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Konstantinopel
Jahr 983 nach osmanischer Zeitrechnung
Ein Monat zuvor
Feyra Adalet bint Timurhan Murad gab sich an diesem Morgen besondere Mühe mit ihrem Äußeren.
Ihr Vater hatte das Haus bereits verlassen, daher konnte sie nicht – wie sie es häufig tat – seine Kleider anlegen. In Konstantinopel war es unter den ärmeren Familien üblich, dass Frauen und Männer das Gleiche trugen; Männer- und Frauenkleider waren einander ohnehin so ähnlich, und oft reichte das Geld nur für eine Garnitur guter Kleider oder ein gutes Paar Schuhe. Feyra und ihr Vater waren dank Timurhan bin Yunus Murads Status als hochrangiger Schiffskapitän recht wohlhabend, aber Feyra hielt trotzdem an dieser Tradition fest: Sie half ihr, sich dahinter zu verstecken.
Heute musste ihr Vater eine wichtige Verabredung haben, und eine frühe noch dazu, denn als Feyra die geschnitzten Gitterläden ihres Fensters aufstieß, sah sie, dass die Sonne noch kaum über der Stadt aufgegangen war. Die Kuppeln und Minarette, die sie so liebte, bildeten immer noch bloße Silhouetten; dunkle Umrisse, die sich von dem korallenfarbenen Himmel abhoben. Feyra sog die salzige Luft tief ein.
Den Geruch Konstantinopels.
Sie blickte auf das Meer hinaus, eine silbrige Linie im Licht der Morgendämmerung, und fragte sich, was wohl dahinter liegen mochte. Einen Moment lang stieg Sehnsucht nach einem anderen Land in ihr auf, nach jenen Orten, die sie nur aus den Geschichten eines zur See fahrenden Vaters kannte.
Aber Feyras Tagträumerei hatte sie Zeit gekostet. Sie wandte sich von der Aussicht ab und blickte stattdessen in das in Emaille gefasste, auf Hochglanz polierte und nur von ein paar Dellen im Metall verunzierte Rechteck aus Silber, das an der Wand hing. Ihr Vater hatte es aus irgendeinem östlichen Land jenseits irgendeines östlichen Meeres mitgebracht, und es hatte in ihrem Raum gehangen, seit sie ein Baby war. Als Kind war der Spiegel eine Kuriosität für sie gewesen; er hatte ihr gezeigt, welche Farbe ihre Augen hatten, wie ihr Gesicht aussah, wenn sie Grimassen schnitt, und wie weit ihre Zunge reichte, wenn sie sie herausstreckte. Nun, wo Feyra zur Frau herangereift war, war der Spiegel ihr bester Freund.
Sie musterte ihr Spiegelbild eindringlich, versuchte zu sehen, was die Männer sahen. Als sie zuerst bemerkt hatte, dass Männer sie auf der Straße anstarrten, hatte sie begonnen, ihr Haar zu bedecken. Dann starrten sie ihren Mund an, also gewöhnte sie sich an, den yashmak, den Halbgesichtsschleier, zu tragen. Sie hatte sogar einen mit Ziermünzen am Saum gewählt, damit das Gold die Augen der Männer von den ihren ablenkte. Doch sie stierten sie immer noch an, also ging sie zu dem ormisi über, einem dünnen, eine Handspanne breiten Schleier, der über den Augen getragen wurde. Als auch das nichts fruchtete, schloss sie daraus, dass ihr Körper das Interesse der Männer wecken musste. Sie fing an, ihre knospenden Brüste so fest zu bandagieren, dass es schmerzte, und immer noch wurde sie angestarrt. Warum?
Feyra hatte genug Sonette und Oden liebestrunkener Poeten gelesen, um zu wissen, dass sie nicht den Idealen der osmanischen Dichter entsprach. Sie glich auch nicht den Mädchen, um die es in den zotigen Liedern ging, die die Seemannsfreunde ihres Vaters grölten. Sie hörte sie manchmal, wenn sie im Bett lag und die Männer unten beim Essen saßen und zu viel getrunken hatten.
Feyra hielt ihre bernsteinfarbenen Augen, die groß, aber leicht schräg stehend wie die einer Katze waren, für nicht rund und dunkel genug, um in Liedern gepriesen zu werden. Ihre kleine Stupsnase konnte gleichfalls keinen Anspruch auf Schönheit erheben. Ihre kaffeebraune Haut war nicht rauchig genug, um Männer zu Gedichten zu inspirieren; ihr Haar, das ihr in dichten Locken um die Schultern fiel, nicht seidig und glatt genug, und auch die Farbe stimmte nicht: Es wies alle Schattierungen von Dunkelbraun auf, aber nicht das tiefe Schwarz von Rabenflügeln. Und ihr breiter, roter Mund, dessen Oberlippe seltsamerweise größer war als die Unterlippe, war so großzügig geschnitten, dass ihn auch der romantischste Dichter nicht guten Gewissens mit einer Rosenknospe vergleichen konnte.
