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Von diesem Tag an waren Annibale und Feyra Freunde. Wenn sie abends ein letztes Mal nach den Patienten gesehen hatten, reinigten sie sich, verließen das Tezon und gingen zu Annibales Haus zurück.

Feyra fiel manches an ihm auf – die Art, wie er die Stimme hob, wenn er aufgeregt war, oder wie seine Nasenflügel leicht bebten, wenn er sprach. Sie bemerkte auch, dass er etwas an einer Kette um den Hals trug, so wie sie den Ring ihrer Mutter, und sie fragte sich, ob er auch ein Andenken an seine Mutter in Ehren hielt. Morgens erschien Feyra mit verquollenen Augen im Tezon und gähnte hinter ihrem Schleier, weil sie jeden Abend später und später in ihr eigenes Haus zurückkam. Manchmal überquerte sie sogar erst im Morgengrauen die Rasenfläche, wobei sie von einem einzigen Augenpaar beobachtet wurde: den alten Augen der Badessa, die die Kirche für die Matutin öffnete.

Es kam Annibale nicht in den Sinn, dass ihre Treffen Feyra kompromittierten. Für ihn stellten diese Abende ein berufliches Arrangement dar. Daher fertigte er die Badessa barsch ab, als sie ihn darauf hinwies, dass es unschicklich war, so viel Zeit alleine mit Feyra zu verbringen. »Wir arbeiten abends. Wir sprechen über medizinische Angelegenheiten. Wir bereiten unsere Tränke und Salben zu. Wann sollen wir diese Dinge denn sonst tun – tagsüber? Es ist genau so, als wenn sie ein Mann wäre.« Aber er glaubte dies ebenso wenig wie die Badessa. Die Wahrheit lautete, dass die Abende mit Feyra der beste Teil seines Tages waren.

Feyra kochte ein einfaches Abendessen. Die Zutaten bestanden nur aus dem, was in Treporti gekauft werden konnte oder auf der Insel wuchs, aber die Art der Zubereitung und die Gewürze, die sie verwendete, waren neu für Annibale. Danach schenkte er sich ein Glas Wein ein, und sie saßen am Feuer. In stummer Übereinkunft trug keiner von ihnen seine Maske. Feyra legte ihren Schleier ab, so wie sie es im Haus ihres Vaters getan hatte, und Annibale hängte seinen Schnabel neben die Tür. Dann diskutierten sie über medizinische Fragen oder über Kräuter. Feyra lehrte Annibale, wie man die sirupartigen Sorbets und süßen Getränke mit Pfefferminze oder die ma’cun genannte teigige Paste zubereitete. Manchmal stellten sie auf dem großen Fleischerblock, den Annibale eigens zu diesem Zweck erstanden hatte, auch Salben her.

Und sie studierten zusammen medizinische Abhandlungen, wobei Annibale Feyra half, wenn sie über das Lateinische stolperte. Sie registrierte interessiert, dass die unglaublich detailgetreuen anatomischen Zeichnungen in einem Buch, das Annibale ihr zeigte, von demselben Leonardo aus Vinci stammten, der auch den vitruvianischen Mann gezeichnet hatte. Im Gegenzug erzählte sie ihm von den Werken des großen osmanischen Arztes Serafeddin Sabuncuoglu und den aqrabadhin-Lehrbüchern in der Bibliothek des Topkapi. Als sie das kostbarste und am sorgfältigsten gehütete Manuskript im Sultanspalast erwähnte – Al-manhaj al-sawi, Jalal al-Din al-Suyutis meisterhafte Umsetzung der in den Worten des Propheten ausgedrückten medizinischen Details –, stellte sie erfreut fest, dass ihm dieses Buch nicht unbekannt war. Wie es aussah, befasste man sich in Padua auch mit der Medizin aus fremden Ländern.

