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Feyra lag im Dunkeln und drehte an dem Kristallring herum.
Sie wurde nicht länger von Unentschlossenheit gemartert, sondern wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie wartete nur den richtigen Moment ab. Sie wartete und drehte dabei den Ring an ihrem Finger, als zähle sie die Herzschläge, bis sie endlich handeln konnte.
Der Ring befand sich erst seit vier Stunden in ihrem Besitz, und trotzdem fühlte er sich bereits wie ein Teil von ihr an. Sie drehte den Kristallreif immer ein Viertel weiter, sodass jedes Mal ein anderes Pferd zuoberst erschien – schwarzes Pferd, weißes Pferd, rotes Pferd, fahles Pferd. Sie fragte sich, ob ihre Mutter dieselbe Angewohnheit gehabt hatte.
Ihre Mutter.
Nurbanu war Feyra in allem, nur nicht dem Namen nach, eine Mutter gewesen. Sie würde um sie trauern, wenn der Schock abgeklungen war, aber sie hatte nicht das Verlangen, ihre Beziehung in ein anderes Licht zu rücken. Es hatte gegenseitige Liebe und Respekt gegeben, Umarmungen, viele miteinander verbrachte Stunden – mehr, als irgendeine andere Tochter erwarten konnte. Feyra quälte sich nicht mit ungesagten Worten herum. Alles Notwendige war in jenen letzten schrecklichen Stunden gesagt worden, der Rest unausgesprochen zwanzig Jahre davor. Feyra bedauerte nur, dass ihre Mutter ihr nicht mehr über die Reiter hatte erzählen können. Über das schwarze Pferd, das ihr Vater nach Venedig bringen sollte, und darüber, was sie selbst zu tun hatte.
Draußen auf der Straße trat Stille ein. Es wurde Zeit.
Feyra erhob sich so geräuschlos wie eine Katze. Sie brauchte sich nicht anzukleiden, denn sie hatte sich gar nicht erst ausgezogen, sie legte aber einen Schleier an, bevor sie ihren Hut aufsetzte. Jetzt verbarg sie nicht ihre Schönheit, sondern ihre Identität.
Behutsam öffnete sie die Fensterflügel und die filigranen Läden, hinter denen sie an diesem Morgen gestanden hatte. Der Kislar Aga hatte es nicht für nötig befunden, an der Rückseite des Hauses Wachposten aufzustellen. Sie ließ sich auf das Dach des Schuppens gleiten, in dem die Nachbarn nachts ihre Ziegen einschlossen. Die elenden Geschöpfe begannen zu meckern, und sie atmete mit einem unwillkürlichen entsetzten Keuchen ihren Gestank ein, ehe sie in die dunkle Gasse unter ihr hinunterkletterte. Sie schlich zur Straßenecke, sah, dass die Straße verlassen dalag, und rannte, so schnell sie konnte, zu den Docks hinunter. Dort erblickte sie mit bis zum Hals klopfendem Herzen Hunderte bemannter hölzerner Schiffsrümpfe, Spiere und Maste, die wie feindliche Lanzen gen Himmel ragten und ihre Flucht verhinderten. Wie sollte sie in Erfahrung bringen, welches Schiff ihr Vater nehmen würde? Ihm wurde für jede Reise ein anderes zugeteilt. Und was, wenn er schon abgelegt hatte?
Verzweifelt lief sie durch den Hafen und las die bombastischen Namen, die Männer ihren Schiffen gaben – törichte, vor Siegesgewissheit strotzende Prahlereien. Sollte sie sich auf gut Glück an Bord von einem davon schleichen und hoffen, dass sich die Besatzung als nicht gar zu übel erweisen würde, oder lieber nach Hause zurückkehren, am Morgen in ihrem eigenen Bett erwachen und sich in den Harem schaffen lassen? Feyra war mit den Vorgehensweisen von Männern vertraut, sie wusste, welches Schicksal sie als einzige Frau an Bord eines fremden Schiffes erwartete, wenn ihr Vater nicht da war, um sie zu beschützen. Aber war das schlimmer als das Dasein im Harem? Sie würde nur einem Mann statt zwanzig als Spielzeug dienen, aber dieser Mann war ihr Bruder und überdies ein wahres Monster. Sie hatte eigentlich gar keine Wahl.