Ihrer Ansicht nach waren ihre Züge – sowohl einzeln als auch als Ganzes betrachtet – unauffällig, wenn nicht gar eigenartig. Aber sie schien irgendeine geheimnisvolle Macht auszustrahlen, die sie nicht begriff und die ihr ganz und gar nicht gelegen kam. Selbst ihre Verkleidung erzielte nicht immer die gewünschte Wirkung. Bedeckte sie ihre Augen, stierten die Männer auf ihren Mund. Bedeckte sie ihren Mund, starrten sie ihre Augen an. Bedeckte sie ihr Haar, musterten sie ihre Figur. Trotzdem durfte sie in ihren Bemühungen nicht nachlassen, denn die Unannehmlichkeiten, die ihre tägliche Maskerade mit sich brachte, war nichts im Vergleich zu den Folgen, mit denen sie rechnen musste, wenn sie sich nicht so sorgsam verhüllte.
Die Feyra vor dem Spiegel hob das Kinn leicht an, und das Spiegelbild ermutigte sie. Heute musste sie Frauenkleider tragen. Nun gut, sie würde das Beste daraus machen. Sie begann mit ihrem Ritual.
Nur mit ihrer weiten Pluderhose aus durchsichtiger Seide angetan, griff Feyra nach einer langen cremefarbenen Bandage, klemmte ein Ende in ihre Achselhöhle und wickelte den Stoff fest um ihren Oberkörper. Als ihre Brüste schmerzten und ihr das Atmen Mühe bereitete, empfand sie ein grimmiges Glücksgefühl.
Jetzt war es Zeit für das Gewand. Feyras Vater hatte ihr Roben aus gold- und silberfarbenen Satin sowie Ballen von Samit und leichter Damaszener Seide aus allen vier Winkeln der Welt mitgebracht, doch sie lagen unberührt in einer Truhe unter dem Fenster. Stattdessen hatte sie auf dem Bedestan-Basar ein schlichtes sackartiges Gewand, ein barami, erstanden. Das Kleid fiel ihr ohne Falten bis zu den Füßen und verdeckte ihre Gestalt. Darüber kam das ferace, das Oberkleid, dessen Mieder bis zur Taille geknöpft und dann offen gelassen wurde.
Dann kämmte und flocht sie ihr Haar, wand es wie eine Krone um ihren Kopf und kämpfte mit den Locken, die hartnäckig dem Schleier entschlüpften, egal wie sehr sie sich bemühte, sie zu bändigen. Sie zog einen dünnen Schleier über ihr Haar und befestigte ihn mit einem um die Stirn herum verlaufenden geflochtenen Band. Dann befeuchtete sie die Löckchen, die um ihr Gesicht tanzten, mit Rosenwasser und strich sie energisch zurück, bis keine einzige Strähne mehr zu sehen war.
Über all das stülpte sie den hotoz, eine viereckige Kappe, die unter dem Kinn geknöpft wurde, und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit einem viereckigen yemine-Schleier. Dann schlang sie sich eine lange Bahn schlichten Tülls mehrmals um den Hals und blickte erneut in den Spiegel. So in Stoffhüllen eingewickelt, war sie nicht zu erkennen. Ihre Kleider waren in Sand- und Zimttönen gehalten, um sie mit der Stadt verschmelzen zu lassen und ihr Schutz zu bieten. Den einzigen Farbfleck bildeten die gelben Pantoffeln ihres Glaubens – Lederpantoffeln mit hochgebogenen Kappen, die über dem Spann befestigt wurden und praktisch, wasserfest und unempfindlich gegen die anderen, weitaus schädlicheren Flüssigkeiten waren, mit denen sie bei der Ausübung ihres Berufs in Berührung kam.
Als sie endlich fertig angekleidet war, verzichtete Feyra darauf, Schmuck anzulegen. Zwar besaß sie Gold genug – ihr nachsichtiger Vater hatte sie mit Tand überhäuft –, aber Arm- und Fußreifen hätten Aufmerksamkeit erregt und, schlimmer noch, sie bei ihrer Arbeit behindert.
Sie vervollständigte ihre Aufmachung durch ein letztes Kleidungsstück, das allerdings keinen modischen Putz, sondern eine Notwendigkeit darstellte: einen hässlichen, sperrigen Gürtel, den sie selbst angefertigt hatte. Er enthielt eine Reihe kleiner Glasfläschchen und Phiolen, die jeweils in einer Lederkapsel steckten und an einem breiten Lederriemen mit einer großen Messingschnalle hingen. Sie schnallte den Gürtel unter ihr ferace, sodass er komplett verborgen war, sie aber zugleich um die Taille herum plump wirken ließ und ihr die Silhouette einer doppelt so alten Frau verlieh.
Als sie fertig war, war die Sonne vollständig aufgegangen, und der Himmel schimmerte so blau wie ein Vogelei. Sie gestattete sich einen weiteren Blick auf die Stadt, die sie liebte und von der sich ihr jetzt im Tageslicht jede Einzelheit darbot. Die wundervolle Kurve der glitzernden Bucht; die Häuser und die Tempel, die sich wie ein juwelenbesetztes Halsband an der geschwungenen Küstenlinie entlangzogen. Darüber kauerte wie ein Wächter des Bosporus die große Moschee Hagia Sophia, von deren sonnenbeschienener goldener Kuppel sich die Falken des Sultans von der Thermik hoch in die Luft tragen ließen. Feyra vergaß einen Moment ihr Fernweh, sie wollte nicht mehr wissen, was hinter diesem Meer lag. Stattdessen schwor sie sich, diese Stadt nie zu verlassen.
Der klagende Gesang des Muezzins, der zur sabah, dem Sonnenaufgangsgebet rief, wehte von den Türmen der Sophia zu ihr herüber. Feyra drehte sich um und lief eilig die Stufen hinunter.
Sie war sehr spät dran.