Und sie hätte diese Stimme vielleicht erkannt. Der Sultan befand sich in einer Besprechung mit ihrem Vater.