Gerade als sie kehrtmachen wollte, fiel ihr Blick auf ein Schiff, das sich von den anderen unterschied. Mit seinen gerade geschnittenen statt gekrümmten Deckplanken und dem üppig verzierten Vorderdeck wirkte es fremdländisch, und am Bug prangte in gemalten Goldbuchstaben der Name Il Cavaliere. Nurbanu hatte es nicht versäumt, ihr das Lesen beizubringen – der venezianische Name bedeutete schlicht und einfach »der Reiter«.
Feyra verbarg sich hinter einem Fässerstapel und beobachtete das Treiben auf dem Schiff. Der hölzerne Landungssteg war herabgelassen, und die an der Hafenmauer befestigten Fackeln beleuchteten das Kommen und Gehen. Sie verfolgte, wie zwei Seeleute, Männer ihres Vaters, mit Ausrüstungsgegenständen und Vorräten beladen zwischen einem Lagerhaus am Kai und dem Schiff hin und her eilten. Flüchtig spielte sie mit dem Gedanken, sich zu erkennen zu geben und zu verlangen, zur Kabine des Kapitäns gebracht zu werden. Aber der Umstand, dass er sich in der Gesellschaft des Kislar Aga befinden würde, hielt sie davon ab.
Stattdessen studierte sie den Rhythmus, dem die Seemänner folgten. Schiffe waren seit ihrer frühesten Kindheit ihr Spielzimmer gewesen. Sie war von den Fässern und Kisten fasziniert, die sie dort vorfand, und hatte zahlreiche Laderäume erforscht. Normalerweise gelangte man durch eine Luke an Deck in den Frachtraum, und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen gesehen zu haben, der diesem hier glich. Bei diesem venezianischen Schiff lag der Zugang zum Laderaum an der Seite, sodass die Fracht direkt vom Dock aus durch die Doppeltüren knapp oberhalb der Wasseroberfläche eingeladen werden konnte. Eine hölzerne Planke führte geradewegs in die dunkle Höhle.
Wenn Feyra die Konkubinen im Harem behandelt hatte, hatte sie gerne gesagt, die Lösung eines Problems sei oft die einfachste. So verhielt es sich auch hier. Sie wartete einfach und huschte dann in einem unbeachteten Moment wie ein Schatten die Holzbrücke hoch und in den dunklen Bauch des Schiffes.
Sie ließ sich in den düsteren, einer Gruft ähnelnden Raum fallen, rollte sich hinter einigen Getreidesäcken zusammen und machte es sich so bequem wie möglich, um zu warten. Innerhalb der nächsten Stunde wurden weitere Säcke auf sie geworfen, bis sie sich kaum noch rühren konnte und zu schwitzen begann. Ihr Medizingürtel, ihr alter Freund, den sie so lange getragen hatte, dass er sich wie ein Teil ihres Körpers anfühlte, grub sich schmerzhaft in ihre Taille und ihre Rippen. Sie überlegte, was für Folgen es haben würde, wenn eine der Flaschen zerbrach und die Scherben sich in ihre Haut bohrten oder, schlimmer noch, wenn der Inhalt in ihre Haut sickerte. Diese Mittel wirkten heilend, wenn man sie in der richtigen Menge anwandte, in der falschen Dosis konnten sie jedoch großen Schaden anrichten.
Außerdem kratzte die raue Sackleinwand an ihrem Gesicht. Eine neue Angst wurde geboren: die, dass sie ersticken könnte. Also begann sie während der kurzen Abwesenheit der Seeleute ihr Gewicht zu verlagern und sich ein Luftloch zu schaffen. Im Schein einer einzelnen, an einem Haken hängenden Lampe erkannte sie allmählich, dass sie fast erdrückt wurde, weil alle Vorräte für die Reise auf einer Seite des Laderaums aufgestapelt wurden. Im vorderen Teil des Raums war ein Bereich mit einem Musselinvorhang abgetrennt, und zwischen diesem Vorhang und der Ladung lag eine größere leere Fläche.
Schließlich gelang es Feyra, den quälenden Druck auf ihren Körper zu lindern und sich umzublicken. Im Dämmerlicht begann sie die Säcke und Fässer zu untersuchen, sich nach Hinweisen auf die tödliche Fracht umzusehen, die ihr Vater mit sich führte – irgendetwas, das mit einem Pferd zu tun hatte, irgendetwas Schwarzes. Dabei fiel ihr noch etwas Seltsames auf: Bei den um sie herum gelagerten Vorräten handelte es sich nicht um die übliche Verpflegung an Bord eines Schiffes, die aus Pemmikan und Schiffszwieback bestand, sondern um guten, festen Käse, Fleisch und feines, weißes Mehl. Sie streckte die Hand Richtung achtern aus und drückte sie in die Säcke, wobei das Korn unter dem Sackleinen leise knirschte.