Feyra berichtete ihm von den sechs nicht natürlichen Bestandteilen, die im menschlichen Leben das Mizan, das Gleichgewicht, ausmachten. »Licht und Luft«, sagte sie, die Grundpfeiler der Gesundheit an den Fingern abzählend, »Essen und Trinken, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachzustand, Exkretion und Sekretion, wozu auch«, sie hüstelte leicht, »Bäder und Geschlechtsverkehr gehören, und schließlich die Veranlagung und der Zustand der Seele.«

Annibale antwortete mit der Ausgewogenheit der vier Körpersäfte; ein Thema, bei dem sie zu einer gewissen Übereinstimmung gelangten – schwarze Galle, rotes Blut, helle Galle und fahler Schleim, die für das melancholische, das sanguinische, das cholerische, und das phlegmatische Temperament standen. Einen Moment lang meinte sie, eine Verbindung von enormer Bedeutung zwischen den Körperflüssigkeiten und den vier Pferden zu erkennen, die ihre Mutter ihr beschrieben hatte. Sie waren gleichfalls schwarz, rot, weiß und fahl. Sie fragte Annibale, ob er je von vier Pferden in diesen Farben gehört oder in einem seiner vielen Bücher davon gelesen hatte, doch er zuckte nur die Achseln. »Als Kind in der Kirche vielleicht. Aber seither habe ich mit der Bibel nicht mehr viel zu schaffen. Ich erinnere mich nur, dass es hieß, sie würden den Tod bringen.« Das Gespräch hinterließ bei Feyra ein Gefühl des Unbehagens. Wie um das Böse fernzuhalten, berührte sie den Ring in ihrem Mieder.

Als sie vertrauter miteinander wurden, schnitten sie auch andere Themen an. Feyra beging ihrer Mutter gegenüber keinen Vertrauensbruch, aber sie erzählte Annibale von ihren Eltern, und allmählich begann er auch über die Mutter zu sprechen, die ihn im Stich gelassen hatte. Diese Frau hatte ihn offenbar so verletzt, dass seine äußere Hülle zwar gesund und ansprechend, seine Seele jedoch kränker war als jeder Patient im Tezon. Feyra fand den Grund dafür rasch heraus.

»Sie war eine Kurtisane?«

»Nein«, wehrte er heftig ab. »Anfangs nicht. Mein Vater war ein Edelmann aus Venedig, und als er starb, ließ sie mich – einen kleinen Jungen – in der Obhut meiner Tanten zurück. Während ich zwischen fünf und zwanzig Jahre alt war, sah ich sie nur sporadisch. In all den Jahren tauchte sie nur für einen Tag oder zwei auf. Dann sah sie sauber und ordentlich aus, war nüchtern. An ihrem Benehmen gab es nichts auszusetzen, sie legte untadelige Manieren an den Tag und erdrückte mich fast mit Liebe. Und am nächsten Tag, wenn sie einen neuen Gönner gefunden oder sämtlichen Wein im Haus ausgetrunken hatte, machte sie sich wieder davon. Häufig wussten wir nur, dass sie verschwunden war, weil eine meiner Tanten ein paar Münzen, eine juwelenbesetzte Brosche oder einen Perlenkamm vermisste. Dann seufzte sie und sagte: ›Columbina ist wieder fort‹, und ich suchte das ganze Haus nach ihr ab und stellte unweigerlich fest, dass sie ohne ein Wort oder eine Nachricht für mich gegangen war.« Annibale schwieg einen Moment. Der Feuerschein flackerte über sein ernstes Gesicht.

»Als ich ein kleiner Junge war, habe ich tagelang geweint«, fuhr er fort. »Ich konnte nicht begreifen, wie jemand, der mich mit Küssen und Liebe überschüttet hatte, sich einfach so aus dem Staub machen konnte. Ich roch dann immer ihr Parfüm, es hing noch Tage nach ihrem Verschwinden im Haus.« Er lachte bitter. »Es blieb länger dort als sie.«

»Hast du sie vermisst?«, bohrte Feyra sanft nach.