Während die Seemänner kamen und gingen, verhielt sie sich so still wie möglich und versuchte sogar, ganz flach zu atmen. Aber das war anscheinend nicht genug, denn einer der Verlader setzte sein Fass ab, richtete sich auf, hob eine Hand und spreizte die Finger, um seinem Kameraden Schweigen zu gebieten.
»Was ist denn?« Der zweite Mann stellte sein Fass ebenfalls ab.
»Ich habe etwas gehört«, zischte der mit den scharfen Ohren. »Dort hinter dem Stapel.« Er deutete auf die Fässer, hinter denen Feyra lag. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, und der Schweiß, der von ihren Fingerspitzen tropfte, verklumpte das Getreide.
»Das ist nur eine Ratte«, meinte der zweite. »Du bildest dir das ein.«
»Nur eine Ratte? Du solltest dir mal die Ohren waschen. Hast du den Befehl unseres Kapitäns nicht gehört? Keine Tiere an Bord – hier gibt es noch nicht einmal eine Schiffskatze. Also werden wir sie selber finden müssen.«
»Warum keine Tiere?«
»Das weiß ich doch nicht. Hat irgendetwas mit der Fracht zu tun.«
»Na schön. Suchen wir, wenn es sein muss, aber der größte Teil der Vorräte muss noch verladen werden.«
Sie kamen so gefährlich nah, dass Feyra ein beißender Ziegengestank in die Nase stieg – einer der Männer war vermutlich an Land ein Hirte. Der zweite, dessen Augen eindeutig besser waren als seine Ohren, sah direkt in ihre Richtung. »Hab sie! Komm her, du blinder Passagier!«
Feyra kroch zurück, aber der Mann hielt eine riesige, vor Angst quiekende schwarze Ratte in die Höhe. Er brach ihr das Genick, sodasss wieder Stille eintrat, schwang sich den langen Körper wie einen Sack über die Schulter und trug ihn, gefolgt von seinem Freund mit dem guten Gehör, in die Nacht hinaus.
Feyra lehnte sich erleichtert zurück. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie meinte, ihre Brust würde zerspringen.
Dann ließ sie ein dumpfer Aufprall, ein Scharren und ein Fluch zusammenzucken. Die Seeleute mussten noch ein Stück Fracht zu verladen haben. Sie sah zu, wie sie ihre Last hereinbrachten. Vier Männer trugen etwas auf den Schultern wie Sargträger.
Einen Sarkophag.
Alle Sargträger waren verschleiert. Man hätte denken können, sie würden so ihren Respekt vor dem bezeugen, was sie trugen, doch ihr Verhalten und ihre Ausdrucksweise sprachen dagegen. Die Männer gingen so grob mit dem Sarg um, stöhnten und stießen so derbe Flüche aus, dass sie unmöglich einen Leichnam transportieren konnten. Der Sarkophag selbst schien aus Silber oder Zinn zu bestehen, irgendeinem grau schimmernden Metall. Er war mit verschlungenen farbigen Mustern aus Emaille verziert und wurde unter großem Gestöhne, Geschlurfe und gekrächzten Anweisungen zu dem Musselinvorhang geschafft. Dieser wurde zurückgezogen und die Last dahinter mit einem dumpfen Aufschlag auf den Planken abgestellt.
Die Träger zogen sich eilig zurück und nahmen die Fackel mit. Plötzlich herrschte Totenstille. Feyra konnte noch immer den geschlossenen Vorhang erkennen, weiß wie der Rock eines Derwischs, der jetzt schlaff herunterhing.
Genau wie zuvor, anders als zuvor.
Denn jetzt spürte Feyra die fast greifbare Bedrohung, die von dem Metallkasten dahinter ausging. Sie war irgendwie Furcht einflößender und beunruhigender als alles andere, was sie an diesem Tag gesehen hatte. Sie betrachtete den Vorhang von der Farbe des Todes, dann die leere Fläche zwischen ihr und ihm und lauschte in die Stille. Diese wurde mit einem Mal brutal von der schrillen, unverkennbaren Stimme des Kislar Aga zerrissen, der das Schiff verließ.
Dann gab es einen Ruck, ein Ruf ertönte, ein mächtiges Tau fiel klatschend ins Wasser, und es roch nach verbranntem Hanf, als das Schiff ablegte. Feyras Magen krampfte sich zusammen und hob sich dann. Es gab kein Zurück mehr.
Sie war auf See.