»Als Junge schon. Als ich erwachsen wurde, kümmerte es mich nicht mehr.«

Feyra erwiderte nichts darauf, sondern fragte sich, ob das wirklich stimmte. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Während meines ersten Jahrs in Padua. Sie kam in meine Kammer und erzählte mir, wie stolz sie auf mich wäre, drückte mich an ihre Brust und bezauberte alle meine Bekannten. Sie entschuldigte sich für ihre lange Abwesenheit und versprach, dass wir noch ein Mal ganz von vorne anfangen würden, dass sich alles ändern und sie eine vorbildliche Mutter sein würde.«

»Und was geschah?«

»Am nächsten Tag war sie verschwunden. Zusammen mit meinen silbernen Skalpellen.«

Feyras Mutter war zur Königin und Herrscherin aufgestiegen, während Annibales Mutter wieder in der Gosse gelandet war, aber sie wusste, dass der Unterschied zwischen der Konkubine, die ihre Mutter gewesen war, und der Kurtisane, die seine war, gar nicht so viel ausmachte. »Meine Mutter war auch nicht besser«, gestand sie ihm und auch sich selbst ein.

Er stieß einen zischenden Seufzer aus, der mit dem Prasseln des Feuers wetteiferte. »Kinder von Dirnen, in Sünde geboren«, erwiderte er heftig.

Die barschen Worte schockierten Feyra, aber sie fand, dass sie es ihrer Mutter und ihrem Vater schuldig war, ihre Beziehung zu rechtfertigen.

»Vielleicht ist es keine so große Sünde, wenn Liebe im Spiel ist.« Sie wählte ihre Worte sehr sorgfältig und blickte dabei auf ihre Hände im Schoß hinab, daher sah sie nicht, dass in seinen Augen ein kleiner Funke aufglomm.

Was sie gesagt hatte, gab Annibale neue Hoffnung.

Natürlich stritten sie auch miteinander und vertraten oft völlig gegensätzliche Meinungen, was die medizinische Praxis anbelangte. Diese Auseinandersetzungen genossen sie beide ebenso sehr – wenn nicht noch mehr – als die Punkte, in denen sie übereinstimmten. Aber diese Diskussionen glitten nie ins Persönliche ab und waren schnell vergessen.

Einer ihrer heftigsten Streitpunkte war die osmanische Praxis der Variolation. Feyra wies darauf hin, dass die Zufuhr einer kleinen Menge infizierten Blutes oder verseuchten Gewebes bei einem gesunden Patienten fast immer die teilweise oder völlige Immunität gegen diese Krankheit zur Folge hatte, vor allem bei den Pocken. Sie beschrieb, wie Haji Musa einmal vier Adern an der Stirn und der Brust eines kleinen Jungen geöffnet und eine kleine Dosis Schleim von einem Pockenpatienten in die Wunden gegeben hatte. Der Junge war zu einem gesunden Mann herangewachsen, obwohl sich alle anderen Mitglieder seiner Familie die Krankheit zugezogen hatten.

Annibale hielt dagegen, dass die katholische Kirche diese Praxis aus gutem Grund verboten hatte: weil ebenso viele Menschen daran starben, wie durch sie gerettet wurden. Er zwang Feyra, zuzugeben, dass in manchen Fällen die geimpften Patienten an genau der Krankheit starben, die die Ärzte verhindern wollten. Sie kehrten immer wieder zu dem Thema zurück und gelangten nie zu einer Einigung. Die Auseinandersetzungen endeten stets auf dieselbe Weise. »Mohammed sagt, Gott schafft in dieser Welt keine Krankheit, wenn er nicht auch ein Heilmittel dafür bereitstellt«, gab Feyra zu bedenken. »Könnte dieses Heilmittel nicht in der Krankheit zu finden sein?«

Annibale pflegte dann den Kopf zu schütteln. »Lass mich zur Antwort auf Mohammed Maimonides zitieren, der bemerkt hat, der perfekte Arzt wäre der, der es für besser erachtet, Gesunde in Ruhe zu lassen, als ein Mittel zu verschreiben, das schlimmer ist als die Krankheit.«

Die zweite erbitterte Diskussion kreiste um die Frage, ob Patienten für Arzneien zahlen sollten oder nicht. Annibale verabscheute diese Praxis und berief sich auf Valnetti und die anderen Wucherer, die vom Elend der Menschen profitierten. Er führte den Ärztekodex an, der besagte, dass Ärzte für ihr Geld arbeiten und ihre Kosten decken, sich aber nicht unmäßig am Verkauf ihrer Mittel bereichern sollten.

Feyra dachte pragmatischer. »Aber was, wenn ein Arzt sich durch den Verkauf seiner Arzneien das nötige Geld verschaffen kann, um seine Patienten besser zu versorgen?«

»Ich finanziere dieses Krankenhaus«, versetzte Annibale scharf. »Ich verfüge über ausreichende Mittel und brauche nicht noch mehr Geld.«

Was nicht ganz der Wahrheit entsprach.

Als das Krankenhaus ein Jahr lang bestand, war der Cason-Schatz, den er schon lange aus der Erde bei dem Brunnen ausgegraben und unter den Dielenbrettern unter seinem Bett versteckt hatte, beängstigend schnell dahingeschmolzen. Nach seinem letzten Gespräch mit Feyra stieg Annibale die Stufen hoch und hob das Brett an.

Er stellte die Schatulle auf seine Knie und schob den kleinen Schlüssel von der Kette an seinem Hals in das Schloss. Dann ließ er das restliche Gold durch die Hände gleiten, spürte die kalten Metallscheiben zwischen den Fingern. Jetzt bedeckte nur noch eine dünne Goldschicht den Boden des Kastens. Er schätzte, dass die Münzen bis zum Michaelstag reichen würden, nicht länger. Er klappte den Deckel zu und begrub die Schatulle zusammen mit seinen Sorgen wieder unter den Dielenbrettern.

Feyra veränderte sich.

Annibale war der erste Mann, den sie je getroffen hatte, den sie nicht auf Abstand halten wollte. Wenn sie mit ihm zusammen war, empfand sie die Stoffschichten, unter denen sie wie das empfindliche weiße Herz einer Artischocke lebte, nur noch als störend. Nachts träumte sie davon, ihre Kleider für ihn abzulegen. Manchmal war er in ihren Gedanken bei ihr, wenn sie sich entkleidete, griff nach ihren Schals und Schleiern, wirbelte sie herum wie ein Derwisch und wickelte sie aus dem dünnen Stoff, bis sie benommen und völlig nackt vor ihm stand.

Jedes Mal erwachte sie mit brennenden Wangen und kniete sofort nieder, um zu beten, aber kein Gebet der Welt konnte sie von ihrem Verlangen befreien. Zum ersten Mal verstand sie den Impuls, der ihre Mutter bewogen hatte, mit ihrem Vater in die Nacht hinauszureiten. Aber sie war keine venezianische Prinzessin, sie konnte nicht einen ungläubigen Schiffskapitän mit einem Wink ihres weißen Handschuhs quer durch einen Ballsaal zu sich locken. Sie musste warten, bis er ihr ein Zeichen gab.

Und eines Abends tat er es.

Sie saßen wie immer zu beiden Seiten des Feuers. Feyra betrachtete einen Holzschnitt von Andreas Vesalius und versuchte aus der lateinischen Schrift schlau zu werden, als Annibale das Wort ergriff. Er schlug einen bedächtigen Tonfall an.

»Das Trianni-Mädchen, die Mutter des kleinen Annibale … sagtest du nicht, sie wäre wieder schwanger?«

Feyra ließ den Holzschnitt sinken. »Ja. Das Kind kommt im Frühjahr.«

»Sie sollten in ein eigenes Haus ziehen. Inzwischen wohnen zu viele Menschen in dieser Hütte.«

Sie blieb stumm.

»Das ist gesundheitsschädlich, würde dein Freund Palladio sagen.«

Feyra wartete.

Er beugte sich über das Feuer, war ihr plötzlich sehr nah. »Dein Haus«, sagte er. »Vielleicht würdest du es gar nicht so ungern verlassen?«

»Es ist … sehr kalt dort«, murmelte sie.

»Das Dach ist undicht«, fügte er flüsternd hinzu.

»Es regnet Tag und Nacht hindurch«, flüsterte sie zurück, dabei empfand sie Gewissensbisse gegenüber dem armen Salve, der das Dach komplett abgedichtet hatte.

»Und dann die Kirchenglocken.«

»Sie wecken mich nachts jede Stunde.« Sie begann zu lächeln.

»Du solltest hier einziehen.«

Sie schwieg und wagte nicht zu atmen. Sie wollte ganz sicher sein. »Als deine Mätresse?«, wisperte sie.

Er störte sich nicht an ihrer Unverblümtheit. »Ja. Wirst du kommen?«

»Ja